Happenstance Teil 2 (Happenstance 2) — Inhalt
Erin Easter weiß genau, was sie will: schnell ihren Abschluss machen, und dann nichts wie weg aus dieser verdammten Kleinstadt. Irgendwo ganz von vorne anfangen. Doch sie hat nicht damit gerechnet, dass sich plötzlich Weston Gates für sie interessieren könnte, dessen verführerische grüne Augen ihr Herz schon seit Jahren höherschlagen lassen. Dann stellt ein tragischer Unfall Erins Leben völlig auf den Kopf und bringt sie und Weston näher zusammen. Aber allmählich muss Erin sich fragen, ob sie all das, wovon sie immer geträumt hat, wirklich will …
Leseprobe zu „Happenstance Teil 2 (Happenstance 2)“
Kapitel 1
Obwohl das Licht aus war und die Tür zu, zog mich irgendetwas zu Alders Zimmer. Ich wohnte inzwischen seit drei Wochen bei meinen richtigen Eltern und hatte Alders Tür nie offen gesehen. Doch jedes Mal, wenn ich daran vorbeiging, an dieser weiß gestrichenen Holztür mit dem Namen ERIN aus pastellfarbenen Holzbuchstaben, hatte ich das Bedürfnis, sie aufzumachen.
Das werde ich nicht tun, schwor ich mir.
An meinem zweiten Abend bei den Aldermans hatte Julianne sich mit mir auf mein Queen-Size-Bett gesetzt und Kataloge mit Tagesdecken, Wanddekor und [...]
Kapitel 1
Obwohl das Licht aus war und die Tür zu, zog mich irgendetwas zu Alders Zimmer. Ich wohnte inzwischen seit drei Wochen bei meinen richtigen Eltern und hatte Alders Tür nie offen gesehen. Doch jedes Mal, wenn ich daran vorbeiging, an dieser weiß gestrichenen Holztür mit dem Namen ERIN aus pastellfarbenen Holzbuchstaben, hatte ich das Bedürfnis, sie aufzumachen.
Das werde ich nicht tun, schwor ich mir.
An meinem zweiten Abend bei den Aldermans hatte Julianne sich mit mir auf mein Queen-Size-Bett gesetzt und Kataloge mit Tagesdecken, Wanddekor und Kleidung urchgeblättert. Sie bat mich, anzustreichen, was mir gefiel. Und danach musste sie alles bestellt haben, weil seither fast jeden Tag Kartons geliefert wurden.
Es klingelte an der Tür, und ich ging die Holztreppe hinunter, wobei ich versuchte, nicht zu viel Lärm zu machen. Dabei waren Sam und Julianne sowieso schon auf und in der Küche.
Nachdem ich mir den Weg zwischen lauter Kartons gebahnt hatte, öffnete ich die Tür und musste grinsen, als ich Weston sah, der sich gerade mit einer Kopfbewegung den Pony aus der Stirn schüttelte. Sein Haar war noch feucht, seine Augen wirkten ein bisschen gerötet. Am Vorabend hatten wir noch lang miteinander telefoniert.
„ Riecht, als wollten sie dich noch mal in die Küche locken “, bemerkte Weston, als er sich vorbeugte, um mir einen flüchtigen Kuss auf die Lippen zu drücken.
„ Guten Morgen “, sagte ich, als ich mich von ihm gelöst hatte.
Sein Blick fiel auf den Boden und wanderte über die Kartons in verschiedenen Größen. „Noch mehr Zeug ? “
„ Noch mehr Zeug “, bestätigte ich und betrachtete die zahlreichen Schachteln ehrfürchtig.
„ Weston ! “, rief Julianne. „ Hier gibt es einen Teller mit gebratenem Speck ! “
Er ging an mir vorbei und nahm mich bei der Hand. Zusammen durchquerten wir den hell gestrichenen Flur und bogen dann durch einen Rundbogen nach rechts.
