Im Angesicht der Schuld — Inhalt
Für Helen bricht eine Welt zusammen, als eines Abends die Polizei vor ihrer Tür steht: Ihr Mann Gregor, ein angesehener Anwalt für Familienrecht, ist vom Balkon seiner Kanzlei in die Tiefe gestürzt. Die Ermittler gehen von Selbstmord aus, doch Helen kann das nicht glauben. Sie beginnt im Nachlass ihres Mannes nach Spuren zu suchen – und stößt auf ein verstörendes Geheimnis. Immer tiefer dringt sie vor in ein Dickicht aus schuldhaften Verstrickungen und falsch verstandener Loyalität.
Leseprobe zu „Im Angesicht der Schuld“
Der Anker lag in meiner geöffneten Hand. Winzige, in Gold gefasste Brillanten glitzerten um die Wette und trieben mir Tränen in die Augen. Mein Blick wanderte von dem kleinen Schmuckstück, das an einer Halskette hing, zu meinem Mann.
„Herzlichen Glückwunsch zum Sechsunddreißigsten “, sagte Gregor und küsste mich.
Ich legte die Kette, die ebenso stabil war wie der Karabinerhaken, der sie umschloss, um meinen Hals. Für einen Moment schloss ich die Augen und spürte den Anker auf meiner Haut. Er war ein Symbol für den Halt, den Gregor mir in der schwierigen [...]
Der Anker lag in meiner geöffneten Hand. Winzige, in Gold gefasste Brillanten glitzerten um die Wette und trieben mir Tränen in die Augen. Mein Blick wanderte von dem kleinen Schmuckstück, das an einer Halskette hing, zu meinem Mann.
„Herzlichen Glückwunsch zum Sechsunddreißigsten “, sagte Gregor und küsste mich.
Ich legte die Kette, die ebenso stabil war wie der Karabinerhaken, der sie umschloss, um meinen Hals. Für einen Moment schloss ich die Augen und spürte den Anker auf meiner Haut. Er war ein Symbol für den Halt, den Gregor mir in der schwierigen Phase, die hinter mir lag, gegeben hatte und den er mir immer wieder geben würde.
„Wenn jetzt eine Fee käme und ich einen Wunsch frei hätte, würde ich mir wünschen, steinalt mit dir zu werden “, sagte ich. „Danke für dieses besondere Geschenk. Ich werde gut darauf aufpassen!“
„Ich weiß.“
„Weißt du auch, dass ich dich liebe?“
„Vom ersten Tag an.“
„Unverbesserlicher Träumer!“
„Ich träume nicht, ich rede von unumstößlichen Tatsachen!“
„Tatsache ist“, dozierte ich mit einem überlegenen Lächeln, „dass kein Mensch einen anderen vom ersten Tag an liebt. Liebe ist nichts Statisches, sie wächst.“
„Vom ersten Tag an, sage ich doch. Und dann jeden Tag ein Stückchen mehr. Gib zu, dass du mich heute weit mehr liebst als an unserem ersten Tag!“
Ich lachte. „Zugegeben …“
Gregor küsste mich mit einer Leidenschaft, die mich atemlos einen Schritt zurücktreten ließ.
„In einer halben Stunde erwarten Annette und Joost uns in der Brücke.“
„Sollen sie warten …“
„Außerdem kommt Nelli jeden Moment zum Babysitten.“
„Sie ist zweiundzwanzig und hat zweifellos längst eine Ahnung davon, was es heißt, von purer Lust übermannt zu werden.“ Gregors Fingerspitzen strichen seitlich an meinem Körper entlang.
„Wie schön, dass du so denkst.Wenn Jana erst einmal zweiundzwanzig ist …“
„Jana ist meine Tochter, für sie gelten andere Gesetze! “ Er umfasste meinen Nacken und zog mich zu sich heran. Zwischen unseren Körpern hatte nicht einmal mehr ein Millimeter Platz. Betörend langsam glitten seine Hände unter meine Bluse.
