Hannah Arendt und das 20. Jahrhundert Hannah Arendt und das 20. Jahrhundert - eBook-Ausgabe
„Ein wunderbare(r) Begleitband zur Ausstellung mit Statements von Theatermacher Milo Rau, der Philosophin Susan Neiman und der Verfassungsrichterin Susanne Baer“ - Spiegel Online
Hannah Arendt und das 20. Jahrhundert — Inhalt
Das 20. Jahrhundert sei ohne Hannah Arendt gar nicht zu verstehen, schrieb der Schriftsteller Amos Elon. Arendt prägte maßgeblich zwei für die Beschreibung des 20. Jahrhunderts zentrale Begriffe: Totalitarismus und Banalität des Bösen. Das liegt auch daran, dass Arendts Urteile selten unwidersprochen blieben. Der Band, der die gleichnamige Ausstellung des Deutschen Historischen Museums begleitet, folgt ihrem Blick auf das Zeitalter totaler Herrschaft, Antisemitismus, die Lage von Flüchtlingen, die Erblasten der Nachkriegszeit, den Eichmann-Prozess, das politische System und die Rassentrennung in den USA, Zionismus, Feminismus und Studentenbewegung.
Mit Beiträgen von Stefan Auer, Felix Axster, Susanne Baer, Roger Berkowitz, Micha Brumlik, Claudia Christophersen, Astrid Deuber-Mankowsky, Wolfram Eilenberger, Norbert Frei, Antonia Grunenberg, Barbara Hahn, Marie Luise Knott, Jerome Kohn, Marcus Llanque, Ursula Ludz, Thomas Meyer, Susan Neiman, Ingeborg Nordmann, Anna Pollmann, Milo Rau, Werner Renz, Antje Schrupp, Chana Schütz, Liliane Weissberg.
Leseprobe zu „Hannah Arendt und das 20. Jahrhundert“
Einleitung
Das 20. Jahrhundert sei ohne Hannah Arendt gar nicht zu verstehen, meinte der Schriftsteller Amos Elon. Arendt prägte jedenfalls maßgeblich zwei Begriffe: „totale Herrschaft“ und „Banalität des Bösen“. Insbesondere Letzterer hat zu heftigen internationalen Kontroversen geführt. Arendts Urteile sind überhaupt selten unwidersprochen geblieben. Das zeigt, wie eigen jeweils ihre Form des Urteilens war. Und das hat uns dazu motiviert, sie ins Zentrum einer Ausstellung über die politische Geschichte des 20. Jahrhunderts zu stellen. Der vorliegende [...]
Einleitung
Das 20. Jahrhundert sei ohne Hannah Arendt gar nicht zu verstehen, meinte der Schriftsteller Amos Elon. Arendt prägte jedenfalls maßgeblich zwei Begriffe: „totale Herrschaft“ und „Banalität des Bösen“. Insbesondere Letzterer hat zu heftigen internationalen Kontroversen geführt. Arendts Urteile sind überhaupt selten unwidersprochen geblieben. Das zeigt, wie eigen jeweils ihre Form des Urteilens war. Und das hat uns dazu motiviert, sie ins Zentrum einer Ausstellung über die politische Geschichte des 20. Jahrhunderts zu stellen. Der vorliegende Essayband begleitet diese Ausstellung des Deutschen Historischen Museums, Berlin.
Eine Beschäftigung mit Hannah Arendt ist immer auch eine mit politischer und historischer Urteilskraft. Der Begriff stammt von Kant. Heute verbindet er sich mit der wichtigsten politischen Denkerin des 20. Jahrhunderts. Aber anders als bei Kant ist Urteilskraft für Arendt kein ästhetisches, sondern ein politisches Vermögen. Arendt ging es um nicht weniger als um die Bedingungen des politischen Handelns und Urteilens im säkularen Zeitalter, das über keinen absoluten Wahrheitsbegriff als Richtschnur des Handelns mehr verfüge. Deshalb hatte die Frage nach dem politischen und historischen Urteilsvermögen für sie einen so hohen Stellenwert. In diesem Sinn sprach Arendt von einem „Denken ohne Geländer“, auf das wir in der Beurteilung historischer Ereignisse angewiesen seien. Ganz prinzipiell steht damit auch die Ausbildung von Urteilskraft im Fokus historischer Museen.
