In den Bergen ist Freiheit In den Bergen ist Freiheit In den Bergen ist Freiheit - eBook-Ausgabe
Ein wildes Leben
— Die erste Autobiografie des Bergsteigers„Vom Rock ‘n’ Roller der Berge, der Motörhead liebt und die Freiheit sucht. So muss Bergliteratur sein.“ - Kleine Zeitung
In den Bergen ist Freiheit — Inhalt
Aus dem Leben eines Grenzgängers
Seit Jahrzehnten steht der Kletterer und Extrembergsteiger Thomas Huber hart am Abgrund, stets am Limit. Er verzeichnet große Erfolge bei Erstbesteigungen und spektakulären Klettertouren, die kein Mensch zuvor wagte, erlitt Niederlagen, überlebte schwere Unfälle und einen Nierentumor. Er machte aus dem Scheitern eine Tugend und stand immer wieder auf.
In seinem Buch berichtet er von seiner Kindheit am Fuße der Alpen, von der Kraft des ersten Schrittes, von Leidenschaft, Mut und Zweifel. Das Buch ist die Geschichte eines der berühmtesten Bergsteiger unserer Zeit und eine Hymne auf die Freiheit.
Die erste Autobiografie des Weltklassealpinisten: Offen wie nie erzählt der Ältere der berühmten „Huberbuam“ über sein Leben.
Leseprobe zu „In den Bergen ist Freiheit“
Die unsichtbare Linie
16. Juli 2019, Choktoi im Karakorum, Pakistan
Wieder einmal sitze ich vor dieser Wand und sehe diese unsichtbare Linie, die ich schon zigmal in meinen Gedanken geklettert bin. Diese Wand wird mir alles, was ich in meinem Bergsteigerleben erlernen durfte, abverlangen. Der tödliche, unkalkulierbare Korridor am Wandfuß. Diese einfach anmutende Schneeflanke, die zum Einstieg führt, wird überlagert von einem massiven Gletscherbruch. Die Regel ist, dass es hier keine Regel gibt. Gehst du den einfachsten Weg zur Wand, kann jeder Moment dein [...]
Die unsichtbare Linie
16. Juli 2019, Choktoi im Karakorum, Pakistan
Wieder einmal sitze ich vor dieser Wand und sehe diese unsichtbare Linie, die ich schon zigmal in meinen Gedanken geklettert bin. Diese Wand wird mir alles, was ich in meinem Bergsteigerleben erlernen durfte, abverlangen. Der tödliche, unkalkulierbare Korridor am Wandfuß. Diese einfach anmutende Schneeflanke, die zum Einstieg führt, wird überlagert von einem massiven Gletscherbruch. Die Regel ist, dass es hier keine Regel gibt. Gehst du den einfachsten Weg zur Wand, kann jeder Moment dein letzter sein, da eine Eislawine über die Schneeflanke donnern könnte. Dieser Bereich muss daher aufwendig über einen Felspfeiler umgangen werden. Zweihundert Meter steilste Kletterei, links abseilen und oberhalb des Lawinenbereichs in die Schneeflanke queren. Vom optischen Einstieg der Nordwand zieht ein senkrechter Eisschlauch in das Zentrum der Wand bis zum „Herz“, einer herzförmigen Biwaknische für unser erstes Wandlager. Von dort geht es links weiter in das zentrale, flachere Eisfeld, den vielleicht leichtesten, aber auch gefährlichsten Teil der Wand. Hier sammelt sich alles, was vom Berg herunterwill: Steine, Lawinen, Spindrift. Dieser Abschnitt darf nur zum richtigen Zeitpunkt, also in der Nacht, wenn es kälter ist, geklettert werden. Am Ende dieser Eisflanke thront eine 800 Meter hohe, senkrechte Granitwand. Die naturgegebene kletterbare Linie zieht steil rechts aufwärts über ein Rampensystem bis zur Gipfelverschneidung. Noch mal eine letzte Lagermöglichkeit auf 6800 Metern, von dort dann entweder über eine messerscharfe Kante oder über die vereiste Verschneidung bis zum Gipfel in über 7000 Meter Höhe. Das ist das Finale, die Klimax der Wand, und dieser Teil wird uns alles abverlangen.
Was für eine Linie, so schön, so unnahbar! Latok-I-Nordwand heißt diese Mauer aus Fels, Eis und Schnee, und sie türmt sich 2000 Meter hoch aus dem Choktoi. In diese Wand habe ich schon viel investiert. Zum vierten Mal bin ich bereits hier, weil ich an den perfekten Moment glaube: dass diese unmöglich anmutende Linie machbar ist, wenn das Team und der Berg zu einer Einheit verschmelzen. Andere sagen, ich sei hier, weil ich ein Spinner sei, verrückt, jeglicher Realität entrückt, ein Surrealist. Wenn ich die Wand aus deren Sicht betrachte, kann ich das sogar verstehen. Wenn ich hier einsteige, setze ich alles ein, mein Leben, die Gegenwart mit meinen Lieben, meinen Freunden, eben alles. Nur wegen dieser kalten Wand.
Dabei weiß ich auch, die Welt dreht sich mit oder ohne diese Begehung weiter, wir verändern mit einer Durchsteigung nichts, rein gar nichts. Und doch verändert sich alles – nicht für die Welt, aber für mich und mein Umfeld, weil ich dem gefolgt bin, woran ich glaube. Und wenn ich die ganze Geschichte erzählen will, woran ich wirklich glaube, warum mein Leben so ist, wie es ist, und vielleicht auch begründen will, warum ich hier bin, hier im Choktoi, muss ich von vorn beginnen.
Meine kleine Welt
Die Kindheit
1966: Ich schaute mit neugierigen Augen in die Welt und wusste nicht, dass ich ein wenig übergewichtig war. Wie mir meine Eltern später versicherten, gab es schönere Kinder als mich. Aber mir ging es einfach nur gut, denn ich fühlte mich bestens behütet. So wie mein Vater und auch schon mein Großvater wurde ich nach alter Hoftradition Thomas genannt. Ich bin schon mit zehn Monaten gelaufen, habe bald erste Wörter gesprochen, und es schien so, dass ich nicht lange auf etwas warten konnte.
Als Säugling hatte ich mal eine sehr unruhige Nacht, sodass meine Mutter besorgt zu meinem Bett ging. In diesem Moment bemerkte sie ein ungewöhnlich helles Licht draußen im Hof. Unsere Stallungen brannten lichterloh! Die Pallinger Feuerwehr kam, und versuchte, das Schlimmste zu verhindern. Mithilfe der Nachbarn konnten zumindest alle Tiere vor den Flammen gerettet werden, aber der Hof brannte bis auf die Grundmauern nieder. Die Feuerwehr konnte das Wohnhaus noch retten. Innerhalb eines Jahres wurde alles wieder neu aufgebaut, und meine Eltern stellten auf Bullenmast um. Die Milchwirtschaft bedeutete viel Arbeitsaufwand, und mein Vater wollte die Zeit lieber in den Bergen als auf dem Bauernhof verbringen.
In dieser Zeit kündigte sich ein weiterer Huber an. Kurz vor Silvester 1968 bekam ich einen Bruder, Alexander. Ein schöner Bub, wenn man die Fotos von damals betrachtet. All diese doch sehr einschneidenden Ereignisse sind heute komplett aus meinen Gedanken verschwunden, die erste bewusste Wahrnehmung, die ich aus meinen Erinnerungen filtern kann, ist, dass der neue Bauernhof eine komplett betonierte Hoffläche besaß, die sich später perfekt zum Gokartfahren eignete. Unser Vater baute sich in dieser Zeit ein zweites Standbein auf und machte eine Banklehre, die Mutter erledigte die Stallarbeiten, wir spielten im Garten und auf dem Hof. Damals war uns allerdings nicht bewusst, wie wichtig die Berge für unseren Vater waren. Er war fast jedes Wochenende weg, unterwegs zu einem senkrechten Abenteuer.
Als ich etwa vier Jahre alt war, hatte unser Vater einen Kletterunfall. Er stürzte an der Nordwand der Bischofsmütze im Dachstein 30 Meter ins Seil, zog sich eine tiefe Fleischwunde am Schienbein zu und landete im Krankenhaus. Als wir unseren Vater am Krankenbett besuchten, erklärte er uns, was passiert war. Das war der Moment, in dem ich mir schwor, nie in die Berge zu gehen, und ich wollte auch nicht, dass mein Vater es tat. Berge waren für mich gefährlich und tödlich. Sie wollten mir meinen Vater wegnehmen!
Er ließ sich jedoch von diesem Zwischenfall nicht von seiner Leidenschaft, dem Klettern, abhalten, aber er konfrontierte uns nicht mehr mit seinen Bergabenteuern. Ein Wanderurlaub in den Dolomiten bestätigte meine Abneigung gegenüber den Bergen. Wie sinnlos war es doch, sich mühsam einen Berg hinaufzuquälen, und ich wehrte mich lautstark gegen jede weitere Bergaktivität.