Das durchdringende Geräusch der Klingel riss uns unsanft aus unseren Fantasien, die uns vorausgeeilt waren. Benommen lösten wir uns voneinander. Meine Enttäuschung spiegelte sich in Gregors Gesicht wider.
„Warum muss Nelli nur immer so schrecklich pünktlich sein?“, fragte er.
„Weil du ihr, bevor wir sie eingestellt haben, unmissverständlich klargemacht hast, dass Pünktlichkeit eine der Voraussetzungen ist, um bei uns eine Dauerstellung zu bekommen.“
„Seit wann hält Nelli sich an das, was ich sage?“
„Gute Frage.“ Mit einem Lachen lief ich zur Tür und öffnete unserem Hausfaktotum.
„Hi.“ Der Blick, den Kornelia Karstensen, genannt Nelli, mir zuwarf, bedurfte eigentlich keiner Kommentierung, aber sie ging gerne auf Nummer Sicher. „Störe ich?“ Ihr anzüglicher Tonfall hätte zweifellos die meisten Arbeitgeber dazu bewogen, eine fristlose Kündigung in Betracht zu ziehen. Gregor und mir dagegen gefiel ihre unverblümte Art.
„Und wenn?“, fragte ich.
„Dann liegt das ausschließlich an Ihrem miserablen Timing, Frau Gaspary. Meines ist wie immer perfekt.“
„Solltest du dich eines Tages wider Erwarten dazu durchringen, einem anspruchsvolleren Job nachzugehen, schlage ich vor, du versuchst es mal als Selbstbewusstseinstrainerin. Ich bin sicher, darin wärst du spitzenmäßig.“
„Ich bin auch als Putzfrau und Babysitterin spitzenmäßig.“
„Spitzenmäßig unterfordert“, erwiderte ich trocken und griff damit unsere Diskussion über Nellis anscheinend nicht existenten Ehrgeiz auf, was ihre Berufsausbildung betraf.
Kurz nach Janas Geburt hatte sie angefangen, dreimal in der Woche unser Haus zu putzen, den Garten zu pflegen und die Wäsche zu bügeln. Darüber hinaus passte sie auf Jana auf, wenn Gregor und ich ausgingen oder ich einen beruflichen Termin hatte. Ihre restliche Zeit verteilte sie auf zwei weitere Haushalte. Eigentlich ging es mich nichts an, was sie aus ihrem Leben machte, aber so sehr ich mich auch bemühte, ich konnte nicht kommentarlos dabei zusehen, wie eine intelligente junge Frau ihr Potenzial nicht ausschöpfte. Es täte mir sehr Leid, eines hoffentlich nicht allzu fernen Tages auf sie verzichten zu müssen, aber ich würde alles daransetzen, dass sie eine Ausbildung machte. Noch verweigerte Nelli sich beharrlich, wenn ich das Thema anschnitt, aber wir wussten beide, dass ich nicht locker lassen würde.
„Warum können Sie sich nicht darauf beschränken, mich hübsch zu finden, wie alle anderen auch?“ Den genervten Unterton schien sie speziell für dieses Thema reserviert zu haben.