Die Herausforderung des „Denkens ohne Geländer“ stellte sich Hannah Arendt nicht zuletzt persönlich. Seit ihrer Flucht aus Deutschland äußerte sie sich immer wieder als öffentliche Intellektuelle zu aktuellen Ereignissen und löste oft heftige Kontroversen aus. Ihre scharfen Urteile – etwa über totale Herrschaft, Antisemitismus, die Lage von Flüchtlingen, die Erblasten der Nachkriegszeit, die Atombombe, den Eichmann-Prozess, das politische System und die Rassentrennung in den USA, Zionismus, Feminismus und Studentenbewegung – sorgen weiter für Aufsehen. Die Ausstellung wie das Buch folgen Arendts Blick auf das Zeitalter und stellen Werk und Leben vor, das selbst die Geschichte des 20. Jahrhunderts spiegelt. Im Zentrum steht nicht die Philosophin, sondern Arendt als Intellektuelle, die das Wagnis der Öffentlichkeit nicht scheute.
Der Band versammelt 19 Essays, die das 20. Jahrhundert nach zeitgeschichtlichen Schwerpunkten ordnen, welche Arendts Urteile herausgefordert haben. Überdies erhalten einige dieser Schwerpunktthemen noch einmal eine gedankliche Fokussierung durch eine kleine Sammlung genereller Statements über das Urteilen.
Jüdisches Selbstverständnis
Im Beitrag von Micha Brumlik geht es um Arendts Verhältnis zum Zionismus. Hannah Arendts Ausstieg aus der akademischen Philosophie und ihre Wende zur Politik wurde durch den wachsenden Antisemitismus Ende der 1920er Jahre ausgelöst. Sie begann sich für die säkulare Geschichte des Judentums zu interessieren. Damit einher ging auch ihre Beschäftigung mit dem Zionismus. Sie habe, so Brumlik, am Zionismus gewürdigt, dass er die Skepsis an der Assimilation geweckt habe. Als Legitimation für ein säkulares Nationaljudentum aber habe sie ihn heftig kritisiert.
Liliane Weissberg findet die Skepsis an der Assimilation auch in Arendts Biografie über Rahel Varnhagen bestätigt. Weissberg thematisiert außerdem die durch Flucht und Exil verzögerte Publikation von Arendts Rahel-Buch und zeigt, wie noch die erste deutsche Veröffentlichung im Jahr 1959 unter den verlängerten Kontinuitäten des Nationalsozialismus stand.
1943 veröffentlichte Arendt in einer amerikanisch-jüdischen Zeitschrift den Artikel „Wir Flüchtlinge“. Er beschreibt, neben der Dankbarkeit gegenüber dem Exilland, vor allem die Scham, die es bedeutete, Flüchtling zu sein. Der Verlust eigener finanzieller Mittel, des Berufes und der sozialen Anerkennung wurden als tiefe Demütigung erfahren. Arendts Darstellung der Lage hat nicht an Aktualität verloren. Im Essay von Thomas Meyer wird aber auch deutlich, wie Hannah Arendt aufgrund ihrer eigenen Erfahrung als Staatenlose die Idee vom „Recht, Rechte zu haben“ entwickelte und damit einen Markstein im Menschenrechtsdiskurs setzte.
Chana Schütz dokumentiert Arendts Arbeit für die Jewish Cultural Reconstruction (JCR) – dabei geht es um Raub und Restitution, ein mehr als aktuelles Thema. 1949 wurde Arendt in New York Geschäftsführerin der JCR, deren Aufgabe es war, von den Nazis geraubtes Kulturgut ausfindig zu machen und in die USA und Israel zu überführen.
