

Im Glanz des Wasserfalls Im Glanz des Wasserfalls - eBook-Ausgabe
Das Grand-Hotel in Bad Gastein
— Historischer Roman um eine Hoteldynastie in ÖsterreichIm Glanz des Wasserfalls — Inhalt
Atmosphärischer historischer Roman um eine Frau zwischen Liebe und Pflicht. Für alle Leser:innen von Lisa Graf und Anja Marschall
Ende des 19. Jahrhunderts wird das Wildbad Gastein zum Weltbad, wo der Adel und das Großbürgertum Europas zusammenkommen. Die kluge Valerie Wahringer, deren Vater die Verwaltung des kaiserlichen Badeschlosses übernimmt, blüht in dem mondänen Kurort auf und verliert ihr Herz ausgerechnet an Theo Straubinger, den Neffen des konkurrierenden Hotelbesitzers. Ihre Liebe steht unter keinem guten Stern, familiäre Intrigen und gesellschaftliche Zwänge verhindern eine Ehe zwischen den beiden. Valerie muss sowohl um ihre Liebe als auch das Fortbestehen des Hotels kämpfen.
Leseprobe zu „Im Glanz des Wasserfalls“
Prolog
– 1865 –
Eine ungewöhnliche Hitze lag an diesem 14. August über Wildbad Gastein. Josef Straubinger, Familienoberhaupt und Platzhirsch der Gasteiner Hoteliers, war es gewohnt, hohe Gäste zu empfangen. An diesem Tag galt seine ganze Aufmerksamkeit den österreichischen und preußischen Gesandten, die über die Elbherzogtümer Schleswig, Holstein und Lauenburg verhandelten. Ministerpräsident Otto von Bismarck höchstpersönlich war angereist, um mit Gustav von Blome ein Abkommen zu unterzeichnen, das als Gasteiner Konvention in die Geschichte eingehen [...]
Prolog
– 1865 –
Eine ungewöhnliche Hitze lag an diesem 14. August über Wildbad Gastein. Josef Straubinger, Familienoberhaupt und Platzhirsch der Gasteiner Hoteliers, war es gewohnt, hohe Gäste zu empfangen. An diesem Tag galt seine ganze Aufmerksamkeit den österreichischen und preußischen Gesandten, die über die Elbherzogtümer Schleswig, Holstein und Lauenburg verhandelten. Ministerpräsident Otto von Bismarck höchstpersönlich war angereist, um mit Gustav von Blome ein Abkommen zu unterzeichnen, das als Gasteiner Konvention in die Geschichte eingehen sollte.
Josef hatte ihnen das Zimmer Nummer 7 zur Verfügung gestellt. Es war geräumig und mit Blick auf den Wasserfall, dessen feiner Sprühnebel für Abkühlung sorgte. Sein Rauschen wirkte beruhigend und verschluckte zudem unerwünschte Geräusche aus einem anderen Teil des Hotels.
Ein gepresstes Stöhnen entwich der sechzehnjährigen Therese im hintersten Winkel des Gebäudes, fernab der hohen Gäste, die zur Sommerfrische nach Gastein kamen. Hier war es stickig und heiß.
„Bald hast du’s geschafft.“ Anna Straubinger tupfte ihrer Tochter mit einem feuchten Tuch die schweißnasse Stirn ab. Seit Stunden hockte sie auf dem Schemel neben dem schmalen Bett, in dem Therese auf die Ankunft ihres Kindes wartete. Es dauerte viel länger, als Anna es von ihren eigenen sechs Geburten kannte. Die Sorge, dass etwas nicht stimmte, brannte heiß in ihrer Brust.
Am offenen Fenster zum Mühlgraben hintenheraus stand die erfahrene Maria Schlüßl und fächelte sich mit einer Zeitung Luft zu. Die Hebamme begleitete viele Geburten im Ort und war eine diskrete Frau. Anna schätzte sowohl ihre Erfahrung als auch die Tatsache, dass sie kein einziges Mal nach dem Vater des ungeborenen Kindes gefragt hatte. Anna hätte darauf ohnehin keine Antwort gewusst. Therese schwieg eisern über ihn. Mit erhobenem Kinn hatte sie ihren Eltern erklärt, dass sie ihn nicht brauche und auch allein für ihr Kind sorgen werde. Lieber würde sie ins Wasser gehen, als ihr Neugeborenes nach der Geburt wegzugeben.
Dass Josef Straubinger seiner unverheirateten Tochter erlaubte, weiterhin im Haus zu wohnen und das Kind großzuziehen, rechnete Anna ihrem Mann hoch an. Auch dass er die wilden Gerüchte und den bissigen Tratsch der Gasteiner mit stoischer Ruhe über sich ergehen ließ.
„Ich kann nicht mehr.“ Therese krümmte sich vor Schmerz.
„Diese Erkenntnis kommt leider zu spät“, konnte sich Frau Schlüßl nicht verkneifen.
Anna ignorierte den Kommentar der Hebamme. Therese war nicht die erste unverheiratete Frau, die Frau Schlüßl betreute, und wahrscheinlich auch nicht die jüngste.
„Du schaffst das, mein Liebes.“ Anna tauchte das Tuch in frisches, längst warm gewordenes Wasser und tupfte damit Thereses erhitzten Hals ab. Was war nur mit ihrer Tochter geschehen, fragte sie sich, damals, vor neun Monaten. Anna hatte nie bemerkt, dass ihre älteste Tochter sich für einen Mann interessiert hatte, aber sie war zu beschäftigt gewesen. Mit der Arbeit im Hotel und mit den kleinen Kindern. Der Jüngste, Alexander, war damals noch kein Jahr alt gewesen, und heute trug sie schon das nächste Kind unter dem Herzen. Es würde jünger sein als sein Neffe oder seine Nichte.
