Herr Fliegenbein und die Suche nach der Stille Herr Fliegenbein und die Suche nach der Stille - eBook-Ausgabe
Roman
„Ein tolles Buch über einen spröden, eigenbrötlerischen und gleichzeitig sehr liebenswerten Mann. Eine Geschichte von Suchen und Finden, von Stille, von Hoffnung und der Lust am Leben.“ - Evangelische Zeitung Hamburg
Herr Fliegenbein und die Suche nach der Stille — Inhalt
Ein außergewöhnlicher Held und eine besondere Reise – humorvoll und inspirierend erzählt.
Herr Fliegenbein ist extrem lärmempfindlich, der alltägliche Krach macht ihn verrückt: hupende Autos, das Geplauder der Kollegen, das laute Radio des Nachbarn. Ganz zu schweigen vom unerträglichen Lärm in Geschäften und U-Bahnen! Am liebsten sitzt er deshalb im Wohnzimmersessel vor seinem Lieblingsbild. Doch als ein Bauarbeiter mit der Abrissbirne aus Versehen ein Loch in die Wand reißt und das Bild zerstört, ist es mit Herrn Fliegenbeins Ruhe endgültig vorbei. Kurzentschlossen begibt er sich auf eine Reise zu den stillsten Orten der Welt. Doch weder im hohen Norden noch im Wald findet er die Stille, die er so sehnlich sucht. Bis er schließlich jenen Ort erreicht, an dem sein geliebtes Bild gemalt wurde. Dort kommt alles anders als gedacht …
Für die Leserinnen und Leser von Sergio Bambaren und François Lelord.
„Eine magische Reise zwischen Märchen und Parabel.“ Aachener Zeitung
„Ein außergewöhnlicher Held und eine besondere Reise – humorvoll und inspirierend erzählt.“ Buch-Magazin
„Ein tolles Buch über einen spröden, eigenbrötlerischen und gleichzeitig sehr liebenswerten Mann. Eine Geschichte von Suchen und Finden, von Stille, von Hoffnung und der Lust am Leben.“ Evangelische Zeitung Hamburg
Leseprobe zu „Herr Fliegenbein und die Suche nach der Stille“
Der Lärm der Welt
Der Tag, an dem sich das Leben von Herrn Fliegenbein buchstäblich auf einen Schlag verändern sollte, war ein Montag. Wie immer war er am Morgen viel zu früh aufgestanden, um dem unerträglichen Schrillen seines Weckers zuvorzukommen, und hatte sich in seiner blassgelb gekachelten Küche ein bescheidenes Frühstück zubereitet.
Der Raum war nur spärlich eingerichtet: eine einfache Küchenzeile mit einer Spüle, einem alten Kühlschrank, der beständig vor sich hin brummte, und ein wenig benutzter und daher sehr blanker Herd. Den schlichten [...]
Der Lärm der Welt
Der Tag, an dem sich das Leben von Herrn Fliegenbein buchstäblich auf einen Schlag verändern sollte, war ein Montag. Wie immer war er am Morgen viel zu früh aufgestanden, um dem unerträglichen Schrillen seines Weckers zuvorzukommen, und hatte sich in seiner blassgelb gekachelten Küche ein bescheidenes Frühstück zubereitet.
Der Raum war nur spärlich eingerichtet: eine einfache Küchenzeile mit einer Spüle, einem alten Kühlschrank, der beständig vor sich hin brummte, und ein wenig benutzter und daher sehr blanker Herd. Den schlichten Holztisch, mit einer Wachstischdecke bekleidet, flankierten zwei Stühle, die Herr Fliegenbein in einem Secondhandkaufhaus erstanden hatte, falls doch einmal jemand zu Besuch käme. Aber natürlich kam niemand.
Über dem Tisch tickte seit Jahren die gleiche moosfarbene Keramik-Küchenuhr, die in einer Online-Auktion unter der Zuordnung Vintage sicher eine Menge Geld eingebracht hätte, wenn Herr Fliegenbein die Bedeutung dieses Wortes gekannt, geschweige denn zu Hause einen Computer gehabt hätte. Außerdem war die Küchenuhr immer etwas ihrer Zeit voraus, sodass er jeden Tag mühevoll auf einen der Küchenstühle klettern musste, um sie mit lang ausgestrecktem Arm vier Minuten zurückzustellen. Dabei wackelten die Stuhlbeine stets bedrohlich, sodass Herr Fliegenbein sich bereits am frühen Morgen der allergrößten Gefahr aussetzte, der er sich in seinem geordneten Dasein überhaupt auslieferte.