Julianne liebte Pastellfarben und so viel Tageslicht wie möglich. Das passte zu ihr, weil sie selbst so ein sonniges Naturell hatte. Das ganze Haus war in Weiß oder Weißtönen und Hellblau gehalten. Die Vorhänge waren fast durchsichtig.
Auf dem Ofen stand ein Topf mit Gravy, sämiger weißer Soße, und wie versprochen türmte sich auf einem Teller auf der Anrichte knusprig gebratener Speck.
„ Hast du Hunger ? “, fragte Julianne fröhlich. Sie trug eine gelb-blau karierte Schürze über ihrem pinkfarbenen Angorapulli und einer Jeans. Ihr rotbraunes glänzendes Haar schwang wie immer bei jeder Bewegung mit.
Weston sah mich mit seinen großen grünen Augen an, denn die Frage war nicht an ihn gerichtet gewesen.
„ Tut mir leid. “ Ich zuckte zusammen, weil ich es hasste, sie zu enttäuschen, aber solange ich mich erinnern konnte, hatte ich nie gefrühstückt. Deshalb kam es
mir seltsam vor, morgens etwas zu essen. Gina hatte nicht mehr für mich gekocht, seit ich alt genug gewesen war, um mir selbst ein Sandwich zu machen. Schlafen und der
Schulweg waren mir wichtiger gewesen, als beispielsweise Eier zu braten, selbst wenn Gina sich mal die Mühe gemacht hätte, Speisekammer oder Kühlschrank mit Frühstückszutaten aufzufüllen, was sie höchst selten tat.
Julianne zuckte mit den Schultern und versuchte, es leicht zu nehmen. „ Nimm dir doch wenigstens einen Happen für unterwegs mit, Schätzchen. “
„ Hast du … Biscuits and Gravy gemacht ? “, fragte Weston, reckte das Kinn und schnupperte.
„ Und Würstchen “, sagte Julianne, deren Augen schon wieder leuchteten.
Weston sah erst mich an, dann auf seine Uhr. „ Wir haben noch Zeit. “
Ich ließ meinen nagelneuen grünen Rucksack auf den Boden plumpsen und zog mir einen Hocker an die Frühstückstheke, die sich an die Kochinsel anschloss. „ Ja, haben wir. “
Julianne wirbelte herum, holte zwei Biscuits vom Blech und schnitt sie auf. Mit einem kleinen Schöpfer gab sie reichlich Gravy darauf.
Weston schluckte, weil ihm schon das Wasser im Mund zusammenlief.
„ Macht deine Mom dir kein Frühstück ? “, fragte ich.
„ Manchmal “, sagte Weston. „ Aber sie ist keine so gute Köchin wie Julianne. Ich weiß gar nicht, ob es überhaupt jemand gibt, der es mit ihr aufnehmen kann. “
„ Aah “, machte Julianne. „ Mit Komplimenten erreichst du in diesem Haus alles. “
Ich rutschte unbehaglich auf meinem Hocker herum. Mir war eingefallen, dass Weston sicher nicht zum ersten Mal in Juliannes Küche saß und mit ihrer Tochter frühstückte. Aber das war damals noch eine andere Tochter gewesen.
„ Er hat recht, Honey “, sagte Sam. „ Du bist eine fantastische Köchin, und ich bin ein glücklicher Mann. “ Er nahm sich eine Handvoll Speck und küsste Julianne auf die Wange. „ Wenn es gut läuft, bin ich gegen acht zu Hause. Ich habe einen späten Fall. “
Julianne nickte und hielt ihm noch ihre andere Wange hin.
Dann kam Sam zu mir und küsste mich aufs Haar. „ Hab einen schönen Tag, Kindchen. “ Er überlegte kurz. „ Arbeitest du heute Nachmittag ? “
Ich nickte. „ Eigentlich arbeite ich jeden Tag. Von vier bis acht. “
„ Das ist ganz schön oft “, sagte Julianne nachdenklich.