Wieder entfuhr Therese ein Schrei. Er klang anders, gepresster. Besorgt blickte Anna zur Hebamme, die bestätigend nickte.
„Es geht los.“ Die Hebamme setzte sich zwischen Thereses angewinkelte Beine, um die Geburt aktiv zu begleiten.
„Gleich, Therese, gleich hast du es geschafft.“ Anna strich ihrer Tochter sanft mit den Daumen über den Handrücken.
Minuten später, Anna konnte nicht sagen, wie viele es waren, erblickte ein kleiner, rosiger Junge das Licht der Welt. Erst wand er sich unbehaglich wie ein Würmchen, dann holte er tief Luft und begrüßte sie mit einem krächzenden Schrei.
Erschöpft sank Therese in das Kissen zurück und blickte durch halb geschlossene Lider auf das Kind, dessen Arme und Beine in der Luft nach der engen Wärme der Mutter suchten. Ihre trockenen Lippen verzogen sich zu einem erschöpften, aber auch erleichterten Lächeln.
Frau Schlüßl untersuchte das Neugeborene mit ihrem erfahrenen Blick und nickte zufrieden. „Ein gesunder Knabe. Herzlichen Glückwunsch, Fräulein Straubinger.“
Während die Hebamme das Kind säuberte und in ein weißes Tuch wickelte, kümmerte sich Anna um ihre Tochter. Mit einem feuchten Tuch wusch sie ihr den Schweiß und die Spuren der Geburt vom Körper. Dann half sie ihr in ein sauberes Nachthemd und gab ihr ein Glas Wasser zu trinken.
Der Junge schrie dabei aus Leibeskräften und beruhigte sich erst, als er auf Thereses Brust gelegt wurde. Sehnsüchtig schlang die junge Mutter ihre Arme um das zarte Wesen, das noch einige klagende Schluchzer von sich gab, bevor es an ihrer Brust zu saugen begann.
Annas Unterlippe zitterte, als sie voller Stolz ihre Tochter beobachtete, die mit einer Leichtigkeit stillte, als wäre es nicht ihr erstes Kind. Ein schwerer Stein fiel ihr vom Herzen, als sie erkannte, dass alles gut gegangen war. Ihr erstes Enkelkind war geboren.
„Er soll auf den Namen Theodor getauft werden“, sagte Therese, ohne den Blick von den kleinen Fingern zu nehmen, die ihren Daumen umschlossen. „Aber ich will ihn Theo nennen.“
„Das ist ein sehr schöner Name“, sagte Anna mit tränenerstickter Stimme. Zärtlich legte sie ihre eigene Hand um die ihrer Tochter und des kleinen Theo. Schützend, denn sie wollte fortan auf die beiden aufpassen.
„Soll ich dem Herrn Bescheid sagen?“, bot Frau Schlüßl an.
„Das ist nicht nötig.“ Anna wusste, dass ihr Mann nicht gestört werden wollte, solange er die wichtigen Herrschaften im Haus hatte. „Ich erzähle ihm später von seinem Enkelsohn. Sie können jetzt gehen. Vielen Dank, Frau Schlüßl.“
Die Hebamme wünschte Mutter und Kind noch alles Gute und wollte in den nächsten Tagen für die Bezahlung wiederkommen.
„Es wird nicht leicht“, sagte Anna, als sie mit Therese und Theo allein war.
„Ich weiß, Mama.“ Zum ersten Mal, seit ihr Theo in den Arm gelegt worden war, sah Therese von ihm auf. In ihrem Gesicht lag eine Entschlossenheit, die Anna beeindruckte. „Aber um nichts in der Welt lasse ich ihn mir wegnehmen. Ich liebe ihn jetzt schon mehr als alles andere auf der Welt.“
Anna lächelte, aber sie wusste, dass noch schwere Zeiten auf Therese zukommen würden. Als Mutter wie als alleinstehende Frau.
Wie schwer es sein würde, war den beiden an diesem Tag noch nicht bewusst. Niemand konnte ahnen, dass Anna Straubinger schon bald durch die Folgen einer Frühgeburt aus dem Leben gerissen werden sollte und dass Therese fortan die Verantwortung für Theo und ihre eigenen jüngeren Geschwister übernehmen musste.
Kapitel 1
– 1886 –
Valerie Wahringer ignorierte den Schmerz, der sich von ihrer Hüfte bis in die Zehen ausbreitete. Der zweispännige Landauer war schlecht gepolstert, was sie bei jedem holprigen Meter zu spüren bekam. Gegen die Fahrtrichtung sitzend, musste sie auf der ansteigenden Strecke die Füße in den Boden stemmen, um nicht von der Bank gerüttelt zu werden. Die Vorfreude, schon bald das Ziel ihrer langen Reise zu erreichen, gab ihr die Kraft, auch nach Stunden noch durchzuhalten. Schon die Zugfahrt von Wien nach Lend-Gastein war lang gewesen, aber erst die anschließende vierstündige Kutschfahrt wurde zur echten Herausforderung.
Valerie gegenüber saß ihre Mutter Barbara, die immer wieder an ihrem Wintermantel zupfte und ihn ein wenig enger um den Hals zog. Der Wind, der durch das Verdeck der Kutsche blies, war kalt und machte die Fahrt schon nach kurzer Zeit äußerst ungemütlich. In seinen letzten Briefen hatte Valeries Vater empfohlen, bei der Reise einen schweren Wintermantel mit Pelzbesatz zu tragen. In den Bergen waren die Spuren des Winters noch deutlicher zu spüren als in Wien.
