Höllenjahre Höllenjahre - eBook-Ausgabe
Die Briefe meines Onkels aus dem Krieg. 1939–1945
„Seine Briefe waren nicht für die Öffentlichkeit geschrieben. In gewisser Weise haben sie eine schonungslose Authentizität: Der Krieg aus den Augen eines jungen Mannes, der zum Täter wurde, ohne die Tat zu erfassen, der er schließlich selber zum Opfer fiel. Das macht das Buch zu einem Anti-Kriegsbuch.“ - SWR2 „lesenswert Kritik“
Höllenjahre — Inhalt
„Es ist wirklich kein Grund zur Beunruhigung da.“
Der Zweite Weltkrieg hat unzählige Menschenleben gekostet und in vielen Familien große Lücken hinterlassen. Evi Simeoni spürt die Ohnmacht, die der Tod ihres Onkels Heinz Meyer in der Familie ausgelöst hat, bis heute. Mit 18 Jahren wurde Heinz von der Schulbank weg zum Wehrdienst eingezogen und fünfeinhalb Jahre später, kurz vor Kriegsende, von einem Scharfschützen getötet.
Simeoni setzt seine in großer Zahl erhaltenen Briefe in den Zeitkontext und verwebt seine Worte mit ihren Recherchen zur eigenen Familiengeschichte. Ein wichtiger Beitrag zur Aufarbeitung der deutschen Geschichte.
Leseprobe zu „Höllenjahre“
Vorbemerkung
Was man als Leser wissen muss: Als Schwabe benutzte Heinz Meyer manchmal mundartliche Wendungen und Grammatik: „Wirklich“ bedeutet da oft „derzeit“. „Als“ kann auch „hin und wieder“ bedeuten, dafür wird „wie“ manchmal im Komparativ anstelle von „als“ verwendet. „Arg“ muss wie „schlimm“ oder als Verstärkung wie „sehr“ verstanden werden. „Erst“ kann im Sinn von „neulich“ verwendet sein. Schokolade, Butter, Grammofon und Radio sind männlich: „Der Schoklad“, „der Butter“, „der Grammofon“, „der Kofferradio“. Teller sächlich: „das Teller“. [...]
Vorbemerkung
Was man als Leser wissen muss: Als Schwabe benutzte Heinz Meyer manchmal mundartliche Wendungen und Grammatik: „Wirklich“ bedeutet da oft „derzeit“. „Als“ kann auch „hin und wieder“ bedeuten, dafür wird „wie“ manchmal im Komparativ anstelle von „als“ verwendet. „Arg“ muss wie „schlimm“ oder als Verstärkung wie „sehr“ verstanden werden. „Erst“ kann im Sinn von „neulich“ verwendet sein. Schokolade, Butter, Grammofon und Radio sind männlich: „Der Schoklad“, „der Butter“, „der Grammofon“, „der Kofferradio“. Teller sächlich: „das Teller“. „Gesälz“ ist „Marmelade“. „Das Sach“ sind natürlich „die Sachen“, „das Geschäft“ kann auch „Arbeit“ oder „Arbeitsplatz“ meinen. „Scheints“ steht für „anscheinend“. „Springen“ kann auch Synonym für „laufen“ sein. Mit „Ochsenauge“ ist ein „Spiegelei“ gemeint. „Gutsle“ sind „Plätzchen“, meistens Weihnachtsplätzchen, „Kittel“ wird auch für „Jackett“ gebraucht.
Ich habe es meistens dabei belassen. Ich habe lediglich die – im Übrigen sehr wenigen – Schreibfehler korrigiert und hie und da die Rechtschreibung modernisiert. Und die Briefe gekürzt, manche Stellen vorsichtig verdeutlicht und einige weggelassen. „Russland“ war zu jener Zeit in deutscher Diktion das Synonym für die ganze Sowjetunion, mit „Holland“ sind die ganzen Niederlande gemeint. Diese Ungenauigkeiten habe ich stehen lassen.
