Ich muss los Ich muss los - eBook-Ausgabe
Roman
„Annette Pehnt schildert in ihrem Roman die emotionale Unbehaustheit ihres Helden so lakonisch wie eindringlich. In einer erfreulich schlichten Sprache zähmt sie die Gefühlswelt des ganz und gar nicht schlichten Gemüts ihres Helden. Ein Psychogramm ohne belehrenden Zeigefinger, das von der ersten bis zur letzten Seite mitreißt.“ - Frankfurter Rundschau
Ich muss los — Inhalt
Er beobachtet das Leben und versteht es nicht. Nicht das Glück, nicht den Tod, nicht die Liebe. Die Geschichte vom schweigsamen Stadtführer Dorst, der Wundersames über unscheinbare Orte erzählt, ist die Geschichte von einem, der vor der Welt davonläuft, um vielleicht irgendwann in ihr anzukommen.
Leseprobe zu „Ich muss los“
1.
Als Kind sagte Dorst die Wahrheit. Wenn die Mutter ihn fragte, schmeckt es, sagte er oft ja. Manchmal auch nein. Dann konnte es passieren, daß sich die Augen der Mutter mit Tränen füllten. Das tat Dorst leid, aber er konnte ja nichts dafür. Er sagte dann, tut mir leid, Mami.
Schlimmer war es, wenn Omi fragte, und hast du denn deine Omi lieb, Spätzchen. Omi hatte eine laute Stimme, jammerte über Wasser in den Beinen und küßte Dorst zum Abschied gern auf die Lippen. Nein, sagte Dorst, nicht so doll. Omi tat so, als hätte sie nicht verstanden, und legte [...]
1.
Als Kind sagte Dorst die Wahrheit. Wenn die Mutter ihn fragte, schmeckt es, sagte er oft ja. Manchmal auch nein. Dann konnte es passieren, daß sich die Augen der Mutter mit Tränen füllten. Das tat Dorst leid, aber er konnte ja nichts dafür. Er sagte dann, tut mir leid, Mami.
Schlimmer war es, wenn Omi fragte, und hast du denn deine Omi lieb, Spätzchen. Omi hatte eine laute Stimme, jammerte über Wasser in den Beinen und küßte Dorst zum Abschied gern auf die Lippen. Nein, sagte Dorst, nicht so doll. Omi tat so, als hätte sie nicht verstanden, und legte den Kopf schräg. Nein, sagte Dorst laut und deutlich. Omi ließ die Kaffeetasse auf den Tisch fallen und verbrühte sich. Sie rief nach der Mutter, und die Mutter sagte, sicher hat er dich lieb, Kinder können das nicht so ausdrücken. Gell, Schatz, du hast Omi lieb, und sie legte einen Arm um Dorst und führte ihn aus dem Wohnzimmer.
Als Peter in der Schule auf seiner Geige ein Stück vorspielte, fragte die Lehrerin die Kinder, hat er das nicht gut gemacht. Ja, sagte Dorst, aber er machte dabei immer so ein komisches Gesicht. Die anderen Kinder lachten. Peter lachte nicht. Dorst bekam eine Strafarbeit auf und einen Brief für die Mutter mit nach Hause. Darin stand, Ihr Kind ist taktlos und hat wenig Gefühl für andere. Bald merkte Dorst, daß niemand die Wahrheit mochte. Er beschloß, von nun an nicht mehr die Wahrheit zu sagen. Also schwieg er. Seitdem knackte sein Kiefergelenk beim Gähnen.
Später mit Elner versuchte er es noch einmal. Sie saßen zusammen unter ihrer Kamelhaardecke und tranken heißes Kräuterblut. Dorst öffnete und schloß den Mund vorsichtig, um das Knacken zu vermeiden, wie ein Fisch auf dem Trockenen. Ist dir zu heiß, fragte Elner und schlug die Kamelhaardecke zurück. Ich muß los, sagte Dorst. Elner wußte, daß seine Wohnung leer und die Arbeit getan war. Warum denn jetzt noch, sagte sie. Es wird Zeit, sagte Dorst. Er stellte seine Tasse auf einen Bücherstapel. Nicht auf die Bücher, sagte Elner. Er warf sie auf den Boden, nicht heftig, beinahe behutsam. Sie kreiselte hohl über das Parkett, ohne Schaden zu nehmen. Elner richtete sich auf, stellte beide Füße auf den Boden und schloß die Augen. Dann schrie sie. Was willst du eigentlich, schrie sie, du Arschgesicht. Dorst staunte. Ja, guck nur. Du glaubst wohl, du könntest nach Belieben kommen und gehen. Pension Elner, liebevolle Betreuung ohne Aufschlag, Frühstück bis zehn. Gib den Schlüssel her. Der Herr will frische Luft schnappen, und ich sitz dann allein da. Mitkommen darf man auch nicht. Rück sofort den Schlüssel raus. Dann haben wir wenigstens beide unsere Ruhe. Elner, sagte Dorst, hob die Tasse auf und stellte sie auf eine Armlehne. Jetzt bin ich dran, schrie Elner. Du findest das wohl interessant, so rätselhaft. Für mich ist es nur Scheiße, aber daran denkst du ja nicht mal im Traum. Du hast keine Ahnung, was ich träume, sagte Dorst. Es ist mir egal, schrie Elner. Gib den Schlüssel her. Ich könnte genausogut mit einem Kater zusammenleben. Was ich brauche, ist dir egal. Sie hatte jetzt beide Hände auf die Knie gelegt und zu Fäusten geballt.