Valeries Zwillingsbruder Stephan saß zusammengesunken neben seiner Mutter und schlief tief und fest. Sein kupferbraunes Haar, das Valeries so ähnlich war, stand ihm zerzaust vom Kopf und verlieh seinen erwachsenen Zügen etwas Jungenhaftes. Früher hatte Valerie eine große Ähnlichkeit zwischen ihnen beiden gesehen, aber seit seine Stimme vor einigen Jahren eine Oktave tiefer gerutscht und sein Kinn markanter geworden war, waren die Haarfarbe und die haselnussbraunen Augen mit dem leichten Grünstich die einzigen äußerlichen Gemeinsamkeiten, die ihnen geblieben waren.
Valerie löste ihren Blick von Stephan und schaute wieder durch das kleine Fenster im Wagenschlag. Den zerschlissenen Brokatvorhang hatte sie gleich zu Beginn der Fahrt zur Seite geschoben, um alles sehen zu können, was an ihnen vorbeizog. Die Berge der Hohen Tauern, zwischen denen sich der Landauer hindurchschlängelte, waren dicht mit Laubbäumen bewachsen, noch kahl vom Winter. Je höher sie kamen, desto mehr Grün mischte sich durch die Fichten darunter. Besonders fasziniert war Valerie von den weißen Gipfeln, auf denen die Schneereste der Aprilsonne trotzten.
„Die Landschaft ist wunderschön“, flüsterte sie und sog die kalte Bergluft tief in sich ein. Sie roch nach feuchter Erde, frisch sprießenden Blättern und harzigen Nadeln.
„Ich hätte dennoch zu gern darauf verzichtet.“ Statt der Umgebung Beachtung zu schenken, betrachtete Barbara konzentriert die Nähte ihrer Handschuhe. Seit ihr Mann beschlossen hatte, dass die Familie ihm nach Wildbad Gastein folgen würde, machte sie ihrem Unmut darüber Luft. Daran änderte auch ihr spektakuläres neues Zuhause nichts.
Valerie hatte die Briefe ihres Vaters voller Begeisterung gelesen. Seine Beschreibungen hatten in ihrem Kopf ein Bild von der neuen Heimat gezeichnet, geprägt von imposanten Hotels und prächtigen Villen, eingebettet in eine knorrige Berglandschaft. Die Schönheit und Eleganz des Ortes sollte von einem wilden Wasserfall durchbrochen werden, der sich zwischen den Häusern seinen Weg ins Tal bahnte und das Zentrum von Gastein bildete. Ein Bild, das Valerie mit eigenen Augen sehen musste.
Trotz eines angestrengten Räusperns konnte Barbara den Hustenreiz nicht unterdrücken, der sie jetzt überkam. Ihr ganzer Körper bebte, als sie in ihre behandschuhte Faust hustete.
Aufgeschreckt durch das heisere, trockene Bellen, drehte Stephan sich zur Seite, ohne dabei die Augen zu öffnen. Dann schlief er wieder ein. Zumindest tat er so, dachte Valerie.
„Diese eisige Bergluft reizt meine Lungen“, krächzte Barbara, als der Hustenanfall nachließ. „In diesem Landauer zieht es wie in einem Vogelhaus. In Lend habe ich bessere Kutschen gesehen. Sogar vierspännige. Aber euer Vater schickt uns stattdessen diese klapprige, langsame Postkutsche.“
„Vater hat viel zu tun und sicher nicht darüber nachgedacht, welche Kutsche er uns schicken lässt“, versuchte Valerie ihre Mutter zu besänftigen. Von ihrer schlechten Laune wollte sie sich auf keinen Fall anstecken lassen. Für sie war der Umzug eine willkommene Abwechslung im oft eintönigen Alltag. Es war wie ein kleines Abenteuer. Erst vor Ort würde sie erfahren, was sie erwartete.
„Allein die beschwerliche Anreise hätte ihm Grund genug sein müssen, uns in Wien zu lassen“, klagte Barbara weiter. „Diese Strapazen sind einer Frau und ihren Kindern nicht zuzumuten.“
„Die Kaiserin war im letzten Sommer auch in Gastein“, sagte Valerie, denn ihre Mutter interessierte sich sehr für den Wiener Hof.
„Die Reiselust der Kaiserin ist in aller Munde“, erwiderte Barbara unbeeindruckt. „Nicht selten ist von einer Rastlosigkeit die Rede. Aber ich bin überzeugt, dass ihr eine bessere Kutsche zur Verfügung stand.“
In diesem Moment rollte der Landauer über einen Stein und setzte mit einem harten Aufprall wieder auf der Straße auf. Barbara stieß einen Laut aus, als fühle sie sich in ihrer Klage bestätigt. Auch Valerie tat der Rücken weh, aber sie biss die Zähne fest zusammen, um sich nichts anmerken zu lassen.
Nur Stephan schien das alles nichts anzugehen.
Theo Straubinger wuchs im Schatten einer Hoteldynastie auf, die ihren Zenit noch lange nicht erreicht hatte – das war der ganzen Familie bewusst. Ebenso wusste Theo, dass er in diesem Spiel um die Vorherrschaft unter den Hoteliers nur eine Randfigur war. Sein Großvater Josef hatte die Leitung des Hotels am Wasserfall nach und nach an seine Söhne Carl und Peter abgegeben. Obwohl Theo mit seinen zwanzig Jahren der Älteste der nächsten Generation war, hatten ihm die Kinder seiner Onkel trotz ihres jungen Alters schon jetzt etwas voraus: Sie waren eheliche Straubinger-Kinder.