Abgesehen von dieser Abneigung, erlebte ich meine frühe Kindheit wie einen bunten Bilderbogen. Von den Lausbubenstreichen mit meinen Freunden aus dem Dorf über den Kindergarten mit der zornigen Klosterschwester, die uns beim Schwätzen übers Knie gelegt hat, bis hin zu den ersten Skifahrversuchen am Pallinger Berg sowie den unzähligen Besuchen bei unseren Omas. Obwohl es unsere Opas gab, wurden die Häuser unserer Großeltern immer „bei der Pallinger Oma“ oder „bei der Tyrlbrunner Oma“ genannt. Und die Oma-Häuser waren von ihrer Art sehr unterschiedlich, wie eben auch die beiden Dörfer: Gegen das bäuerliche, wildromantische Tyrlbrunn, fünf Höfe, eine Kirche, war Palling ein modernes, großes Dorf. Es hat eine Kirche, einen Friedhof, eine Schule, ein Kloster, eine Wirtschaft, einen Metzger, einen Bäcker, ein Lebensmittelgeschäft, eine Apotheke, einen Landarzt und sogar einen Zahnarzt. Eben alles, was man zum Leben braucht. Nach Osten erstrecken sich die Felder der Bauern in die leicht hügelige Voralpenlandschaft, nach Westen wird das Dorf vom bewaldeten Pallinger Berg begrenzt, der sich wie ein 100 Meter hoher und 10 Kilometer langer Wall von Nord nach Süd erstreckt und dessen Grund von der letzten Eiszeit geformt wurde.
Die Pallinger Oma lebte in einem kleinen separaten Haus neben unserem Hof und hatte immer etwas zu naschen. Sie erzählte viele Geschichten von damals, Opa hingegen sprach vom Krieg. Er war sowohl im Ersten als auch im Zweiten Weltkrieg als Sanitäter an der vordersten Front gewesen. Er berichtete von der Kameradschaft, aber vor allem von der Sinnlosigkeit des Krieges.
In Tyrlbrunn dagegen lebten wir nur die Gegenwart. Es war ein großer, schöner alter Vierkanthof, draußen vor dem Haus stand eine riesige alte Eiche, und hinter den Stallungen gab es einen großen Bauerngarten, wo es immer süßes Obst und Beeren zu pflücken gab. In meinen Gedanken rieche ich heute noch das Haus, eine Mischung aus Stallgeruch und frisch gekochtem Essen. Wenn ich in Tyrlbrunn übernachten durfte, war ich voll eingebunden in das bäuerliche Leben. Zum Morgengrauen wurden wir vom Hahn geweckt, in der Küche knackte das Holz im Ofen, auf der großen eisernen Kochplatte stand der Milchtopf, und Oma machte mir einen warmen Kakao, auf dem sich durch die frische Milch vom Stall normalerweise eine feine Haut bildete. Auch wenn sie mir oft sagte, es sei gesund und mache mich stark, grauste es mich vor dieser schlabbrigen Süße. Also bekam ich meinen Kakao immer ohne Haut, und dazu gab es meist ein Marmeladebrot. Opa trank frisch gebrühten Kaffee mit viel Milch und drei Esslöffeln Zucker. Dazu rauchte er seine Pfeife. Ich durfte auch einmal Opas Gebräu probieren, und das ist vermutlich der Grund, warum ich bis heute meinen Kaffee nie mit viel Milch und absolut zuckerfrei trinke. Dann ging es in den Stall, Kühe füttern, melken und auf die Weide treiben. Anschließend machten wir uns im Hühnerstall auf die Eiersuche.
Oma war meist in der Küche beschäftigt, sie backte Brot, kochte Marmelade ein und bereitete mindestens einmal meine Leibspeise zu, wenn ich bei ihr zu Besuch war: eine selbst gemachte Rindssuppe mit Nudeln, dazu Schnittlauch, so viel Pfeffer, dass die Augen wässerten, und Dampfnudeln. Da stand dann am Herd ein großer Eisentopf mit einem Holzdeckel und mit Leinentüchern umwickelt, und nur die Oma wusste, wann sie fertig waren, die Dampfnudeln. Oben weiß flauschig und unten eine resche süßliche Kruste, die sogenannte Printsch. Und wehe, es öffnete jemand aus lauter Neugierde den Holzdeckel zu früh, dann war alles umsonst. Dampfnudeln brauchen eben ein Gespür, und das hatte die Oma. Dazu gab es dann noch selbst gemachtes Apfelkompott. Ja, die Oma war die Beste, und Tyrlbrunn war für uns die schönste Zeit.
Kurz nachdem unser Pallinger Opa mit 82 Jahren gestorben war, gab es ein deutsch-amerikanisches Militärmanöver in unserem Dorf, und ich durfte eine Runde mit dem Panzer mitfahren. Daraufhin erzählte mir mein Vater die Geschichte, wie mein Opa auf einen amerikanischen Panzer geklettert war, als Palling von den Nazis befreit wurde.
Im Winter 1944/45 begann sich das Ende des Krieges abzuzeichnen. Immer öfter flogen jetzt die Bomber der Alliierten über Palling Richtung Salzburg. Beim Ton der heulenden Sirenen stiegen die Dorfbewohner in den Kartoffelkeller und warteten bange Stunden bis zur Entwarnung. Oft war in der Nacht der Himmel gegen Osten nach einem Luftangriff hell erleuchtet, und dem kleinen Thomas, meinem Vater, war klar, dass diese Zeit nur den Tod brachte. Der kleine Thomas war froh, dass sein Vater nach einer Verwundung nicht mehr an die französische Front zurückmusste und dass dann endlich der Krieg zu Ende war.
Dorf für Dorf wurde von den Amerikanern eingenommen, und als dieser Moment Palling bevorstand, besaß der Bauer vom Riedlhof, mein Opa, den Mut, mit einem weißen Bettlaken auf den Pallinger Berg zu gehen, um die anrollende amerikanische Panzerkolonne zu empfangen und zu signalisieren, dass sich Palling friedlich ergeben würde. Als die Panzer vom Pallinger Berg rollten, stand der kleine Thomas mit seiner Mutter und den Dorfbewohnern im Dorfzentrum. Auf dem ersten Panzer saß sein Vater, im Rücken die Waffe eines Amerikaners im Anschlag. Im Dorf herrschte eine geisterhafte Stille, und alle blickten auf den Riedlbauern. Diesen Moment sollte der kleine Thomas nicht mehr vergessen. Zum einen war er so stolz auf seinen Vater, und gleichzeitig verspürte er diese lähmende Angst, der Willkür eines anderen ausgeliefert zu sein.
Als mein Vater diese Geschichte erzählte, spürte ich, wie stolz er auf seinen Vater war, wie sehr er ihn bewunderte für seinen Mut.
Auch ich liebte meinen Vater, und es könnte für mich keinen besseren geben. Aber das, womit ich nicht zurechtkam, war, dass ich Angst hatte, mein Vater würde eines Tages nicht mehr aus diesen gefährlichen Bergen zurückkommen. Und doch wollte ich ihn jetzt verstehen, warum er in die Berge ging. Ich wollte wissen, warum man sich freiwillig einer tödlichen Gefahr aussetzt, und er begann mir einige Geschichten aus seinem Bergsteigerleben zu erzählen. Erst die von den harmlosen, schönen Klettererlebnissen. Als ich aber eifrig zuhörte, packte er seine noch verrückteren Abenteuer aus, von Winterbegehungen mit kalten Biwaknächten, steilen Kletterfahrten mit seinen Bergspezln an den heimischen Bergen, vom Wilden Kaiser, von den Berchtesgadener Alpen und auch den großen Wänden wie Droites-Nordwand, Walkerpfeiler in Chamonix oder Matterhorn-Nordwand.
Jedes Abenteuer war eine Geschichte für sich, und er erzählte sie so voller Spannung und Leidenschaft, dass ich merkte, dass sich hinter diesem heroischen Bergsteigerleben viel mehr verbarg als „nur Bergsteigen“.
Er nahm mich das erste Mal in seine Berge mit, weil ich es wollte. Ich erlebte plötzlich eine ganz neue Welt, die nichts mehr mit dem zu tun hatte, wie ich sie zuvor erlebte. Mein Vater ließ mich auf kleine Felsen klettern und erklärte mir Griff- und Tritttechniken, zeigte mir Wände, die er mit verschiedenen Bergspezln durchstiegen hatte. Er erzählte mir von einer Schönheit und Freiheit, die man nur in den Bergen finden kann, und von diesem Moment an hatte ich ihn verstanden.
Wie mein Vater die Berge für sich entdeckte
Als kleiner Bub ging er oft an einem schönen Tag nach der Schule über einen Feldweg auf einen kleinen Hügel einige Kilometer weit weg vom Dorf, saß auf einer Wiese und schaute in die Berge. Er studierte neugierig mit seinem wachen Blick die Bergwelt, und er kannte schon bald alle Grate, Spitzen, schroffen Flanken, ohne einen einzigen Namen der einzelnen Gipfel zu wissen. Das wurde immer mehr zu seiner Welt, und in diesem Panorama steckte seine ganze Sehnsucht. Er hatte alle sichtbaren Berge in Gedanken schon mehrmals bestiegen, bis endlich sein Onkel von seiner Spinnerei etwas mitbekam und seinen Bergen die richtigen Namen gab: Dachstein, Watzmann, Untersberg und Wilder Kaiser. Mit dem Onkel war er dann auch das erste Mal unterwegs, mit Halbschuhen und Sonntagsgewand hinauf auf die Reiteralpe zur Wartsteinhütte und am nächsten Tag weiter Richtung Häuselhorn. Normalerweise schlängelt sich ein gut begehbarer Weg dort hinauf, aber der kleine Thomas war überall, nur nicht auf dem Weg. Wie ein verspieltes Gamskitz kletterte er auf alle Felsen oder sprang von Stein zu Stein, selbst die mahnenden Worte des Onkels konnten seinen Übermut nicht bremsen. Es war der beste Tag in seinem bisherigen Leben, und ab jetzt sollte sich vieles ändern.
