Hinter dem Lächeln Hinter dem Lächeln - eBook-Ausgabe
Autobiografie
— Erinnerungen der beliebten SchauspielerinHinter dem Lächeln — Inhalt
„Ich möchte leben, ich möchte möglichst viel daraus machen.": Michaela May über Tod und Trauer, Trennung, Liebe und den Sinn des Lebens
Michaela May steht für vieles: das Urmünchnerische, Bodenständigkeit, unbändige Reiselust, Wohltätigkeit und schauspielerisches Können. Doch hinter ihrem strahlenden Lächeln verbirgt sich viel Ungesagtes. In ihrer Autobiografie beschreibt May ihre Familie – die lustige Oma Fanny, ihre Eltern, die ihr die Liebe zur Bühne und zur Musik in die Wiege legen, und die Geschwister, die unterschiedlicher nicht sein könnten. Sie erzählt von ihrem Weg über den Tanz zu den ersten Rollen in Film und Fernsehen, von ihrer Liebe zur Natur und dem Durst nach Freiheit.
„Sehr lesenswerte Erinnerungen.“ FAZ
Michaela May öffnet dem Leser mit diesem Buch eine Tür, die bislang verschlossen blieb, zeigt sich nicht nur als Schauspielerin, sondern auch als Tochter, Schwester, Freundin und Partnerin.
„Ein wirklich sehr bewegendes Buch“ BR
Leseprobe zu „Hinter dem Lächeln“
Ich möchte leben! Träumend unter einem Rosenstrauch
Meine Urmünchner Kindheit
Ich wurde am Dienstag, den 18. März 1952, im Krankenhaus in der Münchner Lindwurmstraße geboren, unweit der Straße, in der ich heute wieder lebe. Mein vollständiger Name lautete Gertraud Elisabeth Berta Franziska Mittermayr. Weil ich das erste Mädchen in der Familie war, fand die halbe Verwandtschaft in meinem Namen Niederschlag. Elisabeth hieß ich nach meiner Mutter Anna Elisabeth, von allen Anneliese genannt, Berta nach der Oma väterlicherseits und Franziska nach der Oma [...]
Ich möchte leben! Träumend unter einem Rosenstrauch
Meine Urmünchner Kindheit
Ich wurde am Dienstag, den 18. März 1952, im Krankenhaus in der Münchner Lindwurmstraße geboren, unweit der Straße, in der ich heute wieder lebe. Mein vollständiger Name lautete Gertraud Elisabeth Berta Franziska Mittermayr. Weil ich das erste Mädchen in der Familie war, fand die halbe Verwandtschaft in meinem Namen Niederschlag. Elisabeth hieß ich nach meiner Mutter Anna Elisabeth, von allen Anneliese genannt, Berta nach der Oma väterlicherseits und Franziska nach der Oma mütterlicherseits. Gertraud haben sich meine Eltern ausgedacht. Ich selbst fand diesen Namen altbacken und verzopft und seltsam germanisch. Vor allem als ich erfuhr, was der Name bedeutet: „Die Starke mit dem Speer.“ Da mochte ich „Traudi“, wie mich bald alle riefen, schon lieber.
Ich war das dritte von vier Kindern. Mein großer Bruder Hans war 1943 mitten im Krieg geboren worden, mein jüngerer Bruder Karl, kam 1946, ein Jahr nach Kriegsende dazu. Meine Mutter hatte die Zeit des Krieges evakuiert in Truchtlaching am Chiemsee verbracht. Zwei Tanten, Verwandte ihrer Eltern, hatten sie aufgenommen und ihr ein Dach über dem Kopf gegeben. Doch das half nichts gegen die Ängste, die meine Mutter erfassten, als gegen Ende des Krieges die Alliierten ins Land kamen. Wie die meisten Frauen, deren Männer in Gefangenschaft oder im Krieg gefallen waren, fürchtete auch sie sich vor Vergewaltigungen. Kreativ wie meine Mutter war, ließ sie sich von ihrer Angst jedoch nicht lähmen, sondern heftete sich fortan ein rotes Kreuz an ihre Schürze und malte ein Schild mit der Aufschrift „Kinderklinik“ an die Gartentür, um den Soldaten klarzumachen, dass bei ihr außer Masern und Diphtherie nichts zu holen war.