Im altehrwürdigen Hotel Straubinger war auf Dauer kein Platz für ihn, aber sein unermüdlicher Fleiß und sein Wille, dort anzupacken, wo er gerade gebraucht wurde, sicherten ihm vorerst einen Platz im Familienunternehmen.
Es war Tradition, dass sich die Straubinger-Männer am frühen Nachmittag in den obersten Stock des Hotels zurückzogen und über aktuelle Themen sprachen. Seit Theo denken konnte, war das so. Als Kind hatte er sich manchmal nach dem Mittagessen von seiner Mutter weggeschlichen, um seinem Großvater ins Arbeitszimmer zu folgen. Dort saß Josef Straubinger hinter einem wuchtigen Tisch, ein Glas Weinbrand vor sich und die Pfeife in der Hand. Theo hatte sich dann in eine Ecke gesetzt und still in den alten Büchern mit den Gästelisten geblättert. Der Großvater hatte seine schweigende Anwesenheit geduldet.
Vieles hatte sich in den letzten Jahren verändert. Der große Schreibtisch war zwei kleineren gewichen, an denen sich heute seine Onkel gegenübersaßen, und Theo brauchte sich nicht mehr wegschleichen, um an der kleinen Herrenrunde teilzunehmen. Das Einzige, was geblieben war: Er war kein Mitspieler, nur eine Randfigur.
„Das Wetter spielt dem Weismayr in die Hände.“ Carl Straubinger erhob sich von seinem aufgeräumten Schreibtisch und nahm vier kleine Gläser aus der Vitrine neben der Tür.
„Das soll uns recht sein“, sagte sein Bruder Peter, der ihm trotz des schmaleren Gesichts mit dem kurzen, schütteren Haar und den hellen, wachen Augen sehr ähnlichsah. „Kaum ist der Windischbauer mit seinem Elisabethhof fertig, fängt der Weismayr direkt vor seiner Nase an zu bauen.“ Er lachte heiser.
„Mit oder ohne Baustelle.“ Carl schraubte den Verschluss der dunkelgrünen Dopplerflasche auf, in der seine Frau Marie den Nussschnaps angesetzt hatte, und schenkte großzügig ein. „Der Windischbauer wird es nicht leicht haben, die Reservierungsliste für seine hundertvierzig Zimmer voll zu bekommen.“ Das erste Glas reichte er dem Großvater, der in einem alten Polstersessel mit hoher Lehne in der Ecke saß. Der Stoffbezug war an mehreren Stellen geflickt und hatte längst den Geruch von verbranntem Tabak angenommen. Dann erhielt Peter ein Glas und zuletzt Theo, der die Treffen im Kontor immer stehend vom Fenster aus beobachtete.
„Auf unser Wohl!“ Josef prostete den anderen zu und leerte sein Glas. Dann griff er nach seiner Pfeife aus italienischem Olivenholz, die ihm seine Familie zu seinem siebzigsten Geburtstag im Frühjahr geschenkt hatte. Mit der ihm eigenen Ruhe stopfte er Tabak in den Pfeifenkopf. „Ich weiß noch, als der Windischbauer nach Gastein gekommen ist“, sagte er und blickte zu seinem Enkelsohn auf. „Er war damals kaum älter als du, Theo, und hatte nur sechzig Gulden in der Tasche. Seinen Namen und sein Vermögen hat er sich in einer kleinen Wechselstube gegenüber der Villa Solitude verdient.“
Theo kannte die Geschichte. Und er mochte sie. Sie zeigte, was an diesem Ort möglich war. Sein Onkel Carl verzog das Gesicht, und Peter leerte sein Glas mit Todesverachtung. Spätestens mit der Eröffnung des Elisabethhofes war Alois Windischbauer zum größten Konkurrenten der Straubingers aufgestiegen. Theo bewunderte ihn trotzdem.
Josef Straubinger blieb die Reaktion seiner Söhne nicht verborgen. „Neid ist die feige Form der Anerkennung“, sagte er tadelnd und zündete mit steifen Fingern ein Streichholz an. Langsam ließ er es über dem Zylinderkopf kreisen, bis sich ein süßlicher Brandgeruch im Raum ausbreitete. Ein Geruch, den Theo eng mit seiner Kindheit verband. „Wenn ihr mich fragt, war der Elisabethhof erst der Anfang.“
Der Elisabethhof war mit seinen fünf Etagen das höchste Hotel in Wildbad Gastein. Es lag auf der anderen Seite des Wasserfalls, unweit des Straubingerplatzes. Seinen Gästen bot es einen ebenso beeindruckenden Blick ins Tal wie das Hotel Straubinger.
„Wir dürfen den Windischbauer auf keinen Fall unterschätzen“, sagte Carl und trommelte dabei mit den Fingern auf seinen Schreibtisch. Den Nussschnaps hatte er noch nicht angerührt.
Im Gegensatz zu seinem Bruder, der sich über den Tisch beugte, um nach der Flasche zu greifen. Dabei verschob er einige Briefe, was bei der Unordnung an seinem Arbeitsplatz kaum auffiel. Als gelernter Postmeister verbrachte er seine Zeit am liebsten auf dem Kutschbock oder im Kontakt mit den Gästen. Ins Kontor, so vermutete Theo, zogen ihn nur die Gesellschaft und der Nussschnaps. „Das dürfen wir natürlich nicht“, stimmte Peter zu und sah seinen Vater an. „Vielleicht hättest du damals …“
„Nein!“, schnitt ihm dieser das Wort ab. „Ich habe damals eine Entscheidung getroffen, zu der ich bis heute stehe. Und damit genug.“
Stille senkte sich über das Zimmer. Theo glaubte sogar, den Tabak in der Pfeife verbrennen zu hören. Was sich in der Vergangenheit zwischen den Straubingers und Alois Windischbauer abgespielt hatte, wusste er nicht. Aber es war der Grundstein für eine jahrzehntelange Abneigung, die mit Windischbauers neuem Großhotel ihren Höhepunkt erreichte.