Am Pallinger Berg gibt es eine Besonderheit, nämlich einen 20 Meter hohen Steinbruch aus Nagelfluh. Hier suchte sich Thomas seine Linien durch die Wand. Über eine kleine Felsstufe, Bänder und Rampensysteme fand er steile Aufstiege, alles mit Halbschuhen und viel Mut. Für ihn war es die beste Vorbereitung für seine neuen Bergabenteuer. Sein Onkel, vielleicht die einzige Person, die ihn wirklich verstand, schenkte ihm das Buch Das Klettern im Fels des „Kaiser-Papstes“ Franz Nieberl. Am Wochenende fand man den 13-jährigen Thomas immer weniger in der Sonntagsmesse, stattdessen radelte er heimlich in die Chiemgauer Berge und stieg auf den Hochfelln, den Rauschberg, den Hochgern und auch in die Hörndlwand.
Hörndlwand, allein dieser Name war für ihn schon spannend. Der Gipfel kann zwar über die Südseite leicht erwandert werden, aber gegen Norden gibt es eine gut 150 Meter hohe und extrem steile Wand. Als er unter dieser Wand stand, sah er das erste Mal Kletterer. Er beobachtete jeden Schritt, jedes Manöver und suchte nach weiteren kletterbaren Wegen durch die Wand.
Am linken Rand der Nordwand des Hörndls entdeckte er eine vielleicht für ihn machbare Aufstiegsmöglichkeit. Ein tief eingeschnittener Kamin führt auf einen scharfen Grat und dann weiter zum Gipfel. Dieser senkrechte Anstieg durch die Wand, der Redwitzkamin, ging dem Buben nicht mehr aus dem Kopf. Als er wieder nach Hause geradelt war, waren seine Eltern wie immer nicht begeistert. Doch er ließ sich von niemandem abhalten. Er hatte einen Plan und trainierte weiter im Steinbruch seine Kletterfähigkeiten. Zudem hatte er festgestellt, dass ein Halbschuh mit Gummisohle eine bessere Reibung bot.
Mit seinen 13 Jahren fühlte er sich nun stark genug, radelte in die Berge, stieg wieder auf zu seiner Route an der Hörndlwand. Mit großem Selbstbewusstsein stemmte er sich den Kamin hoch bis zu einen Klemmblock, der ihm den Weg versperrte. Jetzt umzudrehen wäre nicht heldenhaft gewesen, und deshalb gab es für ihn nur einen Weg, und der führte nach oben. Zumindest wurde das in dem Buch, das er studiert hatte, so beschrieben: Bergsteigen heißt, mit Mut den Gefahren zu begegnen und sie mit Können zu beherrschen. Und er war fest entschlossen, ein richtiger Bergsteiger zu werden. Also stemmte und zog er sich mit aller Kraft über den Überhang, in der Hoffnung, dass es danach leichter weitergehen würde. Stattdessen aber wurde es noch schwieriger, und erst jetzt wurde ihm klar, dass hier ein heldenhaftes Vorgehen ein großer Fehler wäre. Seine Beine begannen zu zittern, er bekam die berühmte „Nähmaschine“ zu spüren, die wenig später den ganzen Jungen durchschüttelte. Er sah keinen Weg nach oben, keinen Weg nach unten, es schien ausweglos. Nur eines war sicher, es würde nach unten gehen, entweder im Sturz oder doch kletternd.
Er schaffte es, am Leben zu bleiben, aber wie, das konnte er nicht mehr nachvollziehen. Demütig und kleinlaut radelte er zurück nach Palling, und dieses Erlebnis hinterließ einen bleibenden Eindruck. Jetzt mit dem Gedanken des Bergsteigens aufzuhören hieße aber, am Bauernhof zu sein, sonntags im feinen Gewand und mit Hut in der Kirche zu stehen. Das war nicht seine Welt. Er fand in der Musik eine neue Form, aus der von seinen Eltern vorgegebenen Wirklichkeit zu fliehen, und spielte Geige. Aber die Berge konnte er nach wie vor nicht aus seinem Leben streichen.
Nach diesem Erlebnis an der Hörndlwand ließ er die Wände links und rechts liegen und war auf den leichteren Graten unterwegs, oft in den Berchtesgadener Alpen. Am Gipfel der Watzmann-Südspitze schleuderte er seinen Sonntagshut in die Ostwand. Das war für ihn eine Befreiung aus seinen familiären Zwängen, eine Rebellion, um sich selbst zu finden. Und das konnte er am besten in den Bergen und in seiner Musik. Wenn er allein auf einem Gipfel stand und es war still, hörte er in seinem Kopf ein Violinkonzert von Beethoven, und wenn er zu Hause die Geige spielte, spürte er die Sehnsucht nach den Bergen. Erst als er diese eigene Welt für sich gefunden hatte, fand er auch die Balance in seinen familiären Pflichten als Bauernsohn.
Das Erlebnis in der Hörndlwand war mittlerweile schon vergessen, und mit 16 wurde er Mitglied des Trostberger Alpenvereins, kletterte seine erste richtige Route in Seilschaft mit dem Teisendorfer Walter Kellermann, die direkte Westwand am Kleinen Watzmann im unteren 5. Grad. Er kletterte ohne Angst, und seine Bewegungen waren so geschmeidig, als ob er noch nie etwas anderes gemacht hätte. Das Eis war gebrochen, er wusste nun, was er konnte, und das Selbstbewusstsein des heranwachsenden Thomas war doppelt so groß wie er selbst.
An einem sonnigen Wochenende fuhr er mit seinen neuen Kletterspezl Franz Dürrschmied mit vollgepacktem Rucksack auf ihren 200er Zündapps nach Berchtesgaden zur Scharitzkehlalm im Endstal. So könnte man sich das Paradies im Kletterhimmel vorstellen: eine sattgrüne Almwiese, mittendrin ein uriger Almkaser und darüber eine bis 500 Meter hohe Felsarena. Links oben der Kehlstein. Von hier zieht der zackige Mannlgrat bis zum Gipfel des Hohen Göll. Darunter liegen die oft kompakten Felswände, und das Endstal ist ein Tal, das hier an einer massiven Felswand ein Ende findet. Es wirkt wie ein überdimensionaler Felskessel. Die Wände wachsen spektakulär aus dem Schuttkar, von allen Seiten sind sie kompakt, anfangs überhängend, von bester Felsqualität. Deutlich heben sich mit Risssystemen der Große und der Kleine Trichter ab. Ein Eldorado aus Fels, gemacht für große Abenteuer, vielleicht für viele Generationen.
Die beiden Burschen banden sich mit einer speziellen Knotentechnik ins Seil, einen Klettergurt kannten sie zu dieser Zeit noch nicht, und stiegen in die Wand ein. Franz sicherte mit einer Seilführung über die Schulter, und Thomas meisterte die ersten Schlüsselstellen gekonnt. Dann brach ein Griff, und Thomas stürzte mehrere Meter ins Seil. Franz konnte den Sturz mit der Schultersicherung abfangen, und sein Partner zeigte sich gänzlich unbeeindruckt vom ersten Sturz in seiner Bergsteigerkarriere. Er dachte sich in diesem Moment nur, wenn er damals an der Hörndlwand ein Seil und einen Kletterpartner gehabt hätte, wäre er schon viel früher ein richtiger Kletterer geworden. Das Seil gab ihm jetzt das Gefühl, dass Gefahren in einer senkrechten Wand beherrschbar waren und die Grenzen beliebig weit nach oben geschraubt werden könnten.
Durch den Sturz hatte eines der beiden Seile einen Mantelschaden. Aber jetzt umzudrehen kam für beide nicht infrage. In der Abenddämmerung erreichten sie das Ende der Schwierigkeiten, wo so manche Bergsteiger mit einem Handschlag und einen „Berg Heil“ das Abenteuer beendeten. Nicht aber die beiden, denn für sie endete noch jede Klettertour erst am Gipfel. Sie stiegen die letzten 500 Meter durch leichtes Gelände hinauf, und als sie ihre erste Route im sechsten Schwierigkeitsgrad besiegelten, war es bereits stockdunkel. Stolz und überglücklich suchten sie sich ohne Taschenlampe den Weg ins Tal, bevor es müde und zufrieden auf ihren Zündapps zurück in die Heimat ging. Zu Hause brannte noch Licht, und Thomas fand im Kerzenschein seine beiden Eltern im Bett aufrecht sitzend und betend. Sie sahen schlecht aus und hatten schon mit dem Schlimmsten gerechnet.
In der nächsten Alpenvereinsversammlung wurden Franz und Thomas vom Zeugwart lautstark über den unverantwortlichen Umgang mit dem Eigentum des Alpenvereins belehrt und dazu aufgefordert, das beschädigte Seil sofort zu ersetzen. Da stand Steff Rausch, ein erfahrener Bergsteiger, auf und hielt ein Plädoyer für die Jugend und ihre Heldentaten, das sich gewaschen hatte. Er erklärte, dass man sich nur schämen könne für das Verhalten des Alpenvereins. Es wurde mucksmäuschenstill, keiner traute sich, etwas dagegen zu sagen. Für Thomas war dieser Moment der Ritterschlag zum Bergsteiger.