Mein Vater, 1916 geboren, hatte die Kriegsjahre als Gebirgsjäger an der Front verbracht – eine Zeit, die ihn bis in sein Innerstes geprägt hat. Noch Jahre später nahm er uns Kinder zur Seite, um uns Geschichten vom Krieg zu erzählen, die wir gar nicht hören wollten. Mit Inbrunst beschrieb er, wie er in Südfrankreich im Graben gelegen, wie er seine Kameraden auf eigene Faust angesichts der drohenden Einkesselung bei Stalingrad über Gebirgskämme zurück in die Heimat geführt hatte. Mein Vater war Offizier gewesen und noch immer erfüllt von der Erinnerung an den Zusammenhalt, die Kameradschaft, die damals in seinem Bataillon geherrscht hat. Und aus all seinen Erzählungen schwang immer mit: „Damals war doch nicht alles schlecht.“
Wenn ich mich heute, im Zuge meiner Arbeit mit dem Münchner Verein Retla, der sich um die Verbesserung der Lebenssituation von Senioren kümmert,
mit Kriegsveteranen unterhalte, dann höre ich oft die Worte: „Ich würde so gerne einmal wieder vom Krieg erzählen, aber niemand will mir zuhören“, und sie geben mir zu denken – hat doch diese Generation einen Großteil ihres jungen Lebens auf dem Feld verbracht, was bis ins hohe Alter tiefe Spuren hinterlassen hat. Doch für mich als Kind war diese Zeit weit weg. Ich war in das erste Aufatmen nach dem Krieg, in die Zeit des Aufschwungs, des Wirtschaftswunders hineingeboren worden. Ich wollte die alten Geschichten von Heldenmut und Kameradschaft nicht mehr hören. Wir wollten die alte Zeit hinter uns lassen. Für uns sollte es immer weiter aufwärtsgehen.
Wir kauften die erste Waschmaschine, eine elektrische Nähmaschine, und endlich gab es auch warmes Wasser aus dem Boiler, und wir mussten nicht mehr alle nacheinander im selben Zuber baden – ich als lange Zeit jüngstes Kind als letzte in der schmutzigen Seifenbrühe meiner Brüder. Was nicht heißt, dass es nicht bisweilen auch ziemlich hart für uns war, aber in uns allen war da die feste, beschwingende, fröhlich machende Überzeugung: Alles wird gut. Alles wird besser.
Ich wuchs in einem Reihenhaus in der Stöberlstraße auf. Der Stadtteil Laim war damals ein eher kleinbürgerliches Viertel, in dem viele Familien mit noch mehr Kindern zusammenlebten. Der Kindergarten war gleich um die Ecke und der Agricolaplatz mit seinen Grünanlagen direkt gegenüber – ein idealer Treffpunkt für alle Kinder aus der Straße zum Klettern, Rollerfahren und Fußball spielen.
Gekauft hatten das Haus meine Eltern gemeinsam mit meinen Großeltern. Es hatte drei Stockwerke: das Erdgeschoss, in dem meine Eltern schliefen und sich unsere Wohnräume befanden, die Belle Etage, in der meine Großeltern lebten, und einen zweiten Stock, in dem sich meine Brüder Hans und Karl ein Zimmer teilten, während ich in den Genuss eines kleinen, aber eigenen Zimmers kam. Meine Schwester Gundula sollte ja erst acht Jahre nach mir zur Welt kommen.
Mein Großvater war ein sehr verschlossener, eigenbrötlerischer Mann. Vor dem Krieg war er Branddirektor der Münchner Feuerwehr gewesen. Meine Mutter war in einer Wohnung über der Feuerwehrwache in der Blumenstraße aufgewachsen, unweit des Viktualienmarkts. Jeden Feuerwehreinsatz hatte sie dort aus nächster Nähe miterlebt und war manchmal sogar mit dem Einsatzwagen zur Schule gefahren worden. Wenn ich mir meinen Großvater so ansah, dann konnte ich mir so eine gut gelaunte Aktion von ihm gar nicht mehr vorstellen.