Vom Flur her näherte sich das Tapsen von vier Hundepfoten. Die Tür zum Arbeitszimmer stand immer einen Spalt offen, damit Carls Dackel Ottl jederzeit ein- und ausgehen konnte. Der Hund war ein Geschenk Otto von Bismarcks, nachdem dessen Dogge Tyras einige Jahre zuvor Carls alten Dackel totgebissen hatte. Nachtragend, wie Theos Onkel war, hatte er den neuen Vierbeiner kurzerhand nach dem deutschen Reichskanzler benannt.
Gemächlich trottete Ottl zu Theo und ließ sich zu seinen Füßen nieder. Theo kraulte ihn kurz hinter den Ohren, wie er es am liebsten mochte, dann wandte er sich wieder dem Gespräch zu.
„In Gastein werden immer mehr Hotels gebaut. Eines größer als das andere“, sagte Peter und trank sein zweites Glas leer. „Wie lange kann das gut gehen?“
„Solange die Gästezahlen steigen und steigen“, antwortete der Großvater. „Wen überrascht es, wenn sich herumspricht, dass der deutsche Kaiser jedes Jahr zu uns kommt.“
„Wilhelm?“ Peter schnaubte. „Die Frage ist, wie lange noch? Er ist neunundachtzig.“
„Sein stolzes Alter spricht doch für die Kuraufenthalte in Gastein“, gab Theo zu bedenken. Er meldete sich selten zu Wort, und nur dann, wenn er sicher war, etwas Sinnvolles beitragen zu können. Das hatte ihm seine Mutter schon früh beigebracht.
„Theo hat recht“, bestätigte der Großvater. „Menschen aus ganz Europa folgen seinem Beispiel und kommen nach Gastein. Deshalb dürfen wir den Anschluss nicht verlieren.“
„Wir sind nach wie vor das größte Hotel in Gastein“, sagte Carl ein wenig beleidigt. „Die anderen suchen den Anschluss an uns.“
„Bleibt das auch so?“
Alle Blicke richteten sich auf den Großvater. Auch Theo wartete gespannt darauf, zu hören, was das Familienoberhaupt dazu zu sagen hatte.
„Der Aufschwung lockt immer mehr Menschen nach Gastein, die ein Stück vom Kuchen abhaben wollen. Je mehr Fremde kommen und in die Hotellerie einsteigen, desto schwieriger wird es für uns, die Situation einzuschätzen“, fuhr Josef Straubinger unaufgeregt fort.
„Mit dem Bürgermeister in der Familie behalten wir schon den Überblick“, meinte Peter scherzhaft in die Richtung seines Bruders, der darüber nicht schmunzeln konnte.
„Der nächste Interessent ist auch schon gekommen und sitzt uns direkt gegenüber“, sagte Carl stattdessen. „Das Badeschloss hat einen neuen Verwalter.“
„Johann Wahringer“, ergänzte Peter, jetzt wieder ernst. „Ein Wiener Beamter. Freundlich, aber in der Hotellerie noch unerfahren.“
„Das war der Windischbauer damals auch“, fügte der Großvater mit dem Mundstück der Pfeife zwischen den Zähnen hinzu.
Manchmal glaubte Theo, dass sein Großvater Alois Windischbauer genauso bewunderte wie er selbst – trotz der Differenzen zwischen den Familien. Windischbauer war nicht in eine Hoteliersfamilie hineingeboren worden, sondern hatte aus eigener Kraft den Grundstein für seinen Weg gelegt. Innerhalb kürzester Zeit war er zum größten Konkurrenten der Straubingers geworden. Und es war nicht abzusehen, dass der Kampf um die Vorherrschaft in Gastein bald ein Ende finden würde.
Stephan schlug genau in dem Moment die Augen auf, als der Landauer zum Stehen kam. Verschlafen blinzelte er aus dem Fenster und streckte seine langen Glieder. „Sind wir schon da?“
„Wenn du wissen willst, ob wir die vierstündige Fahrt endlich hinter uns gebracht haben, dann ja“, antwortete Barbara.
Auch Valerie wagte einen Blick nach draußen. Passanten huschten an der Kutsche vorbei, dahinter erhob sich eine steinerne Treppe. In der Ferne war leises Wasserrauschen zu hören.
„Dann wollen wir mal sehen, wo wir hier gelandet sind.“ Stephan rieb sich ungeduldig die Hände und wollte schon nach der Tür greifen, als Barbara ihn mit einer Handbewegung zurückwies.
Als der Kutscher den Schlag öffnete, schwoll das Rauschen aus der Ferne an. Der Wasserfall musste näher sein, als gedacht. Am liebsten wäre Valerie als Erste aus dem Wagen gesprungen, aber ihre Mutter hatte bereits die Hand des Postillions ergriffen.
Es kam Valerie wie eine Ewigkeit vor, bis ihre Mutter endlich draußen war. Fragend sah sie Stephan an, der sich über ihre Ungeduld zu amüsieren schien. „Nach dir, Schwesterchen.“
Das ließ sich Valerie nicht zweimal sagen. Sie raffte ihren Rock, und noch ehe sich der Kutscher ihr zuwenden konnte, sprang sie aus dem Wagen. Kühle, feuchte Luft strömte ihr über die Wangen, und mit offenem Mund sah sie sich staunend um.