Die Burgmauer in Stein an der Traun wurde zum neuen Treffpunkt der Kletterjugend des Trostberger Alpenvereins. An dieser unverputzten Nagelfluh-Mauer fand man Leisten und Löcher, und alles war auch kompakter und von besserer Felsqualität als der Pallinger Steinbruch. Außerdem konnte man perfekte Quergänge in Absprunghöhe klettern, und die Mauer bot die besten Voraussetzungen, die Finger zu trainieren und die Tritttechnik zu verfeinern. Aber vor allem schmiedeten sie hier die Pläne fürs Wochenende.
Mittlerweile war die Schule abgeschlossen. Thomas übernahm am Bauernhof eine Mitverantwortung, ging einmal die Woche in die Berufsschule für Landwirtschaft – und am Abend nach der Arbeit oft zum Treffpunkt an der Steiner Burg und am Wochenende mit seinen Kletterpartnern in die Berge, um eine steile Wand zu durchsteigen. An die zahllosen simulierten Herzinfarkte seiner Mutter hatte er sich gewöhnt, das gehörte mittlerweile zum allwöchentlichen Abschiedszeremoniell. Danach war er in seiner Welt, in Berchtesgaden an den Mühlsturzhörnern, am Göll und am Untersberg, im Gesäuse, im Dachstein und im Wilden Kaiser. Er übernahm meist den Vorstieg, wenn es schwierig wurde, und war bekannt als geschmeidiger, mutiger Kletterer. Nie hatte Thomas Probleme, einen Partner für seine senkrechten Abenteuer zu finden, denn er verstand es, mit allen alpinen Unwägbarkeiten umzugehen. Wurde es bei der Durchsteigung einer Wand zu früh dunkel, wurde biwakiert. Kam ein Wettersturz, fand er immer einen Ausweg. Er erweiterte seinen bergsteigerischen Wirkungsradius bis in die Zentralalpen und entdeckte für sich die Liebe zum kombinierten Gelände, dem Klettern in Eis und Fels. Er meisterte sämtliche Routen der Großglockner-Nordwand und ebenso die Königsspitze- und die Ortler-Nordwand.
Das hochalpine Bergsteigen wurde dann bald zu seiner neuen Leidenschaft, denn diese Berge sind einsamer, höher und weitläufiger als die der Nordalpen, und sie boten aus der Sicht von Thomas ein noch größeres Betätigungspotenzial. Für ihn waren die Wände der Alpen mit ihren logischen Anstiegen bereits erschlossen, und somit hatte er keine große Motivation, eine für ihn unlogische Erstbegehung zu machen. Auch wenn einige Kletterer damals neumodern eine Direttissima in eine steile Wand hämmerten, von Haken zu Haken an einer Leiter baumelnd, war das nicht sein Stil. Er wollte sich bewegen, frei klettern oder noch besser im kombinierten Gelände große Wände durchsteigen.
Mit 22 Jahren lernte Thomas ein Mädchen aus dem Nachbardorf Tyrlbrunn kennen. Sie kam ebenso von einem Bauernhof, hatte ebenfalls den Familiennamen Huber, wobei jedoch keine verwandtschaftliche Verbindung bestand. Sie war froh, zum elterlichen Bauernhof eine Abwechslung zu erleben, und ihm gefiel es, sie mit dem Motorrad abzuholen und für ein Wochenende in die Berge zu flüchten. Meist blieb Maria auf der Hütte, oder sie wanderte über einen leichten Weg auf einen Gipfel, während Thomas mit einem Spezl eine schwierige Route kletterte. Maria muss beeindruckt gewesen sein, denn sie waren schon bald jedes Wochenende gemeinsam unterwegs.
Als die beiden sich wieder einmal auf der Griesneralm im Wilden Kaiser einquartierten, wurde Thomas von seinem Kletterpartner versetzt. Er schaute hinauf zum Predigtstuhl und studierte die steile Nordkante. Es dauerte nicht lange, dann hatte er einen neuen Plan. Das war seine Stärke, er konnte mit allen Gegebenheiten umgehen und machte immer das Beste aus der Situation. Er zeigte Maria die Nordkante und meinte nur, dass alles viel wilder aussehe, als es in Wirklichkeit sei, und es wäre der beste Klettereinstieg für sie. Thomas schwärmte mit einer derartigen Begeisterung, dass Maria in diesem Moment nicht Nein sagen konnte. Oder vielleicht waren die Liebe und das Vertrauen größer als die Angst vor dieser steil aufragenden Nordkante.
Sie schaffte es und erlebte alles, was man bei einer ersten Klettertour erwarten konnte: schöne Momente, aber auch Situationen, in denen es kein Vor und Zurück gab; alles an Kraft einzusetzen und es dann doch zu meistern; bedingungsloses Vertrauen in den Partner; das Gefühl von der Ausgesetztheit über einem bodenlosen Abgrund und die dazugehörige Bergsteigernähmaschine. Als sie schließlich mit Thomas im Nebel am Gipfel stand, war alles vergessen. Sie war so glücklich über das Erlebte.
Nach diesem Bergerlebnis war Thomas sehr stolz, so ein Mädchen als Freundin zu haben. Er hatte nun eine Kletterpartnerin mehr, und auch wenn Maria immer Angst hatte, wenn sie mit ihm am Seil unterwegs war, so war das Erlebte mit nichts aufzuwiegen. Für beide war bald klar, sie gehörten zusammen und wollten das Leben gemeinsam verbringen. Und obwohl sich beide vorstellen konnten, den bäuerlichen Alltag hinter sich zu lassen und einen Neuanfang in den Bergen zu starten, wobei Thomas seinen Lebensunterhalt als Bergführer verdienen würde, übernahmen sie dennoch den Riedlhof, den elterlichen Bauernhof in Palling. Aus Respekt seinen Eltern gegenüber.
1965 heiratete Thomas seine Maria, sie bewirtschafteten den Hof mit Hühnern und Kühen, und ziemlich genau ein Jahr später kam ich als ihr erstes Kind auf die Welt, zwei Jahre später folgte mein Bruder und nach weiteren vier Jahren meine Schwester Karina.
Mit sechs Jahren wurde ich eingeschult, und ich gehörte nicht gerade zu den Vorzeigeschülern, denn meine Gedanken verloren sich meist in den Bergen. Deshalb erlebte ich die damals noch sehr raue und oft auch schmerzhafte Seite der pädagogischen Maßnahmen unserer Lehrer. Umso mehr wirkten die Berge auf mich wie eine Befreiung.
Mit zwölf Jahren durfte ich bei einer Skitourenwoche in die Ötztaler Alpen dabei sein, meine ersten Dreitausender. Nur Alexander durfte nicht mit. Aus der Sicht unserer Mutter war er mit zehn Jahren für eine Unternehmung wie diese noch zu jung und auch zu klein. Nach Similaun, Fineilspitze, Wildspitze und Hinterer Schwärze hatte ich Tränen in den Augen, und mein Vater versprach mir, im nächsten Jahr die Viertausender anzugehen.
Es hört sich alles schön und gut an, fast wie ein perfekt illustriertes Bilderbuch. Aber jedes Yin hat auch ein Yang, und das gab es auch in meiner kleinen Bergsteigerseele. Im Gegensatz zu Alexander, der schon damals ein kluges Köpfchen war, tat ich mich nach wie vor ausgesprochen schwer in der Schule. Ich war ein wenig zu rebellisch, zu vorlaut. Zwar lernte ich durchaus, aber es blieb nichts hängen, und ein korrigiertes Diktat war mehr rot als tintenblau. Trotzdem wollten meine Eltern unbedingt, dass ich auf das Gymnasium ginge, denn mit dem Abitur würde alles möglich sein. Ich bemühte mich, lernte auf Teufel komm raus, denn mein Vater versprach, mit mir klettern zu gehen, wenn ich auf das Gymnasium ginge. Ich schaffte mit Ach und Krach den Übertritt.
Wir hatten eine gute Klassengemeinschaft, ich schloss gleich gute Freundschaften und bekam schon in der ersten Woche den Spitznamen Toffi verpasst, weil ich unter der Schulbank oft eine Schachtel Toffifee als Nervennahrung bunkerte. Den Namen sollte ich die ganze Schulzeit über behalten. Außerdem hatten wir in unserer Klasse richtig tolle Mädchen, speziell eines, Mara. Sie hatte schulterlanges braunes Haar, dunkle Augen und ein so liebes Lächeln, dass ich vom ersten Moment an schwer verliebt in sie war. Sie selbst war auch nicht die Beste im Unterricht, also passten wir schon mal gut zusammen. Ich sah sie immer frühmorgens, wie sie vor der Schule versteckt im Hinterhof mit anderen Schülern stand und heimlich rauchte.
Ich probierte das mit dem Rauchen auch, denn ich wollte dazugehören, und bald trafen wir uns in der Pause, schlüpften durch den Zaun des Schulgeländes und rauchten zusammen. Im Herbst ging es dann ins Schullandheim in den Bayerischen Wald. Ich hatte wie eben auch Mara Zigaretten dabei und eine kleine Flasche Rum, den ich von zu Hause heimlich mitgenommen hatte. Am letzten Abend war ich mit ein paar Jungs bei den Mädchen, wir rauchten auf dem Balkon, und Mara nahm einen Schluck zu viel von diesem Rum. Leicht beschwipst konnten wir unsere Nachtaktion nicht mehr verheimlichen, als unsere Lehrer bei uns vorbeischauten.