Totale Herrschaft
1951 erschien Arendts Buch The Origins of Totalitarianism in den USA, in dem sie Ideologie und Terror als Elemente der neuen Herrschaftsform analysierte. Felix Axster stellt das Imperialismus-Kapitel in den Mittelpunkt seines Essays. Zweifelsohne, so Axster, trug Arendts Analyse erheblich zur heutigen Debatte über die Verbindungslinien zwischen Kolonialismus und totaler Herrschaft bei. Irritierend bleibe jedoch ihre enge Anlehnung an Joseph Conrads Roman Herz der Finsternis und seine Beschreibung der Kolonisierten als schattenhafte „Gespensterwelt“.
Arendts Sichtweise auf Nationalsozialismus und Stalinismus als zwei Varianten totaler Herrschaft hat ihr bei westlichen Linksintellektuellen oft das Adjektiv „konservativ“ eingetragen. So begrüßte Arendt den Aufstand in Ungarn 1956 als poststalinistische spontane Revolution im Namen der Freiheit. Stefan Auer fragt nach der Beziehung dissidenter Intellektueller in Mittel- und Osteuropa zu Arendts Totalitarismus-Theorie und lässt Arendts Urteile über die Protestbewegung in Ungarn 1956 vor den Ereignissen von 1989 Revue passieren.
Die Nachkriegszeit
Für Hannah Arendt war ein Leben in Deutschland nach dem Holocaust bald undenkbar geworden. Ihr Interesse an den politischen Entwicklungen blieb jedoch groß. Marie Luise Knott beschreibt, mit welchen zwiespältigen Gefühlen Hannah Arendt den Deutschen bei ihrem ersten Besuch 1949 begegnete und unter welchen Bedingungen ihr allein das Schreiben für eine deutsche Zeitschrift möglich schien.
Es blieb jedoch nicht bei diesem einen Besuch: Bis in die 1970er Jahre unternahm Arendt 14 weitere ausgedehnte Reisen nach Deutschland und Europa. Ingeborg Nordmann beleuchtet die Gründe und Aktivitäten. Immer wieder wurde Arendt zu Vorträgen an Universitäten, Rundfunkanstalten und Tagungen eingeladen wie dem Kongress für kulturelle Freiheit in Berlin, der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung in Darmstadt oder dem Internationalen Kulturkritikerkongress in München.
Im Beitrag von Anna Pollmann geht es um den Disput zwischen Arendt und ihrem ersten Ehemann Günther Anders über die politische Bedeutung der atomaren Bedrohung Ende der 1950er Jahre. Anna Pollmann zeigt, wie sehr die spannungsgeladene Auseinandersetzung auch den unterschiedlichen Positionierungen beider im Ost-West-Konflikt geschuldet war.
Antje Schrupp reflektiert in ihrem Statement, warum Urteilen ein persönliches Wagnis ist und warum es vom Meinen und Wissen zu unterscheiden ist.
Die Vereinigten Staaten
1951 erhielt Hannah Arendt die amerikanische Staatsbürgerschaft. Dies war alles andere als eine Formalie für sie. Arendt war eine ebenso große Bewunderin der Amerikanischen Revolution wie eine scharfe Kritikerin der amerikanischen Verhältnisse der 1950er und 1960er Jahre. Antonia Grunenberg setzt beides in eine Beziehung und zeigt, wie sehr Arendts rigorose Ablehnung der amerikanischen Massengesellschaft wie auch des Vietnamkriegs rückgebunden blieb an das republikanische Gründungsideal, in dem der Staat nicht von der Nation und die Politik nicht von der Gesellschaft dominiert ist.
Jerome Kohn berichtet in seinem Statement, wie Hannah Arendt ihren amerikanischen Studierenden Kants Kritik der Urteilskraft näherbrachte, indem sie diese mit den Vorbereitungen für eine Dinnerparty verglich.