Zudem ging die Uhr am nächsten Morgen schon wieder vor. Doch er konnte keinesfalls darauf verzichten, die richtige Zeit einzustellen, da die Uhr ansonsten noch sehr viel mehr vorgegangen wäre. Unvorstellbar, dass sie dann innerhalb eines Monats eine Verfrühung von zwei vollen Sunden aufweisen würde, was auf das Jahr gerechnet einen Zeitverlust von einem ganzen Tag bedeutete!
Dennoch konnte er sich nicht dazu entschließen, eine neue Uhr zu kaufen, da sie ansonsten noch gut war. Noch gut bedeutete für Herrn Fliegenbein, dass sie keine abgeschlagenen Kanten aufwies, das Glas der Abdeckung intakt und die Zeiger der Uhr nicht verbogen waren. So etwas gab man nicht einfach in den Müll.
An diesem Morgen beschloss Herr Fliegenbein aber, das Zurückstellen der Uhr zu verschieben und zuerst zu frühstücken, was einer kleinen Revolution in seiner morgendlichen Routine gleichkam. Den Grund dafür hätte er später nicht mehr nennen können, vielleicht mochte das frische Glas Marmelade ihn dazu verleitet haben, das er am Samstagnachmittag gekauft hatte.
Ein frisches Glas Marmelade ist die Verheißung dafür, dass man etwas Neues beginnt, ging ihm, der Neues doch gar nicht schätzte, seltsamerweise durch den Kopf, als er das Glas auf den Tisch stellte.
Herr Fliegenbein öffnete den Deckel, versenkte seinen Löffel tief in den Fruchtaufstrich und belud die Scheibe Graubrot aus dem Discounter, die auf einem Melaninbrettchen lag, gerade so großzügig damit, dass die Butter darunter nicht mehr zu sehen war.
„Es geht nichts über selbst gemachtes Quittengelee“, sagte er in den Raum hinein und erschrak über seine Stimme, die ein wenig rostig klang, weil sie das ganze Wochenende über nicht benutzt worden war. „Wichtig ist nur, dass absolut keine Klümpchen darin sind. Man darf dazu nur den Saft der ausgekochten Früchte verwenden.“
Leider war sein Quittengelee nicht selbst gemacht, sondern stammte ebenfalls aus dem Discounter. Aber daran zu glauben, jemand habe sich die Mühe gemacht, für ihn reife Quitten zu pflücken, sie an einem Spätsommertag zu putzen und einzukochen und die Gläser auf einem Holzregal im Keller für den Winter aufzubewahren, sodass man ein wenig Staub wegpusten musste, wenn man es vom Brett nahm, täuschte ihn darüber hinweg, dass es in seiner Küche niemanden gab, der ihm das Marmeladenglas mit einem freudigen Lächeln über den Tisch zuschob. Es gab auch niemanden, der ihm das Glas grimmig herüberreichte, und niemanden, der überhaupt nichts von all dem tat, sondern einfach nur dasaß. Denn Herr Fliegenbein lebte allein. Er kannte es nicht anders.
„Diese Menschen mit ihrem eigentümlichen Bedürfnis, sich zu versammeln“, spottete er manchmal, wenn er vor sich selbst vertuschen wollte, dass die Einsamkeit zuweilen über ihm zusammenbrach wie eine Welle, ihn mit sich riss und tagelang in einem Strudel der Melancholie gefangen hielt. Und tatsächlich wäre er vielleicht nach all den Jahren gar nicht mehr in der Lage gewesen, ein Gegenüber zu ertragen.
Zu seinem morgendlichen Quittengelee-Brot trank Herr Fliegenbein stets eine Tasse Verbenen-Tee, von dem es hieß, er habe einen beruhigenden Charakter. Ob sich dies tatsächlich vorteilhaft auf sein Gemüt auswirkte, konnte er allerdings nicht beurteilen, da er das Getränk noch nie weggelassen hatte und trotzdem stets aufs Äußerste angespannt war.
„Vielleicht wäre ich ohne den Tee noch viel anfälliger“, überzeugte er sich, wenn er selbst manchmal an der Wirkung des Getränks zweifelte. Also setzte er doch jeden Morgen aufs Neue eine Tasse davon an, die er gemächlich und ohne besonderen Genuss austrank.