Über die Wut
Jahrzehntelang habe ich gerätselt, was meine Familie so wütend gemacht hat. Besonders in meiner Kindheit war diese Wut zu spüren. Ständig platzte jemandem der Kragen. Nur meiner Mutter nicht, die in kritischen Momenten in ein beinernes Schweigen verfiel, was die Ausbrüche der anderen noch anstachelte. So, als ließe sie uns stellvertretend für sich selbst aus der Haut fahren.
Was sich bis heute zeigt: Die unheimliche Wut hat den Verhältnissen untereinander nicht gutgetan. Mit den Jahren wurde sie stiller, blieb aber allgegenwärtig. Sie wartet geduldig im Hintergrund auf Stichworte, um sich wieder zu erkennen zu geben. Jedes Mal kostet es enorme Kraft, sie zu beherrschen.
Es vergingen viele Jahre bis zu dem Tag, als ich plötzlich einem der Hauptgründe dieser Wut auf die Spur kam: Das ist der Tod meines Onkels Heinz, des Bruders meiner Mutter, der im Zweiten Weltkrieg Soldat war und im Alter von 23 Jahren und fast neun Monaten sterben musste. „Er wurde uns weggeschossen“, sagte meine Mutter immer. Ich habe ihn also nicht kennengelernt. Er wurde mit 18 Jahren zum Wehrdienst eingezogen, von der Schulbank weg, wie es in der Familie immer hieß, und fünfeinhalb Jahre später kurz vor Kriegsende in Schlesien von einem Scharfschützen getötet.
Die Lektüre seiner vielen Briefe aus dem Feld, in deren Besitz ich erst im Jahr 2020 gelangte, empfand ich wie eine Reise in mein eigenes Inneres, in deren Verlauf die Gegenwart langsam verschwamm. Zumal keine der Personen, die darin erwähnt werden, noch lebt. Ich begriff, dass Heinz Meyer einst das Licht und die Hoffnung seiner Familie gewesen und sein Verlust furchtbar war. Nun verstand ich besser, was meine Mutter – Elfriede – kurz vor ihrem Tod im Jahr 2012 aufgeschrieben hatte:
„Tatsache ist, dass im Alter die Kriegserlebnisse wieder hochkommen und die Wut über die Sinnlosigkeit der Opfer von Jahr zu Jahr immer stärker in dir hochkocht.“
Der Schmerz über den Verlust des Bruders war so groß und beharrlich, dass er für den Rest des Lebens betäubt werden musste. Ihre Wut war nur still, aber nie weg. Sie übertrug sich auf die nächste Generation, ohne dass diesen Wütenden die Ursache ihrer Wut bewusst geworden wäre.
Ich weiß, dass wir nicht die Einzigen sind. Die Wut, dieses Kind der Ohnmacht, ist das Erbteil, das die Generation der Jugendlichen, die in den Krieg hineinwuchsen, ihren Kindern hinterlassen hat. Und womöglich, in mutierter Form, auch ihren Kindeskindern.
Heinz Meyer rückte im September 1939 ein. Die Briefsammlung beginnt erst im November, nachdem er die Kaserne von Zuffenhausen in seiner Heimatstadt Stuttgart hatte verlassen müssen und seine Ausbildung in Ostmähren weiterging.
Kroměříž (deutsch: Kremsier), heute Tschechien
Kremsier, den 10.XI.1939
Liebe Eltern und Geschwister!
Nun sind wir schon einen Nachmittag in unserer neuen Kaserne. Heute Morgen um 6 Uhr sind wir in Kremsier angekommen. Unsere Kaserne ist sehr geräumig, sie ist ungefähr so angelegt wie die Rotebühlkaserne in Stuttgart. Also in der Mitte ein großer Hof. Wir bekamen ungeheure Spinde. Die ganze Kaserne wurde, bevor wir sie bezogen haben, erst einmal entwanzt, so hoffen wir, dass wir keinen nächtlichen Besuch bekommen. Kremsier ist ein Städtchen mit circa 20 000 Einwohnern, darunter ziemlich viele Juden. Die Bevölkerung ist uns natürlich nicht besonders wohlgesinnt, aber irgendetwas zu unternehmen hüten sie sich natürlich.