Egal nicht, sagte Dorst und versuchte die Wahrheit zu sagen. Es ist einfach zu stickig, ich muß los. Stickig, schrie Elner, stickig. Dann hau ab und laß dir den Wind um deine Scheißnase blasen. Dorst ging in den Flur und sagte noch einmal, Elner. Er hörte nichts und ging.
Die Mutter, die fand, daß Dorst zuviel alleine war, schickte ihn oft zu Gregor. Manchmal wollte Gregor lieber mit anderen Jungen spielen. Aber er fragte Dorst immer, willst du mit. Wenn Dorst sich traute, schüttelte er den Kopf. Oft ging er allein weg. Er mußte nur lang genug warten, bevor er nach Hause zurückkam, damit die Mutter nicht fragte, habt ihr euch etwa gestritten. Lad doch Gregor auch mal ein.
Während er wartete, drehte Dorst eine Runde. Am Kiosk kaufte er sich drei Sauerstäbchen und zweimal Mäusespeck, die er bis zum Hallenbad unter der Zunge auflöste. Er schaute durch das Sichtfenster mit den aufgeklebten Riesenmöwen auf das Schwimmbecken und zählte die in Gummi verpackten Köpfe im Wasser. Das Wasser sah von außen schwarz aus. Dorst stellte sich vor, es wäre wirklich schwarz, und die Leute wären alle mit einem hauchdünnen schwarzen Film überzogen, wenn sie in die Umkleiden gingen. Der Bademeister war blaß und hatte einmal zu ihm gesagt, du mußt den Kopf richtig eintauchen. Sonst siehst du aus wie eine lahme Ente. Du bist ganz schön blaß, hatte Dorst gesagt. Komm mir bloß nicht dumm, hatte der Bademeister gesagt, ich merk mir dein Gesicht. Seitdem war Dorst nur noch ungern schwimmen gegangen. Der Bademeister tat immer so, als wüßte er nicht, wer Dorst sei, aber Dorst wußte, daß er nur auf eine gute Gelegenheit wartete. Hinter den Heizturbinen schaute Dorst rasch in den Müllcontainer, weil er darin einmal ein Kofferradio gefunden hatte, das noch ging. Er rannte mit geschlossenen Augen über die Hundewiese und wettete mit sich selbst, daß seine Schuhe hinterher nicht beschmiert wären. Meistens waren sie es, und er mußte sie dann mit einem Stöckchen sauberkratzen. Früher, als es auf der Hundewiese noch nicht so viele Hunde gab, hatte er dort mit Gregor Drachen steigen lassen, bis Gregors Stoffdrachen sich fast einmal in der Stromleitung verfing. Danach durften sie nicht mehr.
Er kratzte die Schuhe ab, vor allem die Rillen an den Sohlen, und zählte die Hundebesitzer. Die Doggenfrau war da und wurde von ihrem Tier so kräftig gezogen, daß sich ihr Kreuz durchbog. Die Dogge steuerte auf einen Windhund zu, der abgemagert im Gras herumschnüffelte. Die Pinschertante eilte auf die Doggenfrau zu. Den Pinscher mit einem gehäkelten Mäntelchen hatte sie unter dem Arm. Die Doggenfrau versuchte auszuweichen, aber die Dogge wollte zum Pinscher, der sich aufgeregt unter dem Griff der Pinschertante wand. Dorst ging weiter. Im Neubauviertel probierte er die Affenschaukel auf dem neuen Spielplatz aus, auf dem nie ein Kind spielte. Auch hier traf er oft die Pinschertante. Vielleicht gab es aber auch zwei Pinschertanten, oder noch mehr, und sie sahen alle gleich aus.
Die neue Tiefgarage hatte ein Seitentor, das manchmal angelehnt stand. Dorst ging hinein, stand im Halbdunkeln zwischen den stillen Autos und roch Öl. Er räusperte sich und sang mit sehr hoher Stimme eine Melodie. Dann zählte er die leeren Stellplätze und ging nach Hause. Habt ihr schön gespielt, fragte die Mutter. Ja, sagte er. Wenn du lügst, wackelt deine Nase, hatte die Mutter früher immer gesagt. Deswegen drehte er sich unauffällig zur Seite.
2.