Die Tageszeitung hatte Herr Fliegenbein schon vor ein paar Jahren abbestellt. Er fand es zunehmend erschöpfend, sich bereits bei Anbruch eines neuen Tages mit dem Schrecken der Welt zu befassen. Flugzeugabstürze, Terroranschläge, über Jahrzehnte andauernde Fehden zwischen zwei Völkern ohne jeglichen Fortschritt, ein weiterer havarierter Tanker, dessen auslaufendes Öl das Gefieder der Meeresvögel verklebte, Plastikmüll in der Tiefsee, bedrohliche Folgen des Klimawandels, die keinerlei Maßnahmen nach sich zogen, der verrückte amerikanische Präsident, der verrückte russische Präsident, die verrückten Präsidenten in allen entfernten Winkeln der Erde … Jeden Tag schien sich dieses Kaleidoskop des Schreckens einfach nur zu wiederholen, ohne dass jemand etwas Nennenswertes dagegen unternahm.
Er bewunderte die Menschen, die diesen Widerspruch scheinbar mühelos ertrugen, dabei einen so stabilen und heiteren Eindruck machten und zudem noch beschwingt in ihren Tag starteten. Nach der morgendlichen Lektüre derartiger Katastrophenmeldungen war er bereits so vernichtet gewesen, dass er kaum noch den Arbeitsweg bewältigt hatte. Also hatte er eines Tages bei der Zeitung angerufen und auf deren Lieferung aus ungenannten Gründen verzichtet.
Nach dem Frühstück wartete Herr Fliegenbein stets in seinem geblümten Wohnzimmersessel darauf, dass es Zeit wurde, zur Arbeit zu gehen, und betrachtete dabei das Bild an der gegenüberliegenden Wand. Das Wochenende lag in seiner Ereignislosigkeit hinter ihm wie ein Felsbrocken, an dem man auf einer langen Wanderung achtlos vorbeigeht, weil er in der hoch stehenden Mittagssonne kaum Schatten wirft und daher wenig Linderung verspricht.
Herr Fliegenbein freute sich dennoch nicht darauf, zur Arbeit gehen zu können, genauso wenig, wie er sich am Freitagnachmittag auf das Wochenende freute.
„Wann habe ich mich überhaupt zuletzt über etwas gefreut?“, erschrak Herr Fliegenbein auf einmal und wurde noch blasser, als er es ohnehin schon war.
Er zählte innerlich die wenigen Dinge auf, die ihm dazu einfielen. Ein unverhoffter Sonnenstrahl, der an einem regenreichen Tag durch eine dicke Wolkenschicht geblinzelt hatte, ein Eichhörnchen, welches den Nussbaum hinter seinem Haus hinaufhuschte, um sich für seinen Wintervorrat an dessen Früchten zu bedienen, ein Stück Apfelkuchen, das er sich manchmal auf dem Nachhauseweg aus dem Café in der Planetenstraße mitnahm.
„Das ist doch immerhin etwas“, atmete Herr Fliegenbein erleichtert aus.
Wenn es sich irgendwie einrichten ließ, blieb er jedoch lieber in seiner Wohnung. Denn es gab da draußen eine kritische Angelegenheit, die für ihn tatsächlich noch unerträglicher war als all die Schreckensberichte in der Zeitung. Und dieses Problem konnte er nicht einfach abbestellen. Denn es handelte sich um etwas, das er nicht beeinflussen konnte: Und dieses Etwas war der Lärm.
Die kreischenden S-Bahnen, die johlenden Schulkinder, die quietschenden Autoreifen beim abrupten Abbremsen vor der Ampel, ungeduldig hupende Fahrer. Und warum konnten die Wartenden an den Bushaltestellen nicht einfach mal still sein?
Letzteres Lärmproblem hatte sich in den vergangenen Jahren etwas gebessert, musste er zugeben, da die Menschen mittlerweile einfach zu müde waren, um sich zu unterhalten, oder sich dankenswerterweise still in ihre Mobiltelefone versenkten. Dagegen hatten aber alle motorisierten Störenfriede deutlich hinzugewonnen.
Lange hatte Herr Fliegenbein noch viel mehr unter dem Lärm gelitten, bis er eines Tages an einer Baustelle vorbeigegangen war, auf der ein Bauarbeiter gerade mit einem Presslufthammer hantierte, und er so etwas wie eine Offenbarung erlebte.