Eine der heftigsten Diskussionen, die Arendt in den USA auslöste, betraf die Politik der Rassentrennung. Nachdem der Supreme Court über ihre Aufhebung an öffentlichen Schulen entschieden hatte, kam es 1957 an der High School von Little Rock in Arkansas zu Ausschreitungen, bei denen schwarze Schülerinnen und Schüler von Weißen am Betreten der Schule gehindert wurden. Daraufhin entsandte die Regierung die Nationalgarde. Die öffentliche Meinung sprach sich mehrheitlich für den Einsatz aus. Nicht so Hannah Arendt. Geradezu genüsslich provokant warnte sie vor staatlicher Einmischung in Schulfragen. Eine Debatte, so Roger Berkowitz, die immer noch aktuell ist.
In den Themenkreis „Hannah Arendt und die USA“ gehört auch der Beitrag von Barbara Hahn. Sie reflektiert in ihrem Essay über Arendts Schreiben in deutscher und englischer Sprache. Hahn belegt, wie wichtig für Arendt bis zuletzt die Unterscheidung von Muttersprache und Sprache des Exils blieb, weil sie die Unterscheidung zweier ganz unterschiedlicher kultureller Kontexte einschloss.
Juristische Aufarbeitung der NS-Vergangenheit
Berühmter als alle ihre anderen Bücher wurde Eichmann in Jerusalem. Ein Bericht von der Banalität des Bösen. Das liegt auch daran, dass es bis heute das umstrittenste ist. Im Frühjahr 1961 reiste Arendt im Auftrag der Zeitschrift The New Yorker zum Eichmann-Prozess nach Jerusalem. Werner Renz rekonstruiert die Kontroverse, die Arendts Bericht in Amerika, Israel und Deutschland auslöste. Neben den Hauptpunkten ihrer Kritiker, die Arendts Charakterisierung Eichmanns als banal und ihr Urteil über das Verhalten jüdischer Funktionäre infrage stellten, legt der Beitrag ein besonderes Augenmerk auf Arendts Wahrnehmung der Überlebenden und Angehörigen von Überlebenden, die im Prozess als Zeugen erstmals in der Öffentlichkeit von ihrem Leiden berichteten.
Susanne Baer erörtert dazu in ihrem Statement Arendts Umgang mit dem Urteilen als professionelle und institutionalisierte Form des Rechts.
Zur juristischen Aufarbeitung der Vergangenheit gehört auch Arendts persönlicher Wiedergutmachungsantrag von 1966, der als „Lex Arendt“ Rechtsgeschichte schrieb. Claudia Christophersen hat Arendts in der Forschung bislang wenig thematisierte Beschwerde vor dem Bundesverfassungsgericht aufgearbeitet.
Protestbewegungen
Im Juni 1968 schrieb Hannah Arendt aus New York an Karl Jaspers nach Basel: „Mir scheint, die Kinder des nächsten Jahrhunderts werden das Jahr 1968 mal so lernen wie wir das Jahr 1848.“ Norbert Frei erörtert Arendts Sympathien für die Proteste amerikanischer Studenten gegen den Vietnamkrieg sowie ihre Begeisterung für den Pariser Mai und fragt nach den Gründen ihrer erheblich kritischeren Sicht auf die deutsche Studentenbewegung.
Mit den Studentenprotesten einher ging auch eine neue feministische Bewegung. Gemeinsam mit Simone de Beauvoir und Susan Sontag zählte Arendt zu den einflussreichsten weiblichen Intellektuellen des 20. Jahrhunderts. Zum Feminismus blieb sie jedoch auf Distanz. Dass es sich dabei nicht nur um die theoretische Skepsis gegen eine Bewegung handelte, die das Private zum Politischen erklärte, erörtert Astrid Deuber-Mankowsky an einer Auseinandersetzung zwischen Hannah Arendt und Elfride Heidegger.
Milo Raus Statement empfiehlt Arendts „Denken ohne Geländer“ als Leitplanke für politischen Protest und rät, auch der nicht siegreichen Sache im eigenen Urteil treu zu bleiben.
Politisches Denken
Das letzte Schwerpunktthema des Bandes bündelt eine Reihe von Beiträgen, die noch einmal grundsätzlich nach Motiven, Inspirationen und Quellen von Arendts politischem Denken fragen. Wolfram Eilenberger erläutert, inwieweit Arendt ihre politische Theorie – gerade auch in ihrer Abgrenzung – im Dialog mit dem Denken Heideggers entwickelte.