Nach dieser Aktion hatte mein Vater alle Hände voll zu tun, damit ich während der fünften Klasse nicht von der Schule flog. Seither war der Name Toffi an der Schule bekannter als meine Person. Vielleicht war ich ein wenig anders als meine Mitschüler, etwas wilder und unberechenbarer, und für manche Lehrer passte ich nicht in ihr klar strukturiertes Bild. Ich trug viel Energie in mir, und die konnte ich am besten beim Sport ausleben. Zudem entdeckte ich während der Anfangszeit den Rock ’n’ Roll, und ich war dann Sänger und Gitarrist in einer Schulband. Wir nannten uns Move On und spielten Klassiker wie Skandal im Sperrbezirk von der Spider Murphy Gang oder Alles klar auf der Andrea Doria von Panik-Udo. Die Klasse schaffte ich gerade eben so. Mara leider nicht, und sie verließ die Schule. Nie brachte ich den Mut auf, ihr meine Liebe zu gestehen.
Als die Sommerferien begannen, war sie endlich da, die ersehnte Freiheit. Mein Vater löste sein Versprechen ein, und wir durchstiegen die Südwand am Untersberg, eine Route im 3. Schwierigkeitsgrad. Auf dem Gipfel des Berchtesgadener Hochthrons war ich überglücklich, und im Abstieg redeten wir nur noch übers Klettern. Zu Hause schrieb ich dann voller Stolz die ersten Zeilen in mein Tourenbuch: „Untersberg-Südwand, Schwierigkeit 3+, heißes Wetter, mit Vati meine erste Klettertour.“
Ein paar Wochen später kletterten wir noch den Fleischbank-Nordgrat im Wilden Kaiser, und ich skizzierte im Kopf einen kühnen Plan: Ich bin jetzt zwölf Jahre alt, und ich klettere schon im oberen 3. Schwierigkeitsgrad im Nachstieg, mit 13 könnte ich es schaffen, einen Dreier im Vorstieg zu klettern, mit 14 dann einen Vierer, mit 15 einen Fünfer und als logische Konsequenz mit 16 dann den (damals) ultimativen sechsten Grad. Dann könnte ich fast alles klettern, was es gibt, weil es nur wenige Routen gibt, die noch schwieriger und mit 6+ bewertet sind, aber das braucht noch viel mehr Erfahrung, denn dieses + ist kein halber Grad, sondern darin wurde alles eingepackt, was nicht mehr bewertet werden kann, weil es extrem schwer ist.
Noch war Alexander nicht in die Planung unserer Bergabenteuer miteingebunden, noch war er zu jung und zu klein. Aber er brannte ebenso für die Berge wie ich. Er studierte wie ich die Bergbücher, und bald kannte er viele der Viertausender der Alpen und die dazugehörigen Höhen auf den Meter genau. Gemeinsam studierten wir Im extremen Fels von Walter Pause, und natürlich waren die Toprouten die „Hasse Brandler“ an der Großen Zinne, die „Cassin“ und die „Schweizer Führe“ an der Westlichen Zinne und allen voran die „Carlesso Sandri“ am Torre Trieste. Sie sahen extrem aus und waren auch am schwierigsten bewertet.
Im darauffolgenden Jahr standen wir schließlich zu dritt auf unserem ersten Viertausender, dem Allalinhorn. Ja, mein Bruder mit seinen elf Jahren war mit dabei und strahlte übers ganze Gesicht, von einem Ohr zum anderen. Ich denke, unser Vater war in diesem Moment sehr glücklich, weil er sah, wie wir beide schweigend nebeneinander auf dem Gipfel saßen und mit kindlicher Neugier in die Ferne schauten. Für ihn sind diese wilden, vergletscherten Berge Sinnbild für eine Freiheit, die man selten woanders findet, und er spürte in diesem Moment, dass wir dasselbe empfanden. Wir steigerten uns von Tag zu Tag, die Berge wurden immer höher, und am Ende standen wir auf der Dufourspitze. Ich war überglücklich darüber, was wir drei in dieser Woche geschafft hatten.
Nach diesen einschneidenden Erlebnissen wurden wir regelrecht ins Klassenzimmer zurückkatapultiert. Tagträumend saß ich in der Schulbank und spürte immer noch den Wind, wanderte in Gedanken mit meinem Bruder durch eine Gletscherspalte Richtung Nordend, wir wedelten durch einen Pulverschneehang ins Tal, saßen nachmittags auf der Hüttenterrasse und sahen über das Matterhorn bis zum Mont Blanc.
In der Zwischenzeit hatten wir den Bauernhof aufgegeben, die Stallungen verpachtet, nur den Wald bewirtschafteten wir noch selbst. Vater arbeitete jetzt fest in einer Bank und hatte neben dem Bauernhaus auf der Wiese einen modernen Neubau gebaut. Unser neues Zuhause. Jedes von uns drei Kindern hatte ein eigenes Zimmer, dazu ein großes Wohnzimmer, ein Esszimmer, eine Küche und das Schönste im Haus: eine bis zum Obergeschoss offene Wohndiele mit einer offenen Holzwendeltreppe vom Keller bis zum ersten Stock. Schnell sahen wir in diesem Raumarrangement gute Klettermöglichkeiten. Eigentlich waren wir beide schon durch und durch Bergsteiger, auch wenn uns dazu noch die notwendige Praxis fehlte. In unseren Vorstellungen kletterten wir bereits überhängende Wände, und wir wussten schon sehr genau, welche Routen wir einmal klettern würden.
Wir holen uns die Berge nach Palling
Am Ortsrand von Palling gab es diesen Steinbruch, in dem schon unser Vater für seine Bergausflüge geübt hatte und seilfrei durch die Wand geklettert war. Obwohl der Glockenturm unserer Dorfkirche mit seinen 74 Metern schon fast monumentale Ausmaße hatte und weit ins Land sichtbar war, hatte der Steinbruch, aus dem seine Quader geschlagen wurden, nur dürftige Felsqualität. Es war Nagelfluh, zusammengepresster Flusskiesel, und das, was nach dem Bau der Kirche übrig war, war meist ein bröseliger Sandhaufen. Aber eine Wand ist eine Wand, und so kletterten wir in diesem brüchigen Fels die Anstiege unseres Vaters.
Die vielleicht besten Trainingsmöglichkeiten boten jedoch die historischen Burgmauern des Raubritters Heinz von Stein. An diesem idyllischen Ort, in einem lichten Wald unter alten Kastanien, war ein etwa vier Meter hoher und acht Meter breiter Teil der alten Burgmauer erhalten. Unser Vater, der in seinen jungen Jahren mit der Jugend des Alpenvereins Trostberg dort ebenfalls schon trainiert hatte, erklärte uns die verschiedenen Möglichkeiten: Da gab’s einen Vierer, einen Fünfer, und das ganz am linken Rand könnte leicht ein Sechser sein. Unser Vater sicherte uns mit einem Seil, und wir kletterten alles bis zum Fünfer.
Eine weitere Klettermöglichkeit entdeckten wir an unserem Apfelbaum im Garten: ein leicht schief gewachsener dicker Hauptstamm, der sich auf zwei Meter Höhe in drei große Hauptäste verzweigte und eine große Baumkrone bildete. Er lieferte jedes Jahr unzählige Äpfel, einen fein säuerlichen Boskop, der sich gut zu Saft verarbeiten ließ. Der Baum war ein Schmuckstück für unseren Garten, er war unser Hausbaum, aber für uns war er noch mehr. Er war das Tor in unsere Fantasiewelt der Bergabenteuer, und jeder Ast wurde nach einer bekannten Kletterroute aus Im extremen Fels benannt. So gab es das „Schweizer Dach“, und natürlich durfte auch die „Carlesso“ am Torre Trieste nicht fehlen. Wir kletterten diese für uns erdachten Routen technisch, mit der Sprossenleiter unseres Vaters. Später versuchten wir, sie hangelnd in freier Kletterei zu bewältigen, lernten alle notwendigen Seiltechniken, bauten Schlingenstände, übten das Abseilen und spielten auch dramatische alpine Szenarien durch, wie die Tragödie von Toni Kurz in der Eiger-Nordwand. Wir wollten lernen, um im Ernstfall Lösungen parat zu haben, die uns halfen zu überleben. Wir fanden in unserem Baum ein nie enden wollendes Potenzial von Möglichkeiten, und rückblickend half uns das, eine verrückte Kreativität zu entwickeln, aus der später viele unserer Erstbegehungen entstanden sind.
Sturm und Drang
Am 18. November 1982 feierte ich zusammen mit Schulfreunden meinen 16. Geburtstag, und rückblickend konnte ich sagen, dass das Jahr ganz gut gelaufen war. Ich hatte das Schuljahr vielleicht nicht mit Bravour, aber immerhin doch bestanden, und um den Namen Toffi war es auch ein wenig ruhiger geworden. Im Trostberger Alpenverein lernte ich zu dieser Zeit den zwei Jahre älteren Fritz Mussner kennen, der wie ich leidenschaftlich gern kletterte. So konnten wir ein großes Problem lösen – dass Alexander und ich nämlich unseren Vater als Seilpartner für unsere alpinen Unternehmungen teilen mussten. Wir fuhren dann zu viert in den Kaiser, ich kletterte mit Fritzi die SO-Wand an der Fleischbank und Alexander mit unserem Vater die Christaturmkante.