Der Presslufthammer gab ein an sich vollkommen unerträgliches, bohrendes und ratterndes Geräusch von sich, dennoch blieb Herr Fliegenbein fasziniert stehen. Dem Bauarbeiter schien der Krach nämlich überhaupt nichts auszumachen. Mit einem unerschütterlichen Gleichmut ließ er sich gar von dem lärmenden Gerät durchrütteln, als ob es eine neu entwickelte Gesundheitsmethode wäre.
Der Grund für seine Gelassenheit war, wie Herr Fliegenbein auf Anhieb erkannte, ein riesiger knallgelber Gehörschutz, der seine Ohren komplett umschloss.
„Hallo, Sie da!“, rief Herr Fliegenbein elektrisiert, doch der Bauarbeiter konnte ihn aus zweierlei nachvollziehbaren Gründen nicht hören.
Herr Fliegenbein betrat entschlossen die Baustelle, ging zu dem Mann und zupfte am Ärmel seiner Arbeitsjacke. So nah an ihn und damit auch an sein Arbeitsgerät heranzugehen, war allerdings eine Qual. Herr Fliegenbein glaubte, sein Kopf müsse sogleich in zwei Teile zerspringen.
„Könnten Sie mal bitte das Gerät abstellen?“, fragte er dennoch sehr höflich in den Krach hinein.
Der Bauarbeiter schaltete den Presslufthammer aus und sah die seltsame Gestalt, die sich verbotenerweise auf seine Baustelle verirrt hatte, verwundert an.
„Wo bekommt man so einen?“ Herr Fliegenbein deutete auf die gelben Ohrenschützer des Mannes, der aber weiterhin verständnislos dreinblickte.
„Sie hören immer noch nichts“, dämmerte es Herrn Fliegenbein, „kein Wort?“
Endlich nahm der Bauarbeiter seinen Gehörschutz ab und musterte ihn mürrisch: „Für den Lärm kann ich nichts. Wir machen auch nur unsere Arbeit.“
Herr Fliegenbein stutzte kurz und beeilte sich dann, den Sachverhalt richtigzustellen. „Nein, nein, ich möchte mich nicht beschweren. Ganz im Gegenteil!“
„Was wollen Sie dann?“ Von der anderen Seite der Baustelle sah ein Blaumann-Kollege zu ihnen hinüber und machte ein fragendes Gesicht.
„Ich möchte Ihnen dieses Ding abkaufen“, sagte Herr Fliegenbein schnell, zeigte auf die Hand des Mannes und nahm sein Portemonnaie aus der Manteltasche. „Wie viel?“
Der Bauarbeiter erkannte möglicherweise, dass es der eigentümlichen Figur mit den zu kurzen Hosenbeinen absolut ernst damit war. Er witterte wohl die Chance, seinen am Monatsende stets etwas knappen Lohn aufzubessern, und nannte daher aufs Geratewohl einen Preis, den der Mann, ohne mit der Wimper zu zucken, bezahlte.
Seit diesem Tag war Herr Fliegenbein um unverschämte zweihundert Euro ärmer, aber sein Arbeitsweg war nun um einiges erträglicher.
Dass er mit seinen etwas unmodischen Anzügen (bei schlechtem Wetter durch einen ausgeblichenen Trenchcoat kaschiert), der Aktentasche und dem massiven gelben Gehörschutz auf dem gescheitelten, grauen Haar ein seltsames Gesamtbild abgab und die Menschen ihn fragend anstarrten und über ihn tuschelten, bemerkte Herr Fliegenbein kaum. Zu groß war die Erleichterung, nur noch zehn Prozent des Lärms wahrzunehmen, den er zuvor hatte erdulden müssen.
Außerdem trugen die jungen Leute selbst oft riesige Kopfhörer und kommentierten sein noch gewaltigeres Modell manchmal sogar mit einem anerkennenden Daumen-hoch-Zeichen: „Mega-Teil, Opa!“
Er konnte jedoch nicht richtig einordnen, ob dies positiv oder spöttisch gemeint war, da er die Codes der Jugend nicht beherrschte, und beantwortete sie daher stets mit einem scheuen Lächeln, das auch dann nicht ganz verkehrt war, wenn sie sich nur über ihn lustig machen wollten.