Sam nickte Weston zu. „ Holst du sie ab ? “
Weston nickte.
„ Kann ich dich morgen abholen ? “ Sam schob seine Brille hoch und sah mich mit seinen wie immer leicht verquollenen Augen erwartungsvoll an.
Ich warf Weston einen Blick zu und nickte dann.
Sam zuckte mit den Schultern. „ Ich würde dich gern auf ein Eis einladen. “
Alle schauten ihn fragend an.
„ Das war nur Spaß “, meinte er lachend. „ Ich dachte, vielleicht könnten wir zusammen zu Abend essen ? “ Er sah seine Frau fragend an.
„ Klar “, meinte ich und fühlte mich ein wenig überrumpelt.
Er drückte meine Schulter, schnappte sich sein Jackett und lief über den Flur zur Hintertür, die in die Garage führte.
„ Sam ? “, rief Julianne. „ Deine Handtasche ! “ Sie zwinkerte mir zu.
Sam kam zurückgelaufen und griff nach einer braunen Ledertasche. „ Das ist keine Handtasche ! “, stieß er hervor und verschwand wieder. Sekunden später schlug die Tür hinter ihm zu.
Ein tiefes Brummen verriet, dass das Garagentor sich öffnete.
Julianne strich sich eine Strähne aus dem Gesicht. „ Ich muss mir unbedingt die Haare schneiden lassen. Das macht mich noch verrückt. “ Sie sah mich mit Neugier im Blick an. „ Hast du Lust mitzukommen ? “
Ich schaute auf meine Haare, die fast die gleiche Farbe hatten wie Juliannes Locken. Nur ohne die Highlights. Ich hatte meine geflochten, weil sie vom Duschen am Vorabend noch ein bisschen feucht waren. Meistens trug ich sie in einem Knoten oder Pferdeschwanz, damit sie mir nicht im Weg waren. Als ich noch in die Grundschule ging, hatte Gina sie mir ein paarmal geschnitten. Das einzige Mal, dass ich das selbst versucht hatte, war in der neunten Klasse gewesen. Das war so gründlich danebengegangen, dass ich mein Haar seither einfach wachsen ließ. Inzwischen reichte es mir bis zur Mitte des
Rückens.
Weston sah mich an.
„ Äh, klar “, sagte ich.
„ Wie kurz ? “, fragte Weston stirnrunzelnd.
„ So kurz, wie sie möchte “, erklärte Julianne halb im Spaß.
„ Ich frag ja nur “, sagte Weston und hob die Hände.
„ Dann rufe ich an und mache einen Termin aus. Wann passt es denn für dich ? “
Ich zuckte mit den Achseln. „ Samstagmorgen ? “
„ Ich kümmere mich drum “, sagte sie, während sie eine Pfanne abwusch.
Weston schob sich den letzten Bissen von seinem
Biscuit in den Mund. „ Danke, Julianne. Aber wir sollten jetzt auch los. “
„ Natürlich. Ich packe die Sachen für dich aus, Erin. Du kannst sie heute Abend so verräumen, wie du magst. “
„ Okay, danke “, sagte ich und setzte meinen Rucksack auf. „ Bis später. “
„ Ich … hab einen schönen Tag, Süße. “
„ Du auch “, sagte ich und folgte Weston zur Haustür.
Sein riesiger roter Chevy-Truck parkte direkt vor dem Haus. Der Lack sah frisch poliert aus, sogar die Reifen waren blitzsauber.
„ Hast du gestern den Truck geputzt ? “
„ Mir ist ein bisschen langweilig, seit du hierher umgezogen bist. Dich zu teilen, fällt schwerer, als es klingt. “
„ Was hast du in der Zeit vor mir gemacht ? “, fragte ich.