Marcus Llanque stellt die Frage: Ist ein Politikverständnis, das einerseits von der Erfahrung totalitärer Herrschaft geprägt und andererseits vom Ideal der Antike inspiriert ist, noch relevant für das 21. Jahrhundert?
Der Essay von Ursula Ludz handelt von der Freundschaft. Für Hannah Arendt waren Freundschaften mehr als das Vergnügen der Geselligkeit. Sie bedeuteten gelebte Pluralität. Ludz stellt Freundinnen und Freunde Arendts vor und zeigt, wie sehr das Freundschaftshandeln, das sich der Welt öffnet, für Arendt dem politischen Handeln ähnelt.
Susan Neiman erinnert mit ihrem Statement an Arendts Bewunderung für Immanuel Kant, für den Urteilskraft weniger eine Sache der Theorie als der Übung war.
Abbildungen
Der Band ist reich bebildert mit Objekten der Ausstellung, die aus der Sammlung des DHM und anderen Sammlungen, etwa dem Hannah Arendt Bluecher Literary Trust, stammen. Neben zeitgeschichtlichen Dokumenten und Objekten in den Essays gibt es eigenständige Bildstrecken. Eine ist dem Fotografen Fred Stein gewidmet. Denkt man an Hannah Arendts Erscheinung, so stellen sich schnell bestimmte Fotos ein, die unser Bild von ihr geprägt haben. Eher unbekannt ist, dass es sich zumeist um sorgfältig inszenierte Aufnahmen von Fred Stein handelt, der Hannah Arendt zwischen 1944 und 1966 immer wieder zu Fotosessions traf. Eine weitere Bildstrecke zeigt Gegenstände aus ihrem Besitz, die viel über den persönlichen Stil Arendts erzählen: ein elegantes Pelzcape, die Brosche, die sie beim Fernsehinterview mit Günter Gaus trug, ihre Aktentasche, eine goldene Kette, die ihr Karl Jaspers schenkte. Vieles davon wird hier das erste Mal publiziert. Dazu gehört ebenfalls Arendts silberne Minox, besser als „Spionagekamera“ bekannt. Der Band stellt in einer weiteren Bildstrecke Arendt als Fotografin vor, die Aufnahmen von Freundinnen, Freunden und Verwandten machte.
Wir danken allen Kolleginnen und Kollegen, die Hannah Arendt und das 20. Jahrhundert mit großer Leidenschaft und Energie realisiert haben. Besonderer Dank gebührt der Projektassistentin Ulrike Kuschel und der Registrar Susanne Narock sowie Andrea von Hegel stellvertretend für die Sammlungen des Deutschen Historischen Museums. Begleitet wurde die Ausstellungsvorbereitung von einem engagierten Fachbeirat bestehend aus Dr. Nicolas Berg, Prof. Dr. Astrid Deuber-Mankowsky, Prof. Dr. Moritz Epple, Dr. Jan Gerchow, Prof. Dr. Werner Konitzer, Dr. Chana Schütz und Prof. Dr. Liliane Weissberg.
Die Gestaltung der Ausstellung lag in den Händen des Büros für museale und urbane Szenografie chezweitz. Sie haben die Gedanken und Kontroversen von und um Arendt in eine ebenso anschauliche wie anspruchsvolle Architektur übertragen, die auch den zahlreichen medialen Elementen ihren gebührenden Raum lässt. Für die Ausarbeitung des didaktischen Begleitprogramms danken wir Friedrun Portele-Anyangbe, Wiebke Hölzer und Brigitte Vogel-Janotta vom Fachbereich Bildung und Vermittlung, für das wissenschaftliche Begleitprogramm zeichnet Nike Thurn verantwortlich. Abschließend gilt unser Dank allen Leihgebern sowie den Autorinnen und Autoren, Anna Pollmann und Dorit Aurich für das Lektorat sowie Ilka Linz und Anne Stadler für die engagierte Betreuung des Bandes.