„Valerie!“, zischte Barbara. „Du bist siebzehn, nicht sieben Jahre alt. Benimm dich!“
Schnell schloss Valerie den Mund. Ihr Blick wanderte in die Richtung, aus der das Wasserrauschen kam. Ein Haus am Rande einer Schlucht versperrte ihr die Sicht darauf. Dahinter zog sich ein feiner Sprühnebel langsam ins Tal hinab. Am liebsten wäre sie quer über den Platz, auf dem sie standen, hinüber zum Wasserfall gelaufen, aber sie wollte ihre Mutter nicht noch mehr verstimmen.
„Da seid ihr ja!“ Die kräftige Stimme ihres Vaters kam von oben.
Valerie drehte sich um und ließ ihren Blick über die beiden gegenläufigen U-Treppen gleiten, vor denen der Landauer zum Stehen gekommen war. Sie führten zu einem Podest, auf dem Johann Wahringer stand. Hinter ihm ragte die sandfarbene Fassade eines stattlichen, vierstöckigen Gebäudes auf. Auf einem schwarzen Metallschild stand in großen, goldglänzenden Lettern HOTEL BADESCHLOSS. Über dem flachen Walmdach erhob sich zum Greifen nah der bewaldete Hang eines Berges. Endlich hatte sie ein Bild zu den ausgeschmückten Erzählungen aus den Briefen ihres Vaters.
Da standen sie nun vor ihrem neuen Zuhause. Valerie hatte sich so auf diesen Ortswechsel gefreut. Sie würde in einem Haus wohnen, das der kaiserlichen Familie höchstpersönlich gehörte. In dem Adel und Großbürgertum ein und aus gingen.
Auch davon hatte sich Barbara Wahringer nicht beeindrucken lassen. Sie wollte in Wien bleiben, in der Hauptstadt, in der sie ihr ganzes bisheriges Leben verbracht hatte. Selbst das Argument ihres Mannes, dass das Gasteiner Thermalwasser gute Heilungschancen für ihre Atemwegserkrankung verspreche, hatte sie nicht überzeugt. Schließlich hatte Johann Wahringer ein Machtwort gesprochen, ungeachtet der Einwände seiner Frau.
Langsamen Schrittes und erhobenen Hauptes stieg Johann die Stufen hinunter. „Willkommen in Wildbad Gastein“, sagte er und blieb auf der letzten Stufe. Nüchtern nickte er seiner Frau zu.
Seine Reaktion überraschte Valerie nicht. Ihr Vater war kein emotionaler Mensch, und die Missstimmung zwischen den Eheleuten war schon lange kein Geheimnis mehr.
„Jetzt sind wir ja hier“, antwortete Barbara ohne jede Wiedersehensfreude.
Hilfesuchend wandte sich Valerie an ihren Bruder, doch der spielte den Unbeteiligten und zupfte mit übertriebener Konzentration an einem Faden seines Mantels. In der Hoffnung, die frostige Stimmung auflockern zu können, trat Valerie vor. „Es ist schön, dich wiederzusehen, Vater.“ Sie musste sich weit strecken, um ihm einen Kuss auf die Wange zu geben, denn er stand immer noch auf der letzten Stufe.
„Ich freue mich auch, Valerie“, sagte ihr Vater ungewohnt sanft. In Wien hatten sie sich nie nahegestanden. Sein Interesse hatte immer der Arbeit gegolten, bestenfalls noch dem Sohn, während Valerie in der Obhut der Mutter geblieben war. Von ihr sollte sie Manieren und Handarbeit lernen, aber noch heute taten Valerie die Finger weh, wenn sie an die stundenlangen Stickarbeiten dachte. Am liebsten wäre sie mit Stephan um die Wette gerannt und hätte im Unterricht neben ihm gesessen, aber das war ihr nicht erlaubt worden.
„Ist es so, wie ihr es euch vorgestellt habt? Das Badeschloss!“ Mit funkelnden Augen deutete Johann auf das Gebäude.
„Ich bin überrascht, wie schmucklos die Fassade ist“, antwortete Barbara kühl und zupfte an den Fingerspitzen ihres Handschuhs. „Die Palais an der Ringstraße sind wesentlich beeindruckender. Hoffentlich gibt es hier warmes Wasser. Ich bin durchgefroren von der Fahrt, und mein Rücken schmerzt von der scheußlichen Sitzbank in diesem zugigen Landauer.“
Valerie entging nicht, wie die Nasenflügel ihres Vaters bebten. Das erste sichtbare Zeichen, dass er gereizt war, doch zu ihrer Überraschung beruhigte er sich wieder. „Natürlich gibt es warmes Wasser.“ Auf sein Zeichen hin kam ein rothaariger junger Mann in dunkler Uniform angelaufen. Ihm folgte eine Frau mittleren Alters mit streng zurückgebundenem Haar in einem schlichten, schwarzen Kleid. Der Page grüßte höflich und griff nach den Gepäckstücken, die der Kutscher abgeladen hatte. Schnell trug er so viele auf einmal nach oben, dass Valerie fürchtete, sie würden ihm noch herunterfallen.
„Barbara, darf ich dir unser Dienstmädchen Hanna vorstellen?“, sagte Johann, als die Frau zur Begrüßung einen Knicks machte. „Es macht dir sicher nichts aus, dass ich sie schon eingestellt habe. Dann brauchst du dich nicht erst nach einer Hilfe umsehen.“
„Dafür sollte ich dir wohl dankbar sein“, sagte Barbara mit einer Bissigkeit in der Stimme, die niemandem entging.
Johann ließ sich davon nicht provozieren. „Sie wird dir gleich ein Bad einlassen, wenn du das möchtest.“
„Sehr gern.“
Hanna nickte und eilte die Treppe hinauf, um alles vorzubereiten.