Jeder war mit der neuen Situation zufrieden, wobei ich mir schon wünschte, dass ein paar Seiten mehr in meinem Tourenbuch beschrieben wären. Und doch machten wir immense Fortschritte, weil sich für uns das Klettern nicht mehr nur in den selten erreichbaren alpinen Wänden abspielte. Unser Apfelbaum war mittlerweile schon richtig abgegriffen, wir durften von den Eltern aus auch schon allein zur Burgmauer nach Stein radeln, und wir inhalierten regelrecht das Klettermagazin Der Bergsteiger und den Katalog von SportScheck. Das war eine andere Welt, und tief in unseren Herzen war es unsere Welt.
Mittlerweile war die Sechser-Skala aufgelöst, und Kletterer wie Sepp Gschwendtner, Wolfgang Güllich und Kurt Albert meisterten den 9. Schwierigkeitsgrad im Altmühltal und im Frankenjura. Sie trainierten speziell ihre Finger und machten endlos viele Klimmzüge, um dieses Kletterniveau zu erreichen. Wir studierten ihre Trainingsmethoden, dübelten an die Wand unseres Heizungskellers Holzleisten und Tritte, bauten uns einen ersten Klimmzugbalken, und dann ging’s los. Wir machten 100 Klimmzüge an einem Tag, wobei nicht die Summe entscheidend war, sondern das Ziel darin bestand, diese 100 in möglichst wenigen Intervallen zu bewältigen. Das steigerte unsere Ausdauer immens. An unserer Wendeltreppe turnten und hangelten wir, bis die Finger lang wurden.
Vielleicht hatte ein Bild dieses übermotivierte Verhalten ausgelöst. Blaue kurze Hose, nackter Oberkörper, braun gebrannte Muskelberge, schneeweiße Hände von der Magnesia, lange dunkle Haare. Es war Wolfgang Güllich, der mit einer Hand verklemmt im Rissdach des „Alien Roof“ im Yosemite Valley hing. Dieses Bild war gleichzeitig für uns die Antwort, dass das Unmögliche nur in der eigenen Schwäche liegen konnte und Wolfgang Güllich das Unmögliche durch Training und Kraft schon lange überwunden hatte. Er war immer mit seinem Spezl Kurt Albert unterwegs, ebenfalls ein Hüne, wilde Haare, verwegener Schnauzbart, und seine überdimensionalen Muskeln steckten immer in einem zerrissenen, ungewaschenen T-Shirt, der rebellische Style der vertikalen Dirtbags. Zusammen bildeten sie die leistungsstärkste Seilschaft jener Zeit. Kurt, der Visionär und Abenteurer, Wolfgang, der intellektuelle Athlet. Und es war nur logisch, dass Alexander und ich genauso wie die beiden sein wollten.
Im Frühjahr kletterte ich mit Vater im Wilden Kaiser an der Karlspitze-Ostwand, und das Training am Baum, an der Burgmauer und der Wendeltreppe zeigte Wirkung. Ich schrieb in mein Tourenbuch: „Wilder Kaiser, Karlspitze Ostwand ›Göttner‹. Meine erste Rotpunktbegehung, 6 mit Vati.“ Rotpunktklettern war modern und heißt so viel wie im Vorstieg zu klettern und dabei nicht zu stürzen. Die Haken werden nicht zur Fortbewegung, sondern nur zur Absicherung verwendet. Dieser Kletterstil wurde von unseren Idolen Kurt und Wolfgang entwickelt und benannt. Kurt fing an, die Routen, welche sie im Vorstieg „frei und ohne Sturz“ durchstiegen, mit einem roten Punkt zu markieren. Damit war das Rotpunktklettern geboren. Das Verrückte dabei ist, dass diese Farbpinselei an einem Felsen im Frankenjura bis heute der höchste und allein gültige weltweite Standard ist.
Die Schule wurde immer mehr zur Nebensache, und dementsprechend waren auch in manchen Fächern meine Leistungen, bis auf Sport. Dafür machte ich große Fortschritte mit meinen Leistungen an der Steiner Burgmauer. Den Sechser konnte ich mittlerweile mehrmals hintereinander klettern, und ich hatte einen neuen Quergang entdeckt im hinteren Teil der Burganlage. Da bog ein Kletterer mit langen rötlichen Haaren und einem modern getrimmten Kinnbart um die Ecke. Aber bemerkenswert waren seine Oberarme, die mich an Güllich erinnerten. Er grinste mich an und fragte, wie ich heiße.
„Ich bin der Thomas vom Riedlbauern z’ Palling“, antwortete ich ihm.
„Ah, deinen Vater kenn ich, war ja ein super Kletterer damals und ist es immer noch. Ich bin der Gottfried Wallner aus Altenmarkt und klettere viel mit der Jugendmannschaft in Traunstein. Sag, was hast da für einen Quergang?“
Ich erklärte ihm die Griff- und Trittkombination dieses vier Meter langen Quergangs, der an einem sehr dünnen Sprung in der Mauer endete. Für mich sei aber dieser Sprung ein Fingerriss, und der zog vier Meter hoch bis zum Burgfenster. Der sei zwar nicht leicht, aber ebenso kletterbar. Und mein Ziel sei es, die beiden Passagen zu verbinden, also erst der Quergang und dann gleich weiter den Fingerriss hinauf.
Er war sichtlich beeindruckt von meinen Kletterfähigkeiten, auch wenn es mir an diesem Tag nicht gelang, meine Idee umzusetzen. Aber auch Gottfried schaffte es nicht und meinte, wir sollten es wieder einmal zusammen versuchen. Er notierte sich meine Telefonnummer auf einem Zettel und gab mir noch den Tipp, bessere Kletterschuhe zu kaufen, denn dann würde ich es sicher schaffen.
Ich war aufgewühlt, als ich nach Hause radelte. Die Begegnung mit Gottfried, die Traunsteiner Jugendmannschaft, die Kletterschuhe, das gemeinsame Tüfteln an den Klettermoves, Gottfrieds wilde Haarmähne und allem voran sein güllichartiger Bizeps. Ich erzählte alles zu Hause, und vor allem wollte ich von meinem Vater wissen, wer und was die Traunsteiner Jugendmannschaft war. Er lachte und sagte: „In der Traunsteiner Jugendmannschaft sind die besten Kletterer aus unserer Region!“ Sie hätten viele der modernen schwierigen Routen an der Reiteralm-Nordseite erschlossen und seien auch schon auf Expeditionen in Südamerika und im Himalaja gewesen. Elektrisiert von dieser Begegnung hoffte ich, dass Gottfried bald anrief, um wieder an der Steiner Burgmauer an meiner Quergang-Riss-Kombination zu probieren. Aber zuvor brauchte ich noch gute Kletterschuhe.
Zwei Tage später läutete bei uns das Telefon, und Gottfried war dran. Er wollte wissen, ob ich am Wochenende Zeit hätte, um mit ihm zum Wilden Kaiser zu fahren. Er würde gern die „Rebitsch-Risse“ am Fleischbankpfeiler klettern. Mir verschlug es die Sprache. Mein Vater musste schmunzeln und erzählte mir von seinem Abenteuer mit der „Rebitsch“. Er meinte, diese Route gehöre zu den schärfsten Freiklettereien im Wilden Kaiser. 1946 fand Hias Rebitsch zusammen mit Sepp Spiegl als Erster einen kletterbaren Weg durch den steilen Fleischbankpfeiler. Im unteren Plattenquergang musste Hias ein paar Haken zum Überwinden einer Wandstelle benützen. Aber in der oberen Verschneidung bewies er sein meisterliches Können und kletterte sie fast ohne Sicherungen. Viele erfahrene Kletterer sind an diesen Passagen abgeblitzt.
Und ausgerechnet diese Route wollte Gottfried mit mir klettern! Mein Vater reagierte gelassen und meinte nur, mit dem Wallner an meiner Seite könne ich alles klettern, ich musste ihm jedoch versprechen, dass ich die schwierigste Seillänge im oberen Teil der Verschneidung als Seilzweiter klettern würde. Aufgeregt wählte ich die Nummer von Gottfried und sagte zu.
Frühmorgens stand er mit seinem VW Passat vor unserer Hauseinfahrt. „Also, weil wir jetzt bald am Felsen unterwegs sind, bin ich für dich der Godl, so nennen mich alle meine Freunde.“ Ich erzählte Godl alles, was ich von meinem Vater über die „Rebitsch-Risse“ wusste, und dass ich die Schlüssellänge nur im Nachstieg klettern dürfe. Doch er lachte nur, ließ meinen Redeschwall über sich ergehen und meinte, dass wir das alles schon gut schaffen würden.
Godl bietet mir gleich in der ersten Seillänge den Vorstieg an, und ich habe sie auch bald geschafft. Danach übernimmt er, und so kommen wir mit wechselnder Seilführung oder, in der Bergsteigersprache, im Überschlag gut und schnell voran.