Dorlis Blume, Monika Boll und Raphael Gross
Jüdisches Selbstverständnis
Micha Brumlik
Nationaljüdische Ambivalenz
Hannah Arendt und der Zionismus
Die politische Debatte im wiedervereinigten Deutschland hat Hannah Arendt neu entdeckt und damit zur Renaissance einer Theorie geführt, die bereits Mitte des 20. Jahrhunderts in aller Munde war, eine Theorie, die in den 1970er Jahren massiv kritisiert wurde und in den frühen 1980er Jahren fast vergessen war: die Totalitarismustheorie. Arendts Hauptwerk Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft präsentierte nicht nur ihren ganz eigenen philosophischen Zugang zum Bereich der Politik, mehr noch: Es war zugleich nicht weniger als eine höchst radikale Form jüdischer Selbstvergewisserung in der Moderne. In Elemente und Ursprünge resümiert Arendt nicht nur die erste Hälfte des mörderischen 20. Jahrhunderts, mindestens so sehr lässt sich dieses Opus magnum als eines der gewichtigsten Werke des modernen Judentums lesen, und zwar in einer seiner säkularen Varianten, dem Nationaljudentum. Das heißt: Wenn das moderne (National-)Judentum es je zu einer systematischen philosophischen Begründung gebracht hat, dann liegt sie hier vor. Und das dem Umstand zum Trotz, dass Hannah Arendt unmittelbar nach dem Krieg zu den schärfsten Kritikerinnen des politischen Zionismus zählte. Dabei ist Arendts Nachdenken über das Grundproblem jüdischer Existenz in der Moderne der klassischen Antike und der deutschen Existenzphilosophie stärker verpflichtet als der jüdischen Überlieferung. Dieser Umstand ist weniger Ausdruck einer historischen Ironie als jener paradoxen Situation des sich emanzipierenden Judentums, das jüdische Existenz auf die Höhe seiner Zeit bringen wollte.
Arendt analysiert die Wurzeln des Totalitarismus, zu denen der Antisemitismus – im Unterschied zum Judenhass – wesentlich gehört, im Zusammenhang mit dem Niedergang der Nationalstaaten Mitte des 19. Jahrhunderts. Der durch die Expansion des Kapitals verursachte Übergang vom Nationalismus zum Imperialismus führe demnach in den Kolonien zu einer Form politischen Handelns, in der die zivile Kontrolle von Polizei und Bürokratie prinzipiell aufgegeben würde, während sich in den Mutterländern das bisher privatistisch verstehende Bürgertum im Sinn des Imperialismus radikalisiere. Der Antisemitismus entstehe in diesem Zusammenhang als massenhafte Reaktion auf die zunehmende Intransparenz politischen Handelns, die Undurchsichtigkeit der Beziehungen zwischen Parlament, Kapital und Regierung. Als Massenbewegung entzündete er sich an einer gesellschaftlichen Frage, die Hannah Arendt für ein objektives Problem hält: der „Judenfrage“. Diese besteht in Arendts Deutung darin, dass „die Juden fortfuhren, einen mehr oder minder geschlossenen Körper innerhalb der Nation zu bilden“, während „das gesellschaftliche Vorurteil […] in dem Maße [wuchs], in welchem Juden aufgrund ihrer Assimiliertheit in die bürgerliche Gesellschaft einzudringen wünschten.“
Nach Arendts Überzeugung waren jüdische Familien mit ihren internationalen Verbindungen erst die Geldgeber der fürstlichen Begründer des Territorialstaats, fungierten dann als Finanziers der kolonialen Ausdehnung, um im Zeitalter des Imperialismus ihrer Rolle verlustig zu gehen. Der so entstandene Reichtum und Einfluss ohne Macht stempelte sie zu Zielscheiben des Ressentiments der Massen. Dass die Juden sich der entsprechenden Angriffe nicht angemessen erwehrten, läge an ihrer Distanz zu jeder politischen, kulturellen und auch ökonomischen Macht, was sich nach Arendts wirtschaftshistorischer