Wenn er nach dem mühsamen Arbeitsweg endlich im Gebäude der Versicherung angekommen war, in der er seit unzähligen Jahren arbeitete, wurde es einigermaßen erträglich. Die Firma hatte Herrn Fliegenbein nach einer Umstrukturierungsmaßnahme vorübergehend einen Raum zugewiesen, in dem zuvor das Druckerpapier und die Putzmittel für die Reinigungskolonne aufbewahrt worden waren.
„Da ist aber kein Fenster drin“, hatte er protestieren wollen, doch er war es nicht gewohnt, für sich selbst einzutreten, und schwieg also, während ein säuerlicher Geschmack seinen Hals emporstieg. Die Kollegen hatten alle feige zur Seite geblickt oder plötzlich nach etwas sehr Wichtigem in den untersten Schubfächern ihrer Schreibtische gesucht.
Nur der Abteilungsleiter hatte ihm auf die Schulter geklopft: „Toll, Fliegenbein, dass Sie sich so kollegial verhalten! Beim nächsten Mal sind Sie dran! Versprochen! Kommen Sie jederzeit zu mir, wenn Sie etwas brauchen.“
Zwei Monate später war der Abteilungsleiter befördert und in eine andere Niederlassung versetzt worden und ein anderer Abteilungsleiter war gekommen, und Herr Fliegenbein war folglich kein einziges Mal mehr dran gewesen.
Seitdem saß er in seinem fensterlosen Raum und rechnete.
Neben ihm stapelten seine Kollegen die Schriftstücke mit jenen Fällen der Schadensregulierung, die komplizierte Kalkulationen erforderten, zu welchen sie sich selbst nicht in der Lage fühlten. Solange sie dabei nicht versuchten, Herrn Fliegenbein in ein Gespräch, geschweige denn ein Privatgespräch, zu verwickeln, war ihm dies nur recht. Passierte dies trotzdem, fielen ihm ohnehin keine interessanten Themen ein oder er stotterte herum und wurde rot, was noch viel schlimmer war. Nach so einem Vorfall konnte er sich ausmalen, dass er wieder einmal ein willkommenes Tagesgespött war, wenn sich die Kollegen ohne ihn am Kopierer trafen.
In ein Schriftstück jedoch konnte er abtauchen wie andere in einen spannenden Kriminalfall. Es reizte ihn, die Schwachstelle zu finden, die jeder Vorgang zwangsläufig aufwies. Mal steckte diese in einer verborgenen und unbeachteten Klausel des Vertrages, mal war es zwar augenfällig, dass der Schadensfall nur vorgetäuscht war, es ließ sich jedoch nur schwer nachweisen. Herr Fliegenbein wühlte sich wie ein Trüffelschwein durch die zweifelhaften Fälle, und immer fand er den Fehler, der zuvor keinem ins Auge gestochen war. Deshalb behielt ihn die Firma, obwohl er eigentlich für untragbar gehalten wurde.
Langjährige Kollegen hatten es längst aufgegeben, ihn anzusprechen, neue Mitarbeiter versuchten am Anfang noch ein-, zweimal, ihn in eine kleine Plauderei zu verwickeln.
„Kommen Sie mit in die Kantine?“
„Mhm“, hatte Herr Fliegenbein nicht unfreundlich, aber auch nicht gerade euphorisch geantwortet und so lange gewartet, bis der Kollege schließlich aufgegeben hatte und allein gegangen war.
„Haben Sie heute Abend was Schönes vor?“
„Was soll ich schon vorhaben?“, war es aus Herrn Fliegenbein herausgebrochen. Er würde, erledigt vom Tag, in seinem Sessel sitzen, ein Mortadellabrot mit Gürkchen Güteklasse 1A verzehren und sich in die Wunderwelt seines Bildes wünschen. Aber die junge, in seinen Augen etwas zu sorglose Frau, die ihn erschrocken ansah, würde niemals verstehen, dass genau das für ihn das Allerschönste war.
„Ich bin verhindert“, hatte er daher nur unbeholfen geantwortet, bevor sie weiter nachhaken konnte.
Einmal besaß eine neue Auszubildende sogar die Dreistigkeit, ihn zu fragen, ob er am Abend zum Betriebsfest kommen würde. Er, Herr Fliegenbein, zu einem Betriebsfest voller ausgelassen krakeelender Kollegen und lärmender musikalischer Darbietungen! Und dafür abends noch einmal das Haus verlassen und sich dem Getöse der Nacht aussetzen müssen!
„Hätten Sie nicht Lust, einmal so richtig abzutanzen?“, hatte sie unter den spöttischen Blicken der Kollegen dann auch noch nachgehakt.