Ich zog ihn nur auf, aber Weston machte ein seltsames Gesicht. Er hatte seine Zeit mit Alder und ihren gemeinsamen Freunden verbracht. Er hatte auch nicht auf Distanz gehen müssen, um zu respektieren, dass Sam und Julianne ihre Tochter kennenlernen wollten. Jetzt, wo Alder nicht mehr da war und er nicht mehr mit denselben Freunden abhing, fühlte er sich wahrscheinlich ein bisschen verloren, wenn ich bei Sam und Julianne war.
Weston öffnete mir die Beifahrertür. „ So ziemlich das Gleiche. Mir gewünscht, Zeit mit dir zu verbringen. “
Ich war mir nicht sicher, ob das als Scherz gemeint war. Er lächelte jedenfalls nicht dabei.
Ich stieg ein, und Weston lief um den Wagen herum. Sobald er hinterm Steuer saß, streckte er eine Hand nach meiner aus. Als ich sie ergriff, zog er daran.
„ Was denn ? “, fragte ich.
„ Komm her “, sagte er und bedeutete mir, mich direkt neben ihn zu setzen.
Ich rutschte rüber und schnallte mich mit dem Beckengurt an. Er schnallte sich ebenfalls an, schaltete die Automatik auf Drive, und dann fuhr er, den Arm um meine Schultern gelegt, einhändig bis zur Schule. Wahrscheinlich war er mit Alder oft so gefahren.
In meinem Inneren zog sich alles zusammen. Solche Gedanken mussten aufhören, sonst machte ich mir selbst das Leben schwer.
Nachdem wir auf dem Schülerparkplatz geparkt hatten und zusammen ins Schulgebäude gingen, starrten uns schon weniger Leute an als in der Woche davor. Mir war es immer noch nicht angenehm, in der Schule Händchen zu halten, aber manchmal vergaß Weston es einfach.
Die erste Stunde verlief insofern ruhig, als niemand mich tyrannisierte, was der neue Normalzustand geworden war. Brady warf mir immer noch Blicke zu, aber die waren eher neugierig als gehässig.
Mrs. Merit begann die Stunde, sobald es geläutet hatte. Sie war schon mit den meisten ihrer Seiten auf dem Smartboard durch, als Sara Glenn sich zu mir herüberlehnte.
„ Was hat es mit dieser Kette auf sich ? “, fragte sie.
„ Mädchen tragen manchmal Schmuck “, sagte ich.
Sie ließ sich nicht abwimmeln. „ Die muss von Weston sein. Seit fast einem Monat trägst du die täglich. “
Ich ignorierte sie. Ihr darauf zu antworten, erschien mir unnötig.
„ Chrissy North sagt, du wärst in Alders Zimmer gezogen. Spukt es da ? “
„ Nein und nein. “
„ Brendan sagt, Weston hat gesagt, ihr hättet schon in ihrem Bett Sex gehabt. “
Ich sah sie aus schmalen Augen an. „ Weston würde so etwas niemals sagen. “
„ Dann stimmt es also ? “
„ Das ist widerwärtig. “
Sie zog die Augenbrauen hoch. „ Sex mit Weston ist widerwärtig ? “
Meine Brust drückte gegen die Tischplatte, als ich mich zu ihr hinüberbeugte. „ Wird es dir nicht irgendwann langweilig, immer nur Klatsch zu hören und zu verbreiten, Sara ? Ist das nicht ermüdend, oder brauchst du das, um dich hervorzutun ? “
„ Meine Damen ? “, sagte Mrs. Merit.
Ich lehnte mich wieder zurück und schaute in mein Buch. Dabei verschränkte ich die Hände im Schoß, damit Sara nicht sah, wie sie zitterten. Eine Welle der Enttäuschung erfasste mich, weil ich mich von ihr hatte provozieren lassen. Was war bloß mit mir los ? Über so etwas stand ich doch. Das war mir doch vorher jahrelang auch gelungen.