Überzeugung in der Tatsache niederschlug, dass sich die Juden nur selten bereit fanden, ihr Kapital in industrielle Unternehmungen zu investieren – eine Überzeugung, die als Tatsachenbehauptung durchaus bestreitbar ist. Nicht nur die herausragende Bedeutung jüdischer Unternehmer im russischen und rumänischen Eisenbahnbau, in der polnischen Hüttenindustrie sowie in der böhmischen Waffenindustrie belasten Arendts These. Die vermeintliche Distanz der Juden zur Macht aber und die damit verbundene Unfähigkeit, den Antisemitismus zu verstehen, führten ihrer Meinung nach dazu, dass die Juden als Volk eine politische Anomalie darstellten. Diese Anomalie „lag in der Tatsache, daß hier ein Volk in eine politische Rolle gedrängt wurde, das selbst keine politische Repräsentanz hatte. […] Als Fremde und auf Grund ihrer politischen Traditionslosigkeit wußten die Juden weder etwas von dem Unterschied zwischen Volk und Regierung noch von der nationalstaatlichen Spannung zwischen Staat und Gesellschaft.“ Deshalb gehöre es zu den wesentlichen Bestandteilen jüdischer Geschichte im imperialistischen Zeitalter, „daß die Juden weder je wirklich wußten, was Macht war, auch nicht, als sie sie fast in Händen hatten, noch je wirklich Interesse an Macht hatten […]“.
Arendts Analyse des jüdischen Schicksals ging somit von zwei normativen Voraussetzungen aus: erstens, dass die Juden im ethnischen Sinne ein Volk darstellen – das ist die u. a. vom politischen Philosophen Leo Strauss ihrer notwendigen Glaubenslosigkeit wegen charakterisierte „nationaljüdische“ Position. Zweitens unterstellte Arendt, dass alleine die Konstruktion des homogenen Nationalstaats als Ausdruck des territorial und damit politisch begrenzten Willens demokratischer Rechtssetzung in der Lage ist, dem Individuum der Moderne nicht nur den Schutz des Rechts zu gewähren, sondern ihm auch die Chance zu geben, „sich in einer gemeinsam errichteten Welt sichtbar zu bewähren und so einzurichten, daß jede große Leistung und außerordentliche Handlung einer Nachwelt zuverlässig überliefert werden kann“.
Arendts Kritik am jüdischen Assimilationismus und Chauvinismus und an der Flucht des jüdischen Bildungsbürgertums ins menschheitlich Allgemeine korrespondiert in Elemente und Ursprünge mit dem Hinweis, dass erst der „westeuropäische Zionismus“ die objektive Realität der Judenfrage nicht mehr verleugnet habe und es zudem der „postassimilatorische Zionismus“ gewesen sei, der mit seinem Einfluss auf die jüdische Intelligenz die Juden Deutschlands und Österreichs vor den schlimmsten Auswüchsen des Antisemitismus der 1930er Jahre bewahrt habe.
Arendts Bezug auf den postassimilatorischen Zionismus trägt einen Namen: den ihres engen Freundes Kurt Blumenfeld. Geboren 1884 in Marggrabowa, Ostpreußen, gestorben 1963 in Jerusalem, studierte er in Berlin, Freiburg und Königsberg Jura. Seit 1904 im organisierten Zionismus aktiv, gehörte Blumenfeld zu den Gründern des „Keren Hayesod“, des zionistischen Gründungsfonds. Blumenfeld präsidierte der Zionistischen Vereinigung für Deutschland ununterbrochen seit 1924, bis er 1933 ins damalige Palästina emigrierte. In den 1940er Jahren wurde Blumenfeld Mitglied des linkszionistischen, auf einen binationalen Staat setzenden „Brit Schalom“, der von dem Soziologen und Leiter des Palästina-Amtes, Arthur Ruppin, gegründet wurde und dem es vor allem um die Frage eines gedeihlichen und friedlichen Zusammenlebens von Juden und Arabern ging. Blumenfeld freilich verließ die Gruppe, die die Staatsgründung ablehnte, reumütig noch vor dem Mai 1948.