O ja, sie war nicht nur hübsch, sie war eine Augenweide mit einem Gesicht, das an die junge Romy Schneider erinnerte. Außerdem hatte sie die schönsten Haare, die ich jemals gesehen hatte. Sie waren von einem satten Braun und glänzten, als sei jedes einzelne handpoliert. Ungebändigt reichten sie ihr bis weit über die Schultern. Ich holte tief Luft. „Weil nette Komplimente deinem Geist keine Nahrung geben!“
„Erstens geht es bei meinem Aussehen nicht um nette Komplimente, sondern um Tatsachen. Und außerdem: Wer sagt, dass mein Geist Hunger hat?“
„Helen sagt das“, ertönte hinter mir Gregors Stimme. „Und sie hat Recht. Guten Abend, Nelli.“
Sie erwiderte seinen Gruß mit einem knappen Nicken. „Wenn Sie mich loswerden wollen, brauchen Sie das nur zu sagen und sich nicht hinter so fadenscheinigen Argumenten zu verschanzen.“
Gregor schenkte ihr ein wissendes Lächeln. „Fragt sich nur, wer von uns dreien sich hinter etwas verschanzt.“
„Wissen Sie, was Ihr Problem ist?“, wetterte sie. „Sie haben beide eine ausgeprägte Akademiker-Macke, Jana kann einem jetzt schon Leid tun.Was, wenn sie eines Tages ihr Glück darin sehen sollte, Croupière im Spielcasino zu werden?“
„Dann werden wir dafür sorgen, dass sie die bestmögliche Ausbildung erhält“, sagte ich.
„Ach, darum geht es!“ Nelli hatte blitzschnell ihr Pokerface aufgesetzt. „Sie wollen, dass ich Ihnen schwarz auf weiß dokumentiere, dass ich das Putzen an den besten Schulen gelernt habe.“
„Wir wollen, dass du etwas aus dir machst“, sagte Gregor.
„Nur weil Sie beide unerträgliche Snobs sind, soll ich mein Leben ändern?“ Sie blies verächtlich Luft durch die Nase.
„Es ist uns schnurzpiepegal, warum du es änderst, Hauptsache, du tust es.“
„Schnurzpiepegal …“ Nelli schien jede einzelne Silbe zu genießen. „Ist das nicht übelste Umgangssprache? Ziemt sich so etwas für einen angesehenen Anwalt?“
„Du hast mich noch nicht erlebt, wenn ich die Gegenseite attackiere.“
„Ich dachte, ich wäre die Gegenseite.“ Sie drängelte sich zwischen uns hindurch und ließ im Flur geräuschvoll ihre Tasche fallen. „Haben Sie nicht gesagt, Sie seien um acht Uhr zum Essen verabredet? Jetzt ist es acht. Lernt man nicht im Rahmen der bestmöglichen Ausbildung, dass es unhöflich ist, zu spät zu kommen?“ Sie hatte meinen Tonfall täuschend echt nachgeahmt.
„Geburtstagskinder haben einen Bonus“, entgegnete ich.
„Sie haben heute Geburtstag?“
Ich nickte.
„Frau Gaspary …“ Ihrem ungehemmten Quietschen folgte eine Umarmung, an der ich fast erstickte.
„Wann nennst du mich endlich Helen?“, fragte ich, nachdem ich wieder zu Atem gekommen war.
„Wenn ich den Umgang mit Respektspersonen hinreichend studiert habe.“
„Du meinst, wenn du Respekt gelernt hast. Da das aller Voraussicht nach nie geschehen wird, kannst du mich auch gleich Helen nennen. Und er hier“, damit klopfte ich meinem Mann, der immer noch neben mir stand, sanft auf die Schulter, „heißt Gregor.“
„Ich werd’s mir überlegen. Und jetzt machen Sie beide sich bitte vom Acker, damit ich endlich in Ruhe fernsehen kann. Ich gehe mal davon aus, dass Jana schläft?“
„Tief und fest“, antworteten wir wie aus einem Munde.
„Lassen Sie sich Zeit beim Essen!“ „Denkst du dabei an unsere Mägen oder an deinen Geldbeutel?“, fragte Gregor mit einem Schmunzeln.
„Ausschließlich an meinen Geldbeutel. Sie beide sind mir schnurzpiepegal!“
„Entschuldige, Annette, dass wir dich haben warten lassen “, sagte ich zur Begrüßung, während Gregor unsere Mäntel zur Garderobe brachte.
„Kein Problem. Ich bin auch gerade erst gekommen.“
Gregor und ich setzten uns ihr gegenüber.