„Und nun kommt. Ich zeige euch, wo wir wohnen. Danach habt ihr Zeit, um euch für das Abendessen frisch zu machen.“ Der Vater bedeutete ihnen, ihm zu folgen.
„Ich werde nach der anstrengenden Reise heute früh zu Bett gehen“, sagte Barbara und stieg neben ihm die Treppe hinauf.
„Ich bin sicher, du hast genug Kraft für das erste gemeinsame Abendessen der Familie nach so langer Zeit“, erwiderte Johann in einem Ton, der keinen Widerspruch duldete.
Schweigend stiegen sie die Vortreppe nebeneinander hoch.
Valerie und Stephan blieben noch einen Moment beim restlichen Gepäck, bis der Page zurück sein würde.
„Ich hatte mir ein herzlicheres Wiedersehen erhofft“, gestand Valerie.
Stephan sah seinen Eltern nach und schüttelte kaum merklich den Kopf. „Was hast du erwartet? Mutter ist sehr sensibel und Vater … ist es nicht.“ Und mit Blick auf den Pagen, der zurückkehrte, um das restliche Gepäck zu holen: „Jetzt komm, sonst verlaufen wir uns in diesem riesigen Haus.“
Die Wohnung im Dachgeschoss des Badeschlosses war kleiner, als sie es von Wien gewohnt waren. In Valeries Zimmer war gerade einmal Platz für einen Holzschrank, ein Bett und einen kleinen Frisiertisch. Der Holzboden war ausgeblichen, und die Tapeten lösten sich an manchen Stellen von den Wänden. All das geriet sofort in den Hintergrund, als Valerie die beiden Fensterflügel öffnete und direkt auf den Wasserfall blickte. Sie konnte seine Gewaltigkeit mit allen Sinnen erfassen. Das Rauschen, den frischen Geruch, die kühle Brise, den imposanten Anblick. Gleich dahinter senkte sich die Sonne zum Horizont und warf ihre letzten Strahlen des Tages in Valeries Zimmer. Sie hätte sich keine bessere Kammer aussuchen können.
Da das Dienstmädchen mit Barbara und dem bevorstehenden Abendessen beschäftigt war, verzichtete Valerie nach der langen Reise auf ein Bad. Sie wechselte nur ihre Kleidung und verstaute die Sachen aus ihrem Koffer im Schrank. Dann ging sie in das Esszimmer der Wohnung, dessen Fenster auf den Straubingerplatz hinausgingen. Am liebsten hätte sie auch hier eines geöffnet, um den Duft der Berge und der Natur hereinzulassen, aber ihre Mutter hatte sich schon zuvor über die Kälte in der Wohnung beklagt.
Sofort war Hanna losgeeilt, um weitere Kohlen in die beiden Öfen zu legen, die geschickt platziert die Räume erwärmten. Valerie ahnte, dass die Kälte in diesen Räumen keine physische Kälte war.
Barbaras nächster Hustenanfall hatte sich erst gelegt, als sie in das heiße Badewasser gestiegen war.
Das Stabparkett im Esszimmer knarrte an einigen Stellen, und die Farben der Orientteppiche waren längst verblasst. Trotz der abgenutzten Möbel empfand Valerie den Raum dank der hellen Tapete mit dem eingearbeiteten Silbermuster als freundlich und einladend.
Vom Fenster aus beobachtete sie das geschäftige Treiben auf dem Straubingerplatz. Herren in feinen Gehröcken und Frauen in hübschen Kleidern tummelten sich dort ebenso wie Arbeiter und Wäscherinnen mit Körben voller Leinenzeug. Kutschen bahnten sich ihren Weg über den Platz, und vereinzelt irrten streunende Hunde zwischen den Menschen umher.
Valerie hatte das Gefühl, dass hier das pulsierende Zentrum von Gastein war. Sein schlagendes Herz.
„Ich könnte auch stundenlang hier stehen und dem Treiben zuschauen“, sagte ihr Vater plötzlich hinter ihr.
Valerie sah über die Schulter zurück. Sie hatte ihn nicht kommen hören.
Johann trat neben sie und blickte in die Ferne, wo sich in der Abenddämmerung dunkle Wolken über den Berggipfeln auftürmten. „Oder hinein ins Tal. Die Aussicht ist atemberaubend, findest du nicht?“
„Das ist sie“, stimmte Valerie zu. Die Berge waren faszinierend, aber sie interessierte sich viel mehr für den Ort selbst. Für die Menschen, die wohlhabenden und die einfachen, die Einheimischen und die Gäste. Sie wollte durch die Straßen schlendern, vorbei an Häusern, Hotels und prächtigen Villen. Sie wollte dazugehören.
„Kannst du mir mehr über Wildbad Gastein erzählen?“, bat Valerie ihren Vater, denn zum ersten Mal in ihrem Leben hatte sie das Gefühl, dass er mit ihr reden wollte. Vielleicht nicht mit ihr als Person, aber zumindest über das gleiche Thema. Über diese kleine, eigene Welt, eingebettet in die Hohen Tauern. Über den Ort, durch den ein Wasserlauf floss wie eine Hauptschlagader, die alles um sich herum zum Pulsieren und Leben brachte.
„Sehr gerne.“ Johann klang erfreut über ihre Bitte. „Wo soll ich anfangen? Den Straubingerplatz siehst du ja vor dir. Das Haus gegenüber ist das Hotel Straubinger. Es gehört dem Bürgermeister Carl Straubinger und seiner Familie. An der gleichen Stelle soll schon vor Jahrhunderten ein hölzernes Wirtshaus gestanden haben, das den Straubingers gehörte. Die Familie hat das Sagen im Ort.“
Valerie betrachtete das Gebäude auf der anderen Seite des Platzes, das ganz anders aussah als das Badeschloss. Statt auf einem Sockel erbaut, war es von der Straße aus zugänglich, und wirkte trotz seiner drei Stockwerke viel niedriger. Seine Fassade war schmuckvoller als die des Badeschlosses. Hölzerne Läden rahmten die Fenster, und auf dem Dach ragte ein Türmchen empor.