Plötzlich stehe ich im Vorstieg auf einem kleinen Felssims und schaue nach oben. Ein schulterbreiter Riss mit einem kleinen Überhang am Ende zieht steil vor mir nach oben. Zehn Meter über mir in der rechten Verschneidungswand steckt ein rostiger Haken, die nächste Sicherung. Das muss die Seillänge sein, von der mir mein Vater erzählte, das Meisterstück des Hias Rebitsch, die Schlüsselstelle, an der schon viele Kletterer kapitulierten. Ich zögere, habe ich doch meinem Vater das Versprechen geben müssen, diese Seillänge im Nachstieg zu klettern. Eigentlich sieht es ja gar nicht kompliziert aus … Ich stemme beide Füße an die rechte Verschneidungswand auf Reibung, die linke Risskante mit beiden Händen auf Zug – diese Technik, das Piazen, habe ich an einem Balken daheim geübt. Damit will ich nur etwas ausprobieren, nur einen Zug machen. Doch weil es sich gut anfühlt, setze ich noch einen hinterher, dann noch einen. Wenig später bin ich schon sechs Meter höher an dem kleinen Dach. Die letzte Sicherung ist schon zu weit weg, und jetzt weiß ich, es gibt kein Zurück mehr.
Ich bleibe ruhig und klettere geschmeidig weiter, so wie mein Vater es mir gezeigt hat, und wenig später schreie ich zu Godl ein lautes „Staaaaaand, juuuhuuuiiihuuuiiii“.
Das war das schönste Seilkommando, das ich bisher in meiner alpinen Laufbahn einem Kletterpartner gegeben hatte. Und darin schwang ein triumphaler Siegesschrei mit. Godl kletterte nach, und beim Vorbeiklettern zwinkerte er mir nur zu und murmelte: „Sauber g’macht, Thomas!“ Oben am Gipfel des Fleischbankpfeilers streckte er mir die Hand zu einem „Berg Heil“ entgegen und meinte, ich sollte unbedingt der Jugendmannschaft in Traunstein beitreten. „Wobei, viele gibt es nicht, Thomas, die mit dir mithalten können, allerhöchsten Respekt!“
Ich wurde rot im Gesicht und konnte nichts mehr sagen.
Die Traunsteiner Jugendmannschaft hat mein Leben von einem Moment auf den anderen umgekrempelt. Hier kannte keiner den Toffi aus der Schule, da war ich nur der Thomas, und ich durfte das erste Mal abends mit Godl in die Kneipe der Kletterer gehen, in die Traunsteiner Festung. Es wurde Bier getrunken, geraucht, es wurden Pläne geschmiedet, lustige und heldenhafte Geschichten aus der Kletterwelt erzählt, und dazu hörte man den Sound von The Doors, Led Zeppelin, Jimi Hendrix, Motörhead, Black Sabbath. Janis Joplins Song brachte das Lebensgefühl in dieser verrauchten Kneipe auf den Punkt: „Freedom’s just another word for nothing left to loose.“
Ich spürte diesen Rock ’n’ Roll durch und durch, war Kletterer mit jeder Faser meines Körpers, und für mich gab es nur noch eine Wahrheit: diese Freiheit zu leben – und die ist für mich in den Bergen und überall dort, wo es Felsen gibt. Ich fand diese Freiheit in der Lösung der Tritt- und Griffkombinationen, egal ob an der Steiner Burgmauer, im Klettergarten Karlstein bei Bad Reichenhall, wo die Traunsteiner trainierten, oder an einer alpinen Wand. Das war zumindest die romantische jugendliche Vorstellung von Freiheit.
Endlich Sommerferien. Der Schulranzen wurde nun für ein paar Wochen in die Ecke gefetzt und gegen den Kletterrucksack ausgetauscht, und mit Godl ging es in die Dolomiten. Wir kletterten die Nordwand der Großen Zinne, die Punta Fiames und als krönenden Abschluss die Cima-Scotoni-Südwand. Wir lagen auf dem Wanderparkplatz in unseren Schlafsäcken unter der Südwand. Über uns der perfekte Sternenhimmel, und ich hatte in mir so eine Vorfreude, endlich am Einstieg zu stehen.
Die „Lacedelli“ würde sicher die schwierigste Route werden auf unserer kleinen steilen Reise durch die Dolomiten. Wie immer fragte ich Godl Löcher in den Bauch, und es ging ausschließlich nur ums Klettern und den morgigen Tag. Von einem Moment auf den anderen kippte die Stimmung, er brummelte mit einem deutlich genervten Unterton: „Deine Fragerei geht mir schön langsam auf den Geist, und sag, gibt’s in deinem Hirn eigentlich noch etwas anderes als Klettern? Frauen zum Beispiel?“
In dem Moment wusste ich gar nicht, was ich sagen sollte, weil ich in Sachen Frauen bisher keine Erfahrungen gemacht hatte. Ich war zwar schon oft verliebt gewesen, hatte aber nie das Glück gehabt, dass die Liebe erwidert wurde. Deshalb antwortete ich ihm nur schüchtern: „Gute Nacht.“
Am nächsten Tag war alles vergessen, und wir kletterten in meiner Welt, wo es nur den Fels und die Bergdohlen gab.
Gegen Ende der Ferien ist es dann so weit. Es braucht viel Überredungskunst, vor allem gegenüber unserer Mutter, dass wir zwei 16 und 14 Jahre alten Brüder auf uns gestellt und eigenverantwortlich für mehrere Tage einen Kletterausflug im Wilden Kaiser machen dürfen. Unser Vater stellt klare Regeln auf. Er schreibt eine Routenliste auf einen Zettel, und nur diese dürfen wir klettern. Die meisten Vorschläge sind im 5. Schwierigkeitsgrad. Die schwierigste ist die „Göttner“ an der Karlspitze, die ich mittlerweile schon zweimal durchstiegen habe. Alexander darf nur im Nachstieg klettern, und wir müssen jeden Tag am Abend über das Hüttentelefon zu Hause anrufen. Regeln über Regeln, aber wir akzeptieren die Bedingungen, weil wir wissen, bloß so haben wir die Möglichkeit, nur zu zweit, auf uns allein gestellt, am Berg unterwegs zu sein. Unser Vater übergibt mir für die kommenden Tage die volle Verantwortung. Ich gehe mit dieser neuen Rolle gelassen um, weil ich in diesem Jahr bereits so viele wertvolle Erfahrungen sammeln konnte und mich irgendwie schon als kleiner großer Kletterer und Bergsteiger fühle.
Unsere Mutter fährt uns mit dem Auto etwas widerwillig nach Elmau. Als wir uns von ihr verabschieden, hören wir nur: „In Gottes Namen wird schon alles gut gehen, und, Buam, passt bitte auf, übertreibt es nicht, und, Thomas, du hast jetzt die Verantwortung!“
„Ja, Mama, es wird ois guad, und freili passen wir ganz guad auf.“
Ein letztes Abschiedsbussi und eine Umarmung der Mutter, und wenig später sind wir beide allein. Jeder mit einem schweren Rucksack am Rücken steigen wir auf zur Gaudeamushütte. Vor uns der Wilde Kaiser – und die Freiheit, dass wir jetzt selbst bestimmen können, wohin wir gehen! In diesem Moment habe ich Vaters Zettel, den ich im Hosensack verstaut habe, schon lange vergessen. Auf der Gaudeamushütte werden wir vom Hüttenwirt Hansjörg Hochfilzer schon erwartet. Unser Vater hat ihn bereits per Telefon informiert, dass wir vier Tage bleiben und welche Routen wir klettern dürfen. So viel zu unserer Freiheit.
Am nächsten Tag haben wir bestes Wetter, und wir steigen auf Richtung Elmauer Tor, ich zeige meinem Bruder alles, was ich schon geklettert bin, „Rittlerkante“ und „Lucke-Strobl-Riss“ am Bauernpredigtstuhl und die „Göttner“ an der Karlspitze-Ostwand, die wir sicher in den kommenden Tagen auch noch klettern werden. Alexander ist begeistert und meint, wenn wir jetzt schon da sind, warum nicht gleich die Karlspitze? Das muss er mir nicht zweimal sagen, schon stehen wir am Einstieg der „Göttner“.
Es ist ein emotionaler Moment, als Alexander und ich den Knoten in unseren Anseilpunkt des Klettergurts fädeln. Jetzt sind wir miteinander verbunden, das erste Mal nur zu zweit am Berg unterwegs, das erste Mal als Bruderseilschaft. Ich klettere die mittlerweile bekannten Kletterstellen, Alexander kommt motiviert hinterher, und gegen Mittag sind wir schon wieder unten im Kar. Für uns beide ist es jetzt noch viel zu früh, auf der Gaudeamushütte unter all den Wanderern zu sitzen. Alexander ist wie ein kleiner, neugieriger Welpe, und ich muss nur seine Blicke studieren, um zu wissen, was er will. Als wir uns an der gegenüberliegenden Alten Westwand des Bauernpredigtstuhls ins Seil einbinden, fragt er mich am Einstieg scheinheilig: „Du oder ich?“
Er will mir zeigen, dass er es auch kann, den Vorstieg, die Königsdisziplin im Klettern, und die Verantwortung in einer Seilschaft zu übernehmen. Und ich weiß, dass er es kann, hat er es doch sowohl an der Steiner Burgmauer als auch heute Vormittag an der „Göttner“ bewiesen, dass er sich an den kleinen Felsleisten gut festhalten kann und seine Klettertechnik ausgezeichnet ist. Wenn er mal eine Stelle nicht klettern konnte, fehlte meinem Bruder lediglich die Reichweite, weil er noch zu klein ist. Aber ihm jetzt den Vorstieg zu überlassen heißt auch, schon am ersten Tag alle Regeln unseres Vaters zu brechen.