Im Krieg war er von seinem Posten als Branddirektor abgesetzt worden – angeblich weil er sich irgendein Bild aus der Wache unter den Nagel gerissen hatte. Der wahre Grund war jedoch, dass mein Großvater sich geweigert hatte, in die NSDAP einzutreten. An der Degradierung ist er schließlich zerbrochen. Einst ein stolzer Mann in Führungsposition, nahm er dreißig Kilo ab und war für den Rest seines Lebens ein Schatten seiner selbst – zusammengeschrumpft vom stattlichen Feuerwehrhauptmann zum kleinen gedemütigten Menschen. Zwar wurde er nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs rehabilitiert – in der Feuerwehrwache wurde sogar eine Büste von ihm aufgestellt –, geändert hat das für ihn jedoch nichts. Als Pensionist lebte er in sich zurückgezogen, bekam zwar noch regelmäßig Besuch von ehemaligen Kollegen und besuchte auch ab und zu seinen Stammtisch im Bratwurst Glöckl, dem Wirtshaus am Frauendom, doch er war und blieb ein Eigenbrötler, saß meist stumm in seinem Sessel, löste Kreuzworträtsel und rauchte Rössli Sumatra. War die Schachtel leer, drückte er einem von uns Kindern zwei Mark in die Hand, mit denen wir schnurstracks zum nächsten Kiosk marschierten. Dort gab es fünf Stumpen in einer Schachtel für eine Mark fünfzig, für den Rest durften wir uns Süßigkeiten oder Eis kaufen. So hielt er uns Kinder ständig beschäftigt, ihn selbst brachte nur noch wenig vor die Tür.
Ganz anders dagegen seine Frau, meine Großmutter Franziska, die „Fanny von der Feuerwehr“. Oma Fanny strömte nur so über vor Lebensfreude, sie war eine wundervolle Köchin und Stammgast im Café Alte Börse am Marienplatz. Außerdem war sie bei den „Damischen Rittern“, einem Faschingsverein, dessen Mitglieder sich in der sogenannten fünften Jahreszeit als Ritter und Burgfräulein verkleideten, sich herrliche Fantasienamen wie „die Ritterin von Schneizelreut“ gaben und es so richtig krachen ließen. Wenn ich meine Lust am Leben irgendwo herhabe, dann von meiner Oma Fanny, der die Lebensfreude aus allen Poren perlte.
Gefeiert wurde der Faschingsball der „Damischen Ritter“ im Löwenbräukeller am Stiglmaierplatz – noch heute eine Faschingshochburg –, und je größer das Gefolge desto ehrenvoller war das für den jeweiligen Ritter. Deshalb hüllte sich bei uns die ganze Familie in die wundervollsten Verkleidungen. Auf ihrer alten „Singer“-Nähmaschine nähte die Oma für uns alle die prachtvollsten Kostüme aus alten Vorhängen, Bordüren und Brokatstoffen. Glücklicherweise besaß sie noch immer die allerbesten Verbindungen, schließlich hatte sie jahrelang den Kurzwarenladen Schürzen-Ecke für „Wäsche, Trikotage und moderne Cravatten“ in der Reichenbachstraße geleitet, wo ihre Verehrer sich mit schränkeweise Unterwäsche eingedeckt hatten, nur um bei der schönen Fanny einkaufen zu dürfen. Und so gereichte ich als eleganter Page mit weißen Strumpfhosen und gelb samtenem Wams meiner Oma in ihrem großen Hofstaat zur Ehre und spielte so lange mit, bis wir Kinder nach Hause mussten, während die Eltern bis zum Morgengrauen weiterfeierten. Der Opa saß derweil daheim, rauchte Rössli Sumatra und hielt die Stellung.
Ja, die Oma liebte das Leben und hatte einen unerschütterlichen Humor. Besonders im Fasching machte sie sich einen Spaß daraus, alle ein wenig an der Nase herumzuführen. Mit einer Melone, an die sie einen Vorhang genäht hatte, damit niemand sie erkannte, oder im Anzug, mit Gumminase und Brille, spazierte sie als Lebensmittelkontrolleurin über den Viktualienmarkt und mäkelte schlecht gelaunt an den Waren herum. „Warum sind die Bananen so krumm? Der Käse ist ja ganz verschimmelt! Und diese winzigen Eier … Gebt ihr euren Hühnern nichts Anständiges zu fressen?“ Das ging so lange, bis sie schließlich mit herzlichem Geschrei enttarnt wurde.
Immer im Schlepptau mit dabei: meine Wenigkeit. Ich liebte es, der Oma dabei zuzusehen, wie sie sich verstellte, und ich erkannte, was für einen Spaß es machte, andere Leute zum Lachen zu bringen.
Auch bei meiner Mutter setzte sie so den Keim zum Verkleiden und für ihre spätere Spielfreude, die in unzähligen Auftritten meiner Eltern die wildesten Blüten trieb. Es gab keinen Geburtstag in der Familie oder im Freundeskreis, an dem sie nicht irgendeinen Sketch zum Besten gaben. Mal trällerte meine Mutter als stolze Operndiva völlig überzogen schiefe Arien, während mein Vater am „Klavier“ – einem umfunktionierten Bügelbrett – saß und auf die Tasten einhämmerte, bis ihm die Perücke vom Kopf flog, das Brett zusammenfiel und die Situation komplett eskalierte. Ein andermal zwängte sich mein Vater in ein enges Ballettröckchen und beeindruckte das Publikum mit völlig überzogener Attitüde als sterbender Schwan. Wir Kinder liebten diese clownesken Auftritte, die mich ihr ganzes Leben lang begleiteten.