In diesem Moment trat ein junger Mann durch den runden Haupteingang des Hotels Straubinger. Trotz der hereinbrechenden Dämmerung konnte Valerie dichtes strohblondes Haar und breite Schultern ausmachen, die sein Hemd spannten, als wäre er ihm längst entwachsen. Er hob die Hand zum Gruß, als ihm eine Frau mit einem großen Wäschekorb entgegenkam, und ein freundliches Lächeln zauberte sich auf sein Gesicht. Zu gern hätte Valerie ihn aus der Nähe gesehen, doch schon nach wenigen Schritten verschwand der junge Mann in einem Nebengebäude, das zum Hotel zu gehören schien.
„Wohnen im Hotel Straubinger schon Kurgäste?“, fragte sie interessiert.
„Nein. Die Hotels hier sind nur für die Sommermonate ausgelegt. Die meisten Zimmer sind nicht beheizbar, deshalb beginnt die Saison immer erst im Mai, wenn es wärmer wird. Also in einer guten Woche.“
„Und wann ist die Saison zu Ende?“
„Ende Oktober.“
„Wenn wir nach Wien zurückkehren.“ Valeries Mutter war ins Esszimmer gekommen. „Wie vereinbart“, fügte sie mit Nachdruck hinzu.
Mit einem kühlen Lächeln wandte sich Johann seiner Frau zu. „Natürlich“, antwortete er, aber Valerie wurde das Gefühl nicht los, dass sich diese Entscheidung noch ändern könnte.
Wenig später saß die Familie an dem langen Eichentisch zusammen, der Platz für acht Personen bot. Valerie und Stephan hatten in der Mitte der Längsseiten Platz genommen, die Eltern an den Stirnseiten. So wurde die Gefühlsdistanz innerhalb der Familie auch räumlich greifbar.
Hanna servierte eine kräftige Bouillon mit Eierstich, die Valerie schmeckte und von innen wärmte.
„Ich habe gute Nachrichten, Stephan“, sagte der Vater, als er die Suppe aufgegessen hatte. „Das k. k. Staatsgymnasium in Salzburg hat deine Aufnahme bestätigt. Du wirst schon am Montag dort erwartet.“
Valerie hielt in der Bewegung inne. Sie hatte gedacht, ihr Bruder würde hier im Ort zur Schule gehen. Die Stadt Salzburg war mindestens fünf Stunden mit der Kutsche entfernt.
„Dann hätte ich mir den Weg von Salzburg auch sparen können“, murmelte Stephan, ohne von seinem Teller aufzusehen.
Johann ignorierte seine Bemerkung und wandte sich seiner Frau zu: „Für dich, Barbara, habe ich für übermorgen einen Termin bei Dr. Horvath vereinbart. Er ist Kurarzt und will eine auf deine Beschwerden abgestimmte Therapie festlegen.“
Barbara entglitt der Löffel. Er fiel scheppernd auf den Teller, und Suppe spritzte auf das weiße Tischtuch. „Darum habe ich dich nicht gebeten“, stieß Barbara mit vor Wut zitternder Stimme hervor. In ihre Worte mischte sich ein Husten, der in ihrer Brust anschwoll. Verlegen zog sie das Stofftaschentuch aus dem Ärmel, das sie an dieser Stelle immer bei sich trug, und hustete bellend hinein.
Ihre Reaktion schien Johann in seiner Entscheidung zu bestätigen. Er wartete, bis sich ihr Husten legte, den Blick dabei auf sie gerichtet. „Du wirst staunen, welche Kraft das Gasteiner Heilwasser hat.“
Barbara schnaubte. „Woher willst du das wissen? Du hast die Wirkung noch nicht einmal bei den Kurgästen beobachten können.“
Aus dem Augenwinkel sah Valerie Hanna hereinkommen. Offenbar war auch ihr der Streit nicht entgangen, und so blieb sie unsicher in der Tür stehen. Daran würde sie sich in diesem Haus gewöhnen müssen, dachte Valerie bitter.
Johann hob einen Finger, um ihr zu signalisieren, dass sie die Suppenteller abtragen konnte.
„Soll ich den Hauptgang bringen, Herr Wahringer?“, fragte Hanna vorsichtig.
Er nickte kurz, hielt aber seine Aufmerksamkeit weiter auf seine Frau gerichtet. „Ich habe genug Berichte gehört, und Dr. Horvath hat mir versichert …“
„Wer sagt denn, dass er kein Quacksalber ist?“
Johann schlug so heftig mit der Faust auf den Tisch, dass Valerie nach Luft schnappte. „Ich! Ich sage das, und ich verbiete dir, einen anerkannten Arzt, der die hohen Gäste unseres Hauses betreut, einen Quacksalber zu nennen.“ Eine scharfe Warnung schwang in seiner Stimme mit, als wäre Barbara im Begriff, eine Grenze zu überschreiten, die er nicht duldete. „Du gehst zu diesem Termin, und jetzt Schluss damit!“
In der folgenden Stille kam Valerie ihr eigener Atem unerträglich laut vor. Sie sah Stephan an, was sie prompt schmerzlich daran erinnerte, dass er in zwei Tagen nach Salzburg aufbrechen würde und sie allein mit ihren Eltern zurückließ.
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