Den Transport habe ich gut überstanden, und es ist mir jetzt wieder ganz gut. Wir hatten ungefähr bis Linz schönes Wetter, dann wurde es aber regnerisch, und so ist es bis jetzt geblieben. Die Strecke von Rosenheim bis Linz war wunderschön. In Wien hatten wir etwas Aufenthalt, konnten aber die Stadt nicht ansehen. Man sieht halt ein großes Häusermeer. Die Donau sah ich auch mit einigen Dampfern darauf, sie ist aber nicht besonders breit. Unser Korporal Kopp, der auf Vorkommando war, hat uns die schönste Stube belegt. Wir haben jetzt 2 Stuben, die ineinandergehen für unsere Gruppe. Ihr seht also, es geht uns sehr erträglich. Was für Dienst wir haben, bin ich natürlich gespannt. Zu kaufen gibt es hier fast alles, und zwar spottbillig. Ein Brötchen kostet 2 Pfennig. Sie sind allerdings ein bisschen kleiner als deutsche. Jedes Stück Torte kostet 10 Pfennig. Kaffee, und zwar Bohnenkaffee, und Kuchen kostet 25 Pfennig. Zurzeit dürfen wir allerdings noch nicht aus der Kaserne.
Ich hoffe, dass es Euch allen gut geht, auch, dass es Beate besser geht. Ich wäre Dir, lieber Vater, sehr dankbar, wenn Du mir nach einem deutsch-tschechischen Sprachführer sehen könntest. Wir waren alle ganz baff, dass wir es so gut getroffen hatte.
Ich grüße Euch alle herzlich, besonders Dich, liebe Mutti,
Euer Heinz
Meine genaue Anschrift:
Feldpost
über deutsche Dienstpost Böhmen-Mähren
An den Soldaten H. Meyer
3. Komp./Inf. Ers. Batl 238
Kremsier/Mähren
Postleitstelle Prag
So weit war der 18 Jahre alte Heinz noch nie von zu Hause fort gewesen, und er bemühte sich, seiner Familie die Reise anschaulich zu schildern. Die Stadt, in die er gekommen war, hieß bis 1939 und heißt heute Kroměříž. Im März 1939 kam der Ort durch die Gründung des Protektorats Böhmen und Mähren unter deutsche Herrschaft. Die bestehende Kaserne wurde fortan für Infanterieeinheiten der Wehrmacht genutzt. Heinz’ Einschätzung, dass es viele Juden gäbe, traf nicht zu. Nur etwa zwei Prozent der damaligen Bevölkerung bekannten sich zum jüdischen Glauben. Vielleicht führte ihn der Anblick der prächtigen Synagoge in die Irre, die 1939 noch im Stadtzentrum stand. 1942 wurde sie auf Befehl der deutschen Besatzer abgerissen. Drei Jahre nach Heinz’ Dienstzeit in Mähren wurden fast alle Juden dieser Stadt deportiert. Ein Gedenkstein erinnert heute daran, dass fast 300 Juden aus Kroměříž von den Nazis ermordet wurden.
Kremsier, den 16.XI.1939
Liebe Eltern!
Nun sind wir schon bald eine Woche an unserem neuen Standort. Was wohl die Tschechen am meisten von uns unterscheidet, ist ihr Dreck; das fällt einem fast überall auf. Die Leute in den Geschäften sprechen meist etwas Deutsch. So recht eingelebt habe ich mich eigentlich noch nicht, aber das wird wohl bald kommen. Wir haben jetzt schon um 17 Uhr Befehlsausgabe und erst um 22 Uhr Zapfenstreich. Manchmal gehe ich ins Café, aber das läuft doch zu sehr ins Geld, weil ich da gleich unheimlich esse. Wenn ich als mal genug habe, dann denke ich, wie schön es daheim ist, und dann habe ich wieder eine gute Stimmung.