Dorst putzt sich vor dem Spiegel die Zähne. Er fährt sich mit gewachsten Fäden in die Zwischenräume, kratzt das Weiße von der Zunge und bleckt das Gebiß zur Kontrolle. Dann fährt er in die Stadt. Die Straßenbahn füllt sich mit Gerüchen, und im Gang verkeilen sich Buggys. Jemand legt den Sportteil seiner Zeitung auf Dorsts Knie. Von hinten zupft ein Kleinkind. Die Bahn bremst ab, alle nicken mit den Köpfen. Dorst sieht trübe einen Kiosk, einen Kirchplatz, eine Fachbuchhandlung. Er beißt sich in die Knöchel.
Dorst fährt oft mit der Straßenbahn. Manchmal kauft er sich ein Tagesticket für alle Busse und Bahnen in der Stadt. Er packt eine Thermoskanne mit Zitronentee und zwei eingewickelte Schinkenbrötchen in seine Tasche und fährt alle Linien ab. Das dauert vom frühen Morgen bis zum späten Abend. Er sitzt nahe bei der Tür, die Hände gefaltet auf der Rückenlehne vor ihm, und hört der elektronischen Stimme zu, die nach jedem blechernen Gongschlag nüchtern die Haltestellen verkündet.
An der Haltestelle Stadtmitte steigt er aus. Dort steht ein Mann mit einer Krücke, der um jede Hand die Griffe von zwei prallen Einkaufstüten geschlungen hat. Das Plastik schneidet in sein Handgelenk. Weil die Taschen so schwer sind, kann er die Krücke nicht heben. Er blickt sich um. Entschuldigung, sagt er zu einem dünnen Mädchen. Es dreht sich weg und zündet sich eine Zigarette an. Seine Nasenflügel weiten sich, und einen Moment lang steht er da und saugt die Luft ein. Was haben Sie denn in all den Tüten, fragt Dorst. Der Mann zuckt zusammen und dreht sich zu Dorst um. Dorst sieht, daß sein linkes Auge flüssig wie Eiweiß ist und keine Pupille hat. H-Milch, sagt der Mann. H-Milch, fragt Dorst. Die war im Angebot, sagt der Mann. Ein Liter eins zehn. Ich guck immer alle Prospekte durch. Das macht viel aus. Ja, sagt Dorst. Der Mann blickt sich wieder um. Soll ich Ihnen was tragen, fragt Dorst. Das dünne Mädchen klemmt sich Haarsträhnen hinter die Ohren und bläst Rauch auf den Fahrplan am Wartehäuschen. Nein, sagt der Mann, es muß schon so gehen. Seine Hände sind blutleer. Das wäre ja noch schöner. Er bewegt sich nicht von der Stelle.
Dorst geht durch die Innenstadt, an zwei Straßenmusikanten vorbei, die wild die Köpfe schwenken und mit den Füßen stampfen. Der Junge biegt sich um seine Gitarre, das Mädchen hat eine gelbe Geige unterm Kinn. Ihre Haare sind zu kleinen, festen Rollen gedreht, die sich wie Schwänze in die Luft sträuben. Sie wippen im Takt. Dorst wippt auch. Oft setzt er sich beim Gehen selbst einen Takt und pfeift leise dazu. Im Takt der Geigentöne und des schepprigen Gitarrenschlags bewegt er sich durch die Fußgängerzone.
Elner liebte das Sitzen. Sie konnte es stundenlang, verlagerte nur gelegentlich den Schwerpunkt, indem sie die Beine unter den Leib zog oder die Füße hochlegte. Sie hatte um das Sofa und die alten Sessel alles Nötige so angeordnet, daß sie nur die Hand danach auszustrecken brauchte. Nicht daß sie träge war; wenn sie Dinge erledigen wollte oder wandern ging oder kochte oder durch die Stadt eilte, war sie behende und hatte einen beherzten Schritt. Sagte Dorst. Du hast so einen beherzten Schritt, sagte er zu ihr, wenn sie nebeneinander liefen. Da sie ihre Zehen beim Laufen nicht einrollte wie er, konnte sie mit der ganzen Fußsohle auftreten und sich mit den Zehenspitzen abstoßen.
Aber wenn sie saß, dann saß sie, unverrückbar und behaglich. Dorst mußte irgendwann los und versuchte sie aufzuscheuchen. Du missionierst wieder, sagte sie. Im Namen der Beweglichkeit. Besser als im Namen von sonstwem, sagte er. Komm doch mal zur Ruhe, sagte sie, du brauchst einen ruhenden Pol. Ich muß los, sagte er nur.
„Annette Pehnt schildert in ihrem Roman die emotionale Unbehaustheit ihres Helden so lakonisch wie eindringlich. In einer erfreulich schlichten Sprache zähmt sie die Gefühlswelt des ganz und gar nicht schlichten Gemüts ihres Helden. Ein Psychogramm ohne belehrenden Zeigefinger, das von der ersten bis zur letzten Seite mitreißt.“
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