Mrs. Merit las noch den Arbeitsauftrag vor, und dann machte ich mich daran, die zweiundzwanzig Fragen am Ende des Kapitels zu beantworten. Sara sagte nichts mehr zu mir, und ich sorgte dafür, dass meine Sachen zehn
Sekunden vor Unterrichtsschluss gepackt waren, damit ich sofort gehen konnte.
Weston traf ich vor meinem Spind. Er merkte, dass etwas nicht stimmte. „ Hat Brady irgendwas zu dir gesagt ? “
Ich schüttelte den Kopf.
„ Brendan ? Micah ? Es war Andrew, oder ? Der kleine Scheißer … “
„ Nein. Niemand hat was gesagt “, erklärte ich, stopfte mein Biobuch in den Spind und nahm das für die nächste Stunde heraus.
Weston fasste mich sanft unterm Kinn und drehte mein Gesicht zu sich. „ Sag es mir. “
Ich schloss die Augen. „ Sie sagen schreckliche Sachen. “ Ich schüttelte den Kopf. „Schreckliche. “
„ Was denn ? “ Er ließ mein Kinn los und runzelte die Stirn.
„ Ich will das nicht wiederholen. Ich kann nicht … einfach schrecklich. “
„ Dass wir in Alders Bett Sex hatten ? “, fragte er.
Ich schaute zu ihm hoch. „ Du hast es auch gehört ? “
„ Letzte Woche. Eigentlich wundert es mich, dass es dir erst jetzt zu Ohren gekommen ist. “
„ Es tut mir so leid. Ich … “
Weston wurde rot vor Wut, aber nicht auf mich. „ Entschuldige dich nicht für die, Erin. Die können einem bloß leidtun. Das ist so eine perverse … “ Er verstummte. „ Wer auch immer sich das ausgedacht hat und krank genug ist, um es auch noch weiterzuerzählen, der hat mehr Probleme als Klatsch und Tratsch. Du kannst nichts dagegen machen, was sie denken oder sagen. “
„ Ich weiß. Es ist mir auch egal, was sie von mir denken. Aber … aber ich will nicht, dass Sam und Julianne so etwas zu Ohren kommt. “
„ Ich habe es ihnen schon gesagt. Sie wissen, dass wir nie so respektlos ihnen gegenüber wären. “
Mir blieb vor Staunen der Mund offen stehen. „ Du hast es ihnen gesagt ? Wie konntest du das bloß tun ? “
„ Wir leben in einer Kleinstadt, Erin. Mir war es lieber, sie hören es von uns, oder ? “
„ Aber sie haben es nicht von uns gehört, sondern von dir. Warum hast du mir nichts davon gesagt ? “
Je mehr ich mich aufregte, desto nervöser wurde Weston. Er schluckte und machte ein unglückliches Gesicht. „ Du hast schon genug durchgemacht. “
„ Bitte sieh mich nicht so an. “
„ Wie denn ? “
„ Mit diesem O-du-Arme-Blick. Davon kriege ich auch so schon genug. “
„ Erin “, fing Weston an, aber da klingelte es.
„ Shit ! “, sagte ich, schnappte mir mein Zeug und knallte den Spind zu, bevor ich im Laufschritt zu meinem nächsten Kurs eilte.
Die zweite und dritte Stunde nahm ich wie verschwommen wahr. Ich konnte immer nur daran denken, was für ein Gesicht Julianne gemacht haben musste, als Weston ihr von dem jüngsten Gerücht erzählte. Weston wartete zwischen den Stunden an meinem Spind auf mich, sagte aber nichts. Als ich ebenfalls schwieg, ließ er mich wortlos wieder gehen.