Mir geht es gut. Wir hatten in unserer Stube kein elektrisches Licht, da haben wir uns ein Stehlämpchen gekauft. Da sitzen wir abends gemütlich um den Tisch herum und schreiben. Beinahe jeder hat eine Flasche Pilsner Bier neben sich, denn komischerweise leiden wir immer an Durst. Heute war es schon ziemlich kalt, Schnee hat es jedoch keinen. Unser Ofen ist manchmal schon zum Glühen gekommen. Darüber hängen meine Socken, die sind jetzt schon 4 Tage nicht getrocknet. Ihr seht also, es geht ziemlich idyllisch zu bei uns. Ich bin nur gespannt, wann ich die erste Post bekomme. Es wäre mir recht, wenn Ihr mir meine Frisierhaube schicken würdet.
Liebe Mutter, Du brauchst Dich nicht zu sorgen, was meine Sicherheit anbetrifft. Wir gehen immer miteinander zu zweit aus, und da würden es die Tschechen nie wagen, einen anzugreifen. Wenn man zu ihnen freundlich ist, behandeln sie einen höflich und zuvorkommend.
Herzliche Grüße und viele Küsse sendet Euch
Heinz
Gruß an Mitzi.
Johannes Heinrich, genannt Heinz Meyer, wurde am 27. Mai 1921 in Ulm geboren. Er war das zweite von sechs Kindern des Beamten Heinrich Meyer (geboren 1891 in Leutkirch) und seiner Frau Magda Auguste (geboren 1892 in Heilbronn). Die Mutter war mit einer Körperbehinderung auf die Welt gekommen – aufgrund einer Hüftluxation war ein Bein deutlich kürzer als das andere. Eine solche Fehlbildung kann heute wirksam behandelt werden, damals blieb sie ihr lebenslanges Schicksal. Sie musste einen dicken orthopädischen Schuh tragen, konnte nur langsam gehen und litt unter allerhand schmerzhaften Folgeschäden. Sie war stolz, dass sich trotz ihres Hinkens ein Mann in sie verliebt hatte.
Auch die Erstgeborene und Schönste, geboren 1919, hieß Magda. Von den Eltern wurde sie mit dem vielsagenden Kosenamen „die Einzige“ gerufen, die fünf Geschwister nannten sie auch „Nanna“. Das blonde Mädchen mit den dicken Zöpfen war so hübsch, dass sie mit 18 Jahren als Maienkönigin auf einem Wagen durch Stuttgart-Degerloch gefahren wurde. Sie war bei den jungen Männern sehr beliebt und zu Kriegsbeginn verlobt mit dem nach Einschätzung meiner Mutter fantastisch aussehenden Günter, der blaue Augen und schwarzes Haar gehabt haben soll.
Auch in späteren Jahren hatte Magda eine ganz besondere Anziehungskraft. Sie war die Lieblingstante von uns Kindern. In meiner Kindheitserinnerung sehe ich sie in ein sanftes Licht getaucht, wie in Sonnenlicht, das durch Karamell scheint. Sie war sehr elegant gekleidet und roch fantastisch. Wir Kinder fassten sie gerne an und liebten es, von ihr umarmt zu werden.
Magdas Jugend-Verlobter Günter war Landwirtschaftsstudent an der Universität Hohenheim und Gebirgsjäger. Der Plan war, dass er nach seiner Ausbildung zum Landwirt im Warthegau, einem vom Deutschen Reich völkerrechtswidrig annektierten Gebiet in Polen, zusammen mit Magda ein Gut übernehmen sollte. Magda absolvierte dafür – wie ihre Schwester Elfriede aus vageren Gründen – ihr Pflichtjahr auf einem Bauernhof. (Dabei handelte es sich um einen für junge Frauen bis 25 Jahren verbindlichen Arbeitseinsatz, bei dem sie Haushaltsführung lernen sollten.) Ursprünglich wollte Günter seine zweijährige Wehrpflicht bei den Gebirgsjägern im Herbst 1939 beenden. Doch weil Krieg war, blieb er bei der Wehrmacht. Er wollte – und musste wohl auch – gegenüber dem Vaterland seine „Pflicht“ tun und wurde zunächst Ausbilder in Füssen.