Ich erinnere mich noch an meine erste Hochzeit, 1980 in Venedig auf der Insel Torcello in der Locanda Cipriani. Als Überraschung wollten meine Eltern als singende Vagabunden auftreten und eine Moritat über unser Kennenlernen zum Besten geben, begleitet von satirischen Bildern, die meine Mutter eigens dafür gemalt hatte. Sie waren jedoch so überzeugend verunstaltet, dass die Kellner ihnen den Zutritt zur Hochzeitsgesellschaft verwehren wollten. So war es auch kein Wunder, dass sie, als sie Jahre später ins Augustinum, eine Seniorenresidenz am Ammersee, umsiedelten, als Erstes eine Theatergruppe gründeten.
Jedoch muss ich zugeben, dass mein Vater auf den ersten Blick gar nicht der geborene Spaßmacher war. Er stammte aus der Familie Mittermayr, einer alteingesessenen Münchner Hafnersfamilie, in der das Handwerk des Ofen- und Kaminbauers seit dem 18. Jahrhundert von Generation zu Generation weitergegeben worden war. Mein Ururgroßvater hatte schon für König Ludwig in seinem Märchenschloss Neuschwanstein Kachelöfen gebaut, die noch heute dort zu besichtigen sind.
Die Hafnerei der Familie lag in der Hackenstraße, Hausnummer 4. Hier wurden die Kacheln hergestellt, getrocknet und gebrannt, aus denen dann die Kamine und Öfen zusammengesetzt wurden. Nach dem Krieg hatte mein Vater – inzwischen selbst Hafnermeister – den elterlichen Betrieb übernommen. Allerdings stand es zu dieser Zeit bereits ziemlich schlecht ums Geschäft. Sein Vater, der durch die schrecklichen Kriegserlebnisse immer mehr zum Alkoholiker geworden war, hatte sich wenig um den Betrieb gekümmert. Hinzu kam, dass in den Sechzigerjahren Kachelöfen nicht mehr en vogue waren. Einen der letzten Öfen baute mein Vater noch mit Stolz für Altbundespräsident Theodor Heuss in Bonn.
Schließlich wurden die Hafnerei und später auch das ganze Haus verkauft. Mein Vater wurde Lehrer an der Berufsschule für Ofensetzer und Kaminbauer und wegen seines großen Organisationstalents schon bald ins Rathaus berufen, wo er für die Bereiche Schulplanung und Schulbau verantwortlich war. Schließlich sollte er Stadtschulrat werden, doch er konnte sich nicht dazu durchringen, in eine Partei einzutreten, und so wechselte er an die Münchner Berufsschule, deren Direktor er schließlich wurde. In dieser Position fand er seine Erfüllung: Handwerker anleiten, nüchtern und sachlich entscheiden, mitreden, mitgestalten, den Ton angeben. Das zog sich durch bis ins hohe Alter.
Doch so sehr er es auch liebte, selbst die Fäden in der Hand zu halten – von der Leidenschaft meiner Mutter ließ er sich gern mitreißen. Uns allen ging das so. In ihr brannte das Feuer für alles Künstlerische, sie war so voller Fantasie, dass eine Person fast nicht ausreichte, um all ihre Ideen in die Tat umzusetzen. Ursprünglich hatte meine Mutter die Münchner Kunsthochschule besuchen wollen, doch erst kam der Krieg, dann die Kinder, und so blieb die Kunst auf der Strecke. Nicht jedoch ihre Begeisterung.
Alle Zimmer und vor allem die Küche waren ihr Atelier. Unseren Küchentisch bedeckte ein Wachstuch, auf dem sich Berge von Ton, Bastel- und Künstlermaterialien stapelten. Dieses Tuch wurde um die Mittagszeit eilig zurückgeschlagen, wenn es darum ging, die hungrigen Mäuler zu stopfen. Schnell und einfach sollte es gehen, denn mit Kochen und Haushalt hatte meine Mutter nicht viel am Hut. Also gab es Pfannkuchen, Spinat und Ei, Fischstäbchen oder Suppen – natürlich, denn mein Vater liebte Suppen über alles. Fleisch landete eher selten auf unseren Tellern. Unter der Woche waren wir Vegetarier aus Not, wie so viele Menschen in dieser Zeit.