Vor dem Mittagessen stand er wieder bei meinem Spind, aber ich ging schnurstracks in die Cafeteria und aß allein. Die anderen beobachteten mich bei jedem Bissen. Ich konnte nicht gewinnen: Sie starrten mich an, als Weston und ich zusammen waren, und sie taten es genauso, wenn wir es nicht waren. Die Aufmerksamkeit war zwar deutlich weniger negativ als vor dem Zwischenfall, es war eher Neugier, aber es war immer noch Aufmerksamkeit, die ich nicht wollte.
Bis zur Gesundheitslehre war ich schon total fertig und ein Opfer meiner eigenen aufwallenden Gefühle.
Coach Morris teilte uns ein Worträtsel aus, setzte sich ans Pult und legte die Füße darauf. Ich fing an zu arbeiten, spürte aber ganz genau, dass Weston meinen Hinterkopf anstarrte. Dann hörte ich, wie er in seiner Tasche kramte und einen Stoß aus seinem Inhalator nahm. Sein Tisch knarzte ein paarmal, weil er offenbar eine bequemere Sitzposition suchte.
Auf einmal berührten mich seine warmen Finger zwischen den Schulterblättern, allerdings so sanft, dass ich mir nicht sicher war, ob ich es mir nicht einbildete.
Da flüsterte er: „ Bitte red mit mir. “
Ich drehte meinen Kopf ein wenig zur Schulter, sah ihn aber nicht an. „ Ich weiß nicht, was ich sagen soll. “
„ Sag, dass ich ein Scheißkerl bin, weil ich mit deinen Eltern gesprochen habe, ohne vorher mit dir zu reden. Und dann sag, dass du mich nicht hasst. “
„ Ich hasse dich nicht. “
Er nahm seine Finger wieder weg, und ich hörte ihn tief ausatmen.
Als ich nach vorne spähte, merkte ich, dass Coach Mor-
ris sich bemühte, uns nicht anzustarren. Und nachdem ich mich hastig umgesehen hatte, war offensichtlich, dass der Coach nicht der Einzige war, der diesen leisen Austausch zwischen mir und Weston mitbekommen hatte.
Ich spürte einen Druck in meiner Brust. Es war schon Wochen her, dass ich gegen das Bedürfnis zu weinen hatte ankämpfen müssen, aber es war mir vertraut wie alte Freunde. Ich richtete meine Gedanken darauf, wie viele Kugeln Kokoseis in einen Hawaiian Blizzard
gehörten und wie viele Kisten mit Bechern, Löffeln oder Servietten wir benötigen würden, wenn der Lkw mit der Lieferung käme. Ich stellte mir vor, gebrauchte, weiße Geschirrtücher zu falten und sie dabei zu zählen. Im Dairy Queen zu sein, das hatte mich schon immer getröstet. Dabei lenkte mich die Arbeit nicht nur ab, sondern es war auch der Ort, wo ich Zeit mit meiner engsten Freundin Frankie verbrachte. Und egal, wie viele Kunden mir von Angesicht zu Angesicht gegenüberstanden, das Schiebefenster war immer zwischen uns.
Als es klingelte, war ich noch ganz im DQ. Weston stand auf, blieb an meinem Tisch stehen, aber als ich nicht aufsah, ging er weiter. Bald war ich die Einzige im Raum. Oder zumindest dachte ich das.
„ Hey “, sagte eine Stimme.
Ich schaute hoch. Es war Brady Beck. „ Wohnst du jetzt echt bei den Aldermans ? “
Ich suchte meine Sachen zusammen und stand auf, aber Brady stellte sich mir in den Weg. „ Ich wette, sie
haben die ganze Zeit Schiss davor, was du ihnen klaust. Du magst vielleicht blutsverwandt sein, aber du wurdest von einer Drogensüchtigen großgezogen. “
Ich schaute ihn nur an und weigerte mich zu antworten.
Er musterte mich von oben bis unten mit selbstgefälliger Überheblichkeit im Blick. „ Hat Weston dir eigentlich schon verraten, warum er auf einmal so interessiert an dir ist ? “
Ich blieb stumm.