Die Geburten der Kinder Nummer drei, vier, fünf und sechs hatte die Mutter wie unvermeidliche Opfer hingenommen. Sie sagte offen, dass zwei, also Magda und Heinz, ihr genügt hätten. Den Rest titulierte sie mit dem Begriff „Grambelware“, ein vergessenes Wort.
Die Jüngeren gingen zur Zeit, als der Zweite Weltkrieg begann, noch zur Schule. Elfriede („Elle“, das „Rosenäpfelchen“) war das dritte Kind, geboren 1923. Sie besuchte das Mörike-Gymnasium, genannt evangelisches Töchterinstitut, auf dessen Schwesterschule, das Heidehof-Gymnasium, ich eine Generation später geschickt wurde. Christa („Edda“), geboren 1925, und Beate (»Beatle, „Bea“), geboren 1928, waren zu jener Zeit ebenfalls Schülerinnen. Nachzügler Sieghard („Sigi“, „Siegerle“), geboren 1933 im Jahr von Adolf Hitlers Machtergreifung, war noch nicht eingeschult. Ihre Rollen in der Familie – nach der „Einzigen“ und dem „Herzensbub“ – waren unterschiedlich: Elfriede war unter den Kindern die Patente, Ideenreiche, Christa die Gutherzige, Verträumte, Beate die Exzentrische, Willensstarke – und Siegerle war zu jener Zeit wohl einfach nur süß, ein Fan seines Bruders und Anbeter seiner Schwestern.
Weil die Mutter körperlich nicht belastbar war, gehörte zum Haushalt ein „Mädchen“, eine Hilfe, die immer wieder wechselte. Stets stammten die „Mädchen“ aus Familien, die dem Vater aus frommen evangelischen Kreisen bekannt waren. 1939 war es Mitzi.
Bruder Heinz war der Liebling aller, ein kluger, lustiger und seelenvoller junger Mann, entgegen der allgemeinen Familien-Physis groß gewachsen und sportlich. Sein helles, welliges Haar, das er von seiner Mutter geerbt hatte, bändigte er mit einer Frisierhaube, die er nachts trug.
Kremsier, den 20.XI.1939
Liebe Eltern!
Herzlichen Dank für Eure lieben Briefe, die beide miteinander eintrafen. Ich habe sehnlichst auf den ersten Gruß von daheim gewartet.
Am Sonntag war ich im Kino, da wurde ein deutscher Film gegeben, Mit versiegelter Order. Der Balkonplatz kostete 5 Kronen 20, das sind 52 Pfennig. Zuvor war ich mit einem Kameraden im Kawana (Kaffeehaus). Dort aß ich mich für 90 Pfennig satt an süßen Sachen. So kann man billig leben, obwohl man dafür auch wieder mehr isst. Du schreibst in Deinem Brief, liebe Mutti, was Du mir schicken könntest. Ich könnte sehr nötig ein paar Marschriemen gebrauchen.[1] Die kauft man am besten in einem Schuhgeschäft, das Rohrstiefel führt. Wenn Du mir als mal ein Päckchen schicken willst, freut mich das sehr, Du kannst etwas Obst reintun und etwas Zigaretten, denn das hiesige Kraut kann man nicht rauchen. Weißt Du, wenn Du mir auch etwas schickst, was ich hier kaufen könnte, so ist das von daheim, und das ist das Schöne. Liebe Mutti, das liebe Briefchen in der Essschachtel ist mir in Zuffenhausen mitten im Packen in die Hände geraten, da war es mir nochmals ein lieber Abschiedsgruß von daheim, denn es zeigte mir, wie Ihr immer an mich denkt und im Geiste bei mir seid. Und das ist ein wunderbares Gefühl.