Früher, und dieses Früher war so sehr Vergangenheit, dass es ihm kaum mehr real erschien, war er ein recht passabler Tänzer gewesen, der zuweilen über die frisch gewachsten Tanzböden der Stadt geschwebt war. Doch diese Zeit war weit entfernt. So weit wie Pluto, der ehemals äußerste Planet des Sonnensystems, den er als Kind mit seinem Teleskop gesichtet hatte. Der nun zum Zwergplanet herabgestuft und dem damit der Planetenstatus aberkannt worden war. Herr Fliegenbein konnte nachvollziehen, wie Pluto sich jetzt fühlen musste mit seiner Kleinplanetennummer 134340.
Die Frage nach dem Tanzen hatte er mit einem schweigsamen Heben seiner linken Augenbraue beantwortet und nicht einmal aufgesehen, sodass auch diese junge Kollegin es schließlich aufgegeben hatte und die Schriftstücke seitdem dankenswerterweise ebenso wortlos bei ihm ablegte wie alle anderen.
Doch nicht immer gelang es ihm, gemeinschaftlichen Aktivitäten aus dem Weg zu gehen. Eines Tages wurde er vom neuen Abteilungsleiter dazu verdonnert, in der Mittagspause an einem Kurs zum „betrieblichen Stressbewältigungsmanagement“ teilzunehmen. Der eilfertige Neue hatte ein Seminar zur Mitarbeiteroptimierung belegt und war danach überzeugt, dass er mehr aus seiner Mannschaft herausholen konnte, wenn sie sich entspannt an die Arbeit machte. Natürlich ging es dabei letztlich nicht darum, dass die Mitarbeiter sich besser fühlten, sondern dass sie mehr Leistung brachten und weniger Fehlzeiten auf ihrem Arbeitszeitkonto zu verzeichnen hatten.
Nach derlei Fortbildungen war der Abteilungsleiter eine Weile lang besonders motiviert, sein Team mit unsinnigen Maßnahmen zu strapazieren. Nach ein paar Wochen legte sich sein Übereifer zwar wieder, doch der Friede hielt nur so lange, bis er erneut ein Seminar belegte. Daher war es am besten, einfach bei allem mitzumachen, wenn seine Anordnungen auch noch so unsinnig waren.
„Lassen Sie heilsame Bilder vor Ihrem inneren Auge ablaufen“, hatte die Entspannungstrainerin Herrn Fliegenbein und seine Kollegen beschworen, während sie im Eingangsbereich des Versicherungsgebäudes auf einer Bodenmatte lagen. Stattdessen musste Herr Fliegenbein jedoch an einen besonders vertrackten Schadensfall denken, bei dem ein Kunde immer wieder Autounfälle provozierte, um die Versicherungsprämie zu kassieren, ihm dies aber absolut nicht nachzuweisen war. Herr Fliegenbein lag auf dem Boden, bekam Schluckauf und sah vor seinem inneren Auge das wenig heilsame Bild zweier Autos, die an einer an sich übersichtlichen Kreuzung ineinanderkrachten. Danach hatte er sich so verspannt von seiner Matte hochgequält, als ob er selbst in einem der Autos gesessen hätte.
„Tut gut, Fliegenbein, was?“ Der Chef, der ganz demokratisch ebenfalls an der Übung teilgenommen hatte, zwinkerte ihm tiefenentspannt zu. Er selbst hatte sich gekrümmt an seinen Schreibtisch zurückgeschleppt, mit der Kontraktion seines Zwerchfells gekämpft und ohne viel Aufhebens die nächste Akte vom Stapel genommen. Und dann die nächste und wieder die nächste. Wie jeden Tag.
Den vertrackten Fall der inszenierten Mehrfachunfälle hatte er als einzigen in seinem gesamten Versicherungsleben niemals gelöst.
„Ein berührendes, witziges Buch mit einem sympathischen Protagonisten“
„Ein tolles Buch über einen spröden, eigenbrötlerischen und gleichzeitig sehr liebenswerten Mann. Eine Geschichte von Suchen und Finden, von Stille, von Hoffnung und der Lust am Leben.“
„Ein außergewöhnlicher Held und eine besondere Reise – humorvoll und inspirierend erzählt.“
„Herr Fliegenbein ist ein ›Held‹, den man vom ersten Moment an ins Herz schließt.“
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