„ Vielleicht solltest du ihn das mal fragen. “ Damit ging er endlich.
Der falsche weiße Marmor in den roten Fliesen auf dem Flur sah aus wie kleine Albinoschlangen, die in verschiedene Richtungen krochen, hauptsächlich auf die großen Fenster an der Südseite der Mensa zu. Die Stühle an den vielleicht fünfzehn Tischen zum Mittagessen waren leer. Als ich an dem runden Glaskomplex in der Mitte des Gebäudes vorbeikam, worin sich die Bibliothek befand, entschied ich, nicht zu meinem Spind zu gehen, sondern direkt zu Spanisch, meinem nächsten Kurs.
Miss Alcorn begrüßte mich. Ich war die erste Schülerin im Klassenzimmer und wahrscheinlich die einzige ohne Buch.
„ Ich habe es zu Hause vergessen “, erklärte ich sofort, damit ich die Frage nicht später vor allen anderen beantworten musste.
„ Bring es aber morgen unbedingt mit. Du wirst es definitiv brauchen. “
Ich nickte und versuchte, die Verspannung in meinem Nacken wegzumassieren. Der Unterricht dauerte noch keine zehn Minuten, als Micah Norton ein Stück Papier aus seinem Block riss und es auf meinen leeren Tisch warf.
„ Hat Weston dir schon den Laufpass gegeben ? Erst wart ihr wie siamesische Zwillinge, und jetzt hab ich euch den ganzen Tag noch nicht zusammen gesehen. “
Ich drehte mich nicht mal um.
„ Easter “, flüsterte er.
Es war das erste Mal, dass jemand mich so nannte, seit sich herumgesprochen hatte, dass ich nicht Ginas Tochter war. Es klang verächtlich. Das hatte es schon immer getan.
Ich drehte mich immer noch nicht um. Micah hatte seine Freunde nicht bei sich, die ihn angefeuert hätten, mich zu tyrannisieren. Wenn ich ihn ignorierte, ließ er es normalerweise irgendwann sein. Es gab drei Arten von Mobbern: Typen wie Sara, die eher passiv aggressiv waren und das meist nur, wenn sie selbst einen schlechten Tag hatten. Andere wie Micah und Andrew quälten mich nur, wenn noch weitere Leute da waren, die mitmachten, und dann gab es Mobber wie Brady und Brendan, die es nicht kümmerte, wer noch dabei war. Wenn sie es einmal auf jemand abgesehen hatten, gaben sie erst Ruhe, wenn sie ihre Beute irgendwie zur Strecke gebracht hatten.
Ich hatte ein paar Bücher und Artikel über Mobbing gelesen. Auch darüber, wie Mädchen sich normalerweise aufeinander einschießen. An meiner Schule waren jedoch die Jungs am schlimmsten. Sie genossen die Macht der Einschüchterung. Oft hingen das Niveau und die Dauer der Grausamkeit davon ab, wie viele andere bei dem Angriff mitmachten. Niemand war davor sicher. Es passierte zufällig und immer plötzlich und gnadenlos. Der beste Schutz bestand darin, sich mit den Mobbern anzufreunden und mitzumachen. Es war ein vorhersehbarer Teufelskreis, den erst der Schulabschluss durchbrechen konnte. Ich wusste, dass ich nur eine von vielen war, die aus diesem Grund verzweifelt den letzten Schultag herbeisehnten.
Meine Gleichgültigkeit und Miss Alcorns Null-Toleranz-Haltung gegenüber solchen Schikanen waren es wohl, die Micah schnell zum Aufgeben brachten. Eine vertraute Erleichterung stellte sich bei mir ein, aber sie war auch beunruhigend. Ich fühlte mich aus der Übung, obwohl es nur wenige Wochen gewesen waren, in denen ich nicht so wachsam hatte sein müssen. Zum Glück ließ Micah mich für den Rest der Stunde in Ruhe.
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