Die letzte Woche machten wir einen 30-km-Marsch in die Umgebung. Da sahen wir allerhand. Die Landschaft ist dort sehr anmutig. Sie ist sehr hügelig, ähnlich wie auf der Schwäbischen Alb, in den Dörfern findet man noch strohgedeckte Häuser. Dann sind die Leute teilweise ganz ostisch angezogen mit Fellmützen und Überhängen. Die Frauen haben die Kinder in einem Tuch auf den Rücken gebunden. Wir haben in so einem Dorf einen einzigen alten Deutschen getroffen, der allein unter den Tschechen wohnt. Die meisten jungen Mädchen ergriffen die Flucht, wenn sie uns sahen; die Bevölkerung ist da sehr scheu. Die Straßen sind alle ungepflastert, also fehlt es nicht an Dreck. Aber nun für heute genug. Besondere Grüße und Küsse für Sigi für seinen Kartengruß.
Herzlich grüßt Euch und alle Geschwister
Euer Heinz
Kremsier, den 23.XI.1939
Liebe Magda!
Heute Abend habe ich Deinen Brief erhalten. Schon den ganzen Tag hoffte ich, dass ich abends Post bekäme, so freue ich mich heute doppelt. Weißt Du, Du solltest sehen, wie jeder auf Post wartet, denn das ist bald die einzige Abwechslung, die wir hier haben.
Liebe Magda! Du kannst Dir denken, dass wir ebenso in einer Spannung lebten wie Ihr, wann es jetzt fortging. Plötzlich hieß es eines Tages, es war am 6. November, ab 12 Uhr darf niemand mehr die Kaserne verlassen, und es darf auch nicht mehr telefoniert werden. Deshalb konnte ich damals auch Mutti nicht mehr anrufen, wie es mir gehe.
Am ersten Samstag schon bekamen wir Ausgang. Ich ging mit einigen Freunden in ein Kaffeehaus, und da aß ich so viel Kuchen und Torte, wie ich nur hinunterbrachte, dazu 2 Kaffee. Nachher machte die ganze Rechnung nur 1,25 RM, das ist doch sehr billig. Schokolade können wir immer eine Tafel kaufen. Es ist eben so, dass sich die Leute nicht auskaufen lassen. Es besteht da ein Gesetz, dass die Ladeninhaber im Jahre 1939 nicht mehr verkaufen dürfen wie im Jahr 1937, deshalb sind die Kaufleute vorsichtig, dass sie nachher auch noch was zu verkaufen haben. Für Seifen braucht man eigentlich Karten, wir bekommen sie aber in manchen Läden auch so. Man muss immer höflich und schneidig auftreten, dann geht es am besten. Erst hab ich mir auch ein Kilo Birnen gekauft zu 50 Pfennig. Am letzten Sonntagvormittag habe ich gewaschen. Es ist ganz gut gegangen, mein Drillich wurde schön weiß, ich war direkt erstaunt.
Du schreibst, bei Euch sei es jetzt richtig herbstlich, das ist bei uns allerdings auch der Fall. Seit ein paar Tagen weht ein eisiger Wind, und heute Nacht ist alles zusammengefroren; Schnee hat es jedoch keinen. Wir litten alle an kalten Füßen, da habe ich die gewirkten Socken von Großvater[2] angezogen, da hatte ich warme Füße. In unserer Stube ist es herrlich warm, wir haben einen guten Ofen. Wie es eigentlich mit der politischen Lage aussieht, davon wissen wir hier fast nichts. Wir hörten, dass die Attentäter von München geschnappt seien und dass sich zwei Engländer darunter befänden. Das konnte man sich natürlich denken. Wir denken eher, dass es erst im Frühjahr losgeht, denn diese Witterung ist sehr ungünstig. Ich habe gestern Günter geschrieben, allerdings noch nach Sonthofen. Auch unsere Unteroffiziere und Gefreiten, die von der Front kamen, haben erzählt, wie fad es an der Westfront sei. Es ist eben ein Warten, und das ist immer nervenaufreibend. Aber wir leben jetzt in einer Zeit, die unseren ganzen Idealismus verlangt. Liebe Magda, es würde mich sehr freuen, wenn Du mir als eine Zeitschrift schicken würdest, denn da kommt ja immer das Neueste in Bildern, so könnte ich auch manches erfahren. Schreibt mir auch fleißig.