Sonntags ging es dann hinauf in den ersten Stock zur Oma Fanny, die uns mit allerhand kulinarischen Köstlichkeiten verwöhnte. Oder aber die gesamte Familie pilgerte in den Hubertushof ans Ende der Straße, wo es zur Feier des Tages Hendl oder Schweinsbraten gab.
Nein, groß zu kochen, dafür hatte meine Mutter keine Zeit. Schließlich wartete unter dem Wachstuch der feuchte Ton, allzeit bereit zur Weiterverarbeitung – hatten wir doch jede Menge davon aus der alten Hafnerei meines Vaters.
Aber nicht nur am Küchentisch verwandelte meine Mutter alles in Kunst. Im Winter formte sie mit uns im Garten überlebensgroße Hunde, Katzen oder Hasen aus Schnee, so echt, als könnten sie gleich davonspringen. Gab es irgendwo ein Fest, wurde die obligatorische Flasche Wein mit Krepppapier als Puppe verkleidet, mit Köpfen aus Tennisbällen, Zwiebeln oder anderem Gemüse. Sie ähnelten den Beschenkten auf geradezu groteske Art und Weise, denn meine Mutter hatte eine erschreckend genaue Beobachtungsgabe. Niemals trug sie Schminkzeug bei sich, aber immer ein kleines Heftchen und einen Stift, mit dem sie alles einfing, was ihr in ihrem Alltag begegnete: Porträts von wartenden Menschen, Musiker in einem Konzert, Straßenszenen im Urlaub. Die Zeichnungen waren mal ausgefeilt bis ins kleinste Detail, dann wieder skizzenhaft, auf ein paar wenige Striche reduziert, und fingen dabei die Realität doch nicht minder treffend ein. Von dieser Fähigkeit meiner Mutter, die tiefer liegenden Charakterzüge zu erkennen, das Innere nach außen zu tragen, habe ich für mich und meine Schauspielerei vieles mitnehmen können. Wenn ich mich heute auf eine Rolle vorbereite, beobachte ich genau wie sie die Menschen um mich herum und versuche so zu entdecken, was unter der Oberfläche verborgen liegt.
Auch mit dem Pinsel verstand es meine Mutter, kleine Meisterwerke zu zaubern. Fast alle Wände in unserem Haus waren mit ihren Bildern in Öl oder Aquarell dekoriert. In meinem Zimmer bemalte sie die enge Nische, in der ich schlief, mit rosa Blütenzweigen, auf denen kleine, bunte Vögel saßen und mir ein Gutenachtlied zwitscherten. So glitt ich jeden Abend in den Schlaf und träumte unter einem Rosenstrauch.
Mit dem Malen und Zeichnen hatte ich es allerdings nicht so – ganz im Gegensatz zu meinem Bruder Karl. Er war von klein auf ein leidenschaftlicher und begabter Maler, der mit Begeisterung und Aquarellfarben wahre Kunstwerke schuf. Eines seiner Landschaftsbilder hängt noch immer in meiner Wohnung. Mein großer Bruder Hans dagegen saß nicht oft mit uns am Basteltisch. Er liebte die Technik und baute stattdessen mit unserem Onkel, einem Physiker, eigenhändig ein Morsegerät und sein Zimmer wurde mehr und mehr zu einer Funkstation.
Und doch gab es trotz des großen Altersunterschieds auch Dinge, die wir gemeinsam machten. Zum Beispiel anlässlich der 800-Jahr-Feier Münchens 1958. Ich war gerade sechs Jahre alt. In einem Wettbewerb sollten Sehenswürdigkeiten der Stadt künstlerisch dargestellt werden. Während Karl, inzwischen elf Jahre alt, aus Pappmaschee das Gelände des Nymphenburger Parks modellierte, baute der fünfzehnjährige Hans die Pagodenburg mit all ihrem Detailreichtum aus Karton nach. Ich formte für den gläsernen See kleine Schlittschuhläufer aus Plastilin. Die Balkone bogen wir aus Draht, Bäume waren kleine Zweige, und am Ende wurde alles mit Mehl bestäubt und in eine Winterlandschaft verwandelt. Der Lohn für unsere Arbeit war der Erste Platz. Unser Modell wurde im Stadtmuseum ausgestellt, wir bekamen ein Buch über München, eine Stadtrundfahrt und waren mächtig stolz.
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