„Alles Gute zu deinem Geburtstag, Helen! Du weißt, was ich dir wünsche …“ Annettes prüfender Blick schien sich keine meiner Regungen entgehen lassen zu wollen. Sie nahm meine Hand in ihre und drückte sie fest.
„Nein. Sag es mir!“
Ihr Befremden dauerte nur Sekunden. Anstatt mir zu antworten, entschied sie sich für ein Lächeln, das meinen Einwurf als Scherz abtat, wohl wissend, dass er das nicht war.
Ich spürte meinen alten Groll hochsteigen und schluckte entschlossen gegen ihn an. Annette war eine der wenigen gewesen, die während der schwierigen Lebensphase, die hinter mir lag, zumindest versucht hatten, mich zu verstehen, obwohl es ihr häufig nicht gelungen war und auch sie Salz in meine Wunden gestreut hatte. Aber ich wollte sie nicht verprellen, deshalb gab ich mir Mühe, eine gewisse Leichtigkeit an den Tag zu legen. „Also“, begann ich, „dann verrate ich dir, was ich mir wünsche. Ich wünsche mir, mit Gregor steinalt zu werden.“ Dabei zwinkerte ich ihm beruhigend zu. „Ich wünsche mir, dass es uns vergönnt ist, Jana ganz viel Lebensfreude mit auf ihrenWeg zu geben und dass wir vier heute einen wunderschönen, entspannten Abend miteinander verbringen. Wo bleibt eigentlich Joost?“
„Er ist im Institut aufgehalten worden, müsste aber jeden Moment kommen“, antwortete sie. „Ich schlage vor, wir trinken schon mal etwas.“
Nachdem wir unsere Bestellung aufgegeben hatten, schob Annette mir ein Geschenkpaket über den Tisch: rosa Papier mit roter Schleife. Vom Format her war es unzweifelhaft ein Buch. Ich befreite es aus seiner Verpackung und las laut den Titel: „Die schönsten Kinderlieder. “
„Du hast neulich gesagt, du könntest dich an so gut wie keines mehr erinnern. Da dachte ich …“ Plötzlich verstummte sie, unsicher, ob sie das Richtige für mich ausgesucht hatte. „Jana ist ja jetzt in dem Alter, in dem sie …“
„Danke“, unterbrach ich Annette. Den Anflug von Unmut verscheuchte ich, so schnell wie er gekommen war. Zwar hatte nicht Jana Geburtstag, sondern ich, aber ich begriff wieder einmal, dass ich seit der Geburt meiner Tochter in der Hauptsache als Mutter wahrgenommen wurde. Dass ich trotzdem eine Frau mit ganz eigenen Interessen geblieben war, musste ich zu dieser Stunde nicht zum Thema machen. Annette hatte sich Gedanken gemacht, und das war die Hauptsache. „Jana wird sich freuen, endlich mal etwas anderes als Lalelu von mir zu hören.“
Gregor strich zärtlich über meine Hand und vertiefte sich in die Speisekarte.
„Was hat Gregor dir geschenkt?“, fragte sie.
Ich zeigte auf den kleinen Anker, der um meinen Hals hing. „Ein Geschenk mit Symbolcharakter.“
„Ein Symbol dafür, dass er in deinem Hafen vor Anker gegangen ist? Du bist zu beneiden.“ Sie klang eher traurig als neidisch.
Ihr Mann Joost war bekannt dafür, dass er kaum etwas anbrennen ließ. Und wer sie kannte, fragte sich unweigerlich, warum sie sich das von ihm bieten ließ. Als neununddreißigjährige Gynäkologin mit eigener Praxis und ohne Kinder, auf die sie Rücksicht nehmen musste, hatte sie alle Voraussetzungen, ihr Leben problemlos auch ohne ihn zu gestalten. Hinzu kam, dass ihre sehr feminine Natürlichkeit das Interesse vieler Männer weckte.
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