Es grüßt Euch alle herzlich
Heinz
Das Attentat von München, das Heinz erwähnte, wurde nicht von Engländern verübt, sondern von einem deutschen Einzeltäter: Am 8. November 1939 versuchte der württembergische Kunstschreiner Georg Elser mithilfe einer Zeitbombe im Münchner Bürgerbräukeller Adolf Hitler und andere führende Nationalsozialisten in die Luft zu sprengen. Er scheiterte nur knapp, weil Hitler und sein Führungsstab früher aufbrachen als geplant. Elser wollte durch die Beseitigung der NS-Führung den Weltkrieg stoppen, den er schon früh kommen sah.
Kremsier, den 24. Nov. 1939
Liebe Mutter!
Wir hatten heute Morgen von 7 bis ½ 3 Uhr einen 30 km Reisemarsch, dazwischen mit kleineren Gefechten. Du kannst Dir denken, dass wir alle sehr genug hatten, und so freute ich mich heute doppelt, dass Post von daheim kam; ich danke Dir herzlich dafür. Von der Landschaft sahen wir wieder viel Schönes. Wenn man in Kremsier ist, würde man nie glauben, dass 15 Kilometer weg ein Hügelland ist, mit anmutig liegenden Dörfern und Wäldern. Wie wir ausmarschierten, zogen die Bauern zum Markt nach Kremsier. Bauersfrauen hatten Gretten[3] auf dem Rücken, da schnatterten Gänse heraus, andere trugen Hennen auf dem Arm, so war es ein bewegtes Bild, an dem wir unseren Spaß hatten.
Nun will ich Dir aber einige Fragen aus Deinem lieben langen Brief beantworten. Wie ich ihn herausnahm, sah ich zuerst nach, wie groß er war, da freute ich mich schon, dass ich so lange zu lesen hatte. Unsere Verpflegung ist ordentlich. Brot gibt es immer genügend, sodass man sich im Notfalle etwas dazu kaufen kann. Allerdings bin ich beim Kommiss[4] zum Vielfraß geworden. Der Dienst ist eher strenger wie in Zuffenhausen, doch macht mir das keine Schwierigkeiten. Wenn man sein Sach in Ordnung hält, braucht man nicht aufzufallen. Mit meiner Löhnung komme ich gut aus, ich habe ja auch noch 20 RM[5] Rücklage, sodass ich in einem Ausnahmefall gedeckt bin. Wenn Du denkst, dass man Gesälz schicken kann, wäre mir das sehr lieb. Recht wäre mir auch, wenn Ihr mir ein Stück Klorolle schicken würdet.
Eine evangelische Kirche gibt es meines Wissens hier nicht. Für heute muss ich schließen, weil es ¾ 10 Uhr ist.
Es grüßt Dich und die Lieben alle herzlich
Dein Heinzebub
Gruß an Mitzi.
[1] Mit Marschriemen wird verhindert, dass der Stiefel am Fuß scheuert und man sich Blasen läuft. Besonders notwendig bei den Knobelbechern, den deutschen Wehrmachtsstiefeln.
[2] Heinz’ Großvater Johann Jakob Meyer, mein Urgroßvater, war von Beruf Strumpfwirker.
[3] Schwäbisch für Körbe
[4] Militär
[5] Reichsmark
„Seine Briefe waren nicht für die Öffentlichkeit geschrieben. In gewisser Weise haben sie eine schonungslose Authentizität: Der Krieg aus den Augen eines jungen Mannes, der zum Täter wurde, ohne die Tat zu erfassen, der er schließlich selber zum Opfer fiel. Das macht das Buch zu einem Anti-Kriegsbuch.“
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