Das in Elemente und Ursprünge von Arendt scharfsinnig entfaltete Kategorienpaar von „Paria“ und „Parvenü“, mit dem sie ihre Analyse des deutschen Judentums betrieb, stammte von Blumenfeld, der den Pariabegriff seinerseits Max Weber entlehnt hatte. Blumenfelds Einfluss brachte Hannah Arendt dazu, als erklärte Nichtzionistin 1933 illegal für die Zionistische Vereinigung für Deutschland tätig zu werden.
„Essays, von denen nicht einer langweilig ist.“
„Dass sich die Texte gelegentlich über schneiden in biografischen Momenten, dass sie sich oft ergänzen in der Beobachtung der Arendt-Gedanken, lässt den Band auch als Ganzes wunderbar funktionieren. Das wertvollste aber ist, dass an vielen Stellen offenbar wird, das die Aktualität Arendts womöglich nicht (nur) in bestimmten Sätzen und Beurteilung liegt, sondern dass es ihre Methodik ist, die im besten Sinne zeitlos bleibt - oder auch der Kompass ihres Denkens: Die Urteilskraft, die sie aus dem Ästhetischen bei Kant in das Politische übertrug. Das Urteilen ohne vorgefertigte Maßstäbe.“
„Ein hervorragender Katalog mit Aufsätzen renommierter Arendt-Forscher (…), der nicht nur für Experten eine Bereicherung darstellt, sondern auch Laien einen guten Einstieg in Leben und Werk dieses ungewöhnlichen Geistes bietet.“
„Hannah Arendt ist beides: geradezu zeitlos populär wie seit je umstritten. (…) Dem Buch gelingt es, beides abzubilden, das Einnehmende und das Strittige, die Urteile und die Fehlurteile.“
„Die Ausstellung wie auch das mit zahlreichen Bildern ausgestattete Buch präsentieren Hannah Arendt in ihrem vielfältigen Leben und bahnbrechendem Wirken auf vorzügliche Weise.“
„(Das Buch) zeigt nicht nur die Brillanz der politischen Theoretikerin, sondern auch, wo sie ihrer Zeit verhaftet war.“
„Ein vorzüglicher Begleitband“
„Eindrucksvolle Publikation“
„Während die Wahrnehmung Hannah Arendts in der breiten Öffentlichkeit noch immer stark durch die Eichmann-Kontroverse geprägt ist, eröffnet ›Hannah Arendt und das 20. Jahrhundert‹ einen sehr viel weiteren und facettenreicheren Blick auf die Philosophin. Der Band wirft vielfältige und spannende Schlaglichter auf ihr Leben und Denken und reizt auch durch das oft unbekannte Bild- und Fotomaterial.“
„Auf teilweise ganz unterschiedliche Art zeigen diese Beiträge, was Hannah Arendt mit einem ›Denken ohne Geländer‹ gemeint hat. Sie lesen sich in erster Linie als Einführungen, die dazu einladen, sich weiter und neu auf das Werk von Hannah Arendt einzulassen und mit ihr, wie es eindrucksvoll Milo Rau zeigt, durch unsere Zeit zu gehen und Dinge zu verändern, die wir verändern wollen.“
„Indem der Band in vielschichtiger Perspektive ein Bild Arendts entwirft, das sie als öffentliche Denkerin zeigt, ermutigt er auch selbst dazu, sich als Bürger in das Geschehen der Gegenwart als urteilende Wesen einzubringen.“
„Ein wunderbare(r) Begleitband zur Ausstellung mit Statements von Theatermacher Milo Rau, der Philosophin Susan Neiman und der Verfassungsrichterin Susanne Baer“
„Arendts Nachdenken ist immer auch ein Vordenken für unsere Zeit. Und manchmal ist einem beim Lesen, als würde Hannah einen ganz persönlich dazu auffordern, sich mit seinem eigenen Jahrhundert anzulegen.“
„Ein lesenswertes Katalogbuch“
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