Ich spüre, wie sehr es ihn beflügelt, und er versucht, alles perfekt und richtig zu machen. Heute glaube ich, er wollte mir in diesem Moment zeigen, dass er der beste Seilpartner für mich wäre und dass ich mich auf ihn voll und ganz verlassen könnte, wir Brüder als beste Seilschaft.
Nach der vierten Seillänge ist von der Euphorie allerdings nichts mehr zu spüren. Alexanders Unterarme sind steinhart und fast doppelt so dick wie beim Einstieg. „Thomas, ich hab keine Kraft mehr, ich kann keinen Griff mehr halten“, gibt er mir enttäuscht zu verstehen.
„Das ist völlig normal“, versuche ich, ihn zu motivieren, „du hast das bis hierhin absolut perfekt gemacht. Komm, den Rest schaffen wir auch noch!“
Für die letzten Seillängen übernehme ich wieder den Vorstieg, und oben am Gipfel des Bauernpredigtstuhls geben wir uns die Hand und beenden mit einem „Berg Heil“ diesen perfekten Klettertag.
„Alexander, du bist super geklettert“, lobe ich meinen Bruder, und seine leicht geröteten Wangen zeigen mir, dass er stolz ist. Vor vier Monaten habe ich einen ähnlichen Moment erlebt, am Fleischbankpfeiler mit Godl. Ohne ein weiteres Wort sagen zu müssen, wissen wir, dass wir als Seilpartner wie füreinander geschaffen sind.
„Wir haben die ›Göttner‹ gemacht, und Alexander war immer brav im Nachstieg unterwegs.“ Mehr erzählen wir bei dem abendlichen Telefonat mit unserem Vater nicht, weil wir ihn einerseits nicht anlügen und andererseits nicht riskieren wollen, dass wir morgen schon wieder abgeholt werden.
„Schaltet bitte einen Gang herunter und klettert keine schwierigeren Routen!“, sind seine abschließenden Worte. Wetterbedingt befolgen wir am nächsten Tag seine Bitte und klettern im Nebel die „Neue Südwand“ an der Hochgrubachspitze.
Mittlerweile haben wir auch die Sympathie des Hüttenwirts erobert, weil er zum einen beeindruckt ist, welche Routen wir klettern, aber vor allem gefällt ihm, dass wir uns als Brüder so selbstständig und verantwortungsvoll in den Bergen bewegen. Am letzten Tag unseres Kaiser-Ausflugs setzt er deshalb einen Preis aus. Wir wollen noch durch den „Lucke-Strobl-Riss“ auf den Bauernpredigtstuhl, klassisch bewertet mit 6–/A0 und frei mit 6+. „Wenn ihr zwoa den ›Lucke-Strobl-Riss‹ kletterts, ohne Hackl herzunehmen, dann geb ich eich oan aus“, stachelt er uns an. Allein das ist Motivation genug, um am letzten Tag unserer kaiserlichen Ferien alles zu geben. Alexander kämpft, und schließlich stehen wir wieder auf dem Gipfel des „Bauernspitz“, wie der Bauernpredigtstuhl auch genannt wird. Hansjörg Hochfilzer steht zu seinem Versprechen, und Alexander bekommt eine Spezimaß und ich als Älterer eine kühle Radlermaß.
Die Schule hatte uns wieder voll im Griff. Und die wöchentlichen Ausflüge entweder nach Karlstein oder zu einer Alpinroute dienten dazu, unsere Akkus wieder aufzuladen.
Eine Woche vor meinem 17. Geburtstag wurde ich beim Kletterabschied auf der alten Traunsteiner Hütte feierlich in die Traunsteiner Jugendmannschaft aufgenommen. Ziemlich schnell hatte ich von diesem Abend alles vergessen, und am nächsten Tag ging es mir so schlecht, dass ich mir schwor, nie mehr wieder Alkohol zu trinken. Ein Vorsatz, den ich bereits eine Woche später wieder verwarf.
Das folgende Jahr war von einer gewissen Unbekümmertheit geprägt, selbst entscheiden zu dürfen, wohin ich ging. Begleitet wurde dieses Lebensgefühl mit der psychedelischen Rockmusik von The Doors. Diesen Rock ’n’ Roll, diese offensichtliche Freiheit, diese Revolution wollte ich leben. Unangepasst zu sein, obwohl ich mich selbst am meisten anpasste. Ich trug eine schwarze Lederhose mit Nietengürtel, ein weißes Hemd und eine rot-weiße Kette, wie sie auch Jim Morrison getragen hatte. „Break on through to the other side“, die andere Wirklichkeit, das war meine Welt! Ich wollte sie unbedingt erleben, denn in dieser Welt war ich oft unverstanden und wurde als ein introvertierter Spinner abgestempelt.
Mit Godl kletterte ich noch durch die „Directe Americaine“ an der Dru-Westwand in Chamonix, und gegen Ende der Ferien wollten wir Brüder noch ein besonderes Abenteuer erleben. Dort zu klettern, wo noch nie ein Mensch gewesen war, eine Erstbegehung.
Stürzen verboten
Noch in der Dunkelheit werden wir am letzten Ferientag von Mutter morgens nach Reit gefahren, mehrmals müssen wir ihr während der Fahrt versprechen, aufzupassen und nur eine leichte Route zu klettern. Scheinheilig geben wir mit ernster Miene unser Wort. Vielleicht wird unser Vorhaben weniger schwierig als angenommen. Wir werden sehen. Auf jeden Fall wissen wir genau, was wir wollen. Wir wollen echtes Neuland erleben. Über einen Diaprojektor haben wir ein Bild der Wagendrischlhorn-Südwand auf die weiße Wand unseres Schlafzimmers projiziert und studierten dabei jede einzelne Felsstruktur. Es war ein Puzzle, das sich aus Rissen, Platten und Wasserrillen zu einer Traumlinie zusammensetzte, unser Neuland.
Eine Stunde nach Sonnenaufgang stehen Alexander und ich am Einstieg der Wagendrischlhorn-Südwand (Reiteralpe), die Nervosität der Nacht ist längst gewichen. Wir schauen hinauf zu den Platten, unsere fiktive Linie nimmt Kontur an, ja, es müsste gehen, das beruhigt, auch wenn Alexanders einziger Kommentar „Steil!“ lautet.
Er klettert den relativ leichten Vorbau, darüber wird die Wand geschlossen und kompakt. Hier überlässt er mir aufgrund meiner größeren Erfahrung den Vorstieg. Ich sortiere das Material, hänge es an den Klettergurt, bereite mich vor und überprüfe noch einmal alles, Gurt, Seilknoten, meine Gedanken: Das Abenteuer Neuland kann beginnen, ich atme tief durch und mache mich auf ins Ungewisse.
Acht Meter über dem Stand schlage ich einen Normalhaken und quere an guten Griffen nach links in die geschlossene Wand. Obwohl die Schwierigkeiten den sechsten Grad nicht übersteigen, sind meine Bewegungen verhaltener als üblich, ich klettere konzentrierter und exakter als sonst. Schlampigkeit oder einen Fehler darf ich mir nicht erlauben.
Ich lege einen Klemmkeil, dem ich jetzt hundertprozentig vertrauen muss, und schleiche die grifflose Platte nach links, nach drei wackeligen Metern an der Grenze meiner Sohlenreibung erwische ich den ersten guten Griff am Beginn einer schönen, tiefen Erosionsrinne. In diesem Moment kann ich nicht sagen, wie schwer das Gekletterte zu bewerten ist, aber Stürzen wäre definitiv ungemütlich. Die nächsten beiden Seillängen sind spannend, aber nicht so fordernd wie die Platte zuvor. Breite Wasserrinnen und gut strukturierte Platten bringen uns in wunderbarer Kletterei auf ein breites Band. Bislang ist alles bestens gelaufen, der Weg ins Ungewisse deckt sich genau mit der von uns anvisierten Linie.
Doch ab hier scheint es ernst zu werden, ernster noch als unten in der zweiten Seillänge. Zwei parallele, seichte Wasserrillen ziehen 30 Meter durch eine steile, kompakte Wand bis zu einem kleinen Absatz. Das wird der Schlüssel sein, nicht nur in der Schwierigkeit, sondern auch in Sachen Gefährlichkeit. Diese Doppelwasserrinne scheint kaum absicherbar zu sein, dafür ist sie viel zu seicht. Das Herz rutscht mir in die Hose, also machen wir erst einmal Pause auf dem Band. Eigentlich ein schöner Platz: grüne Graspolster zum Sitzen, Sonne, blauer Himmel, dazu diese völlige Abgeschiedenheit in einer wilden Gebirgslandschaft. Doch ich kann es nicht genießen, ich habe ein flaues Gefühl im Magen. Mich beschäftigt im Moment nur eines, die nächsten 30 Meter über uns.
Alexander knabbert an einem Müsliriegel, schaut nach oben und sagt: „Hey, Thomas, ist das ein schöner Fels, ich freu mich schon, diese Seillänge zu klettern!“ Er weiß, dass ich heute die Verantwortung in unserer Seilschaft habe und er das, was über uns kommt, mit Seilsicherung von oben genießen kann.
„Puh, Alexander, so, wie das aussieht, wird das ziemlich wild, ich bin grad a bisserl nervös!“, erwidere ich.
„Ach, Thomas, scheiß da nix, du schaffst des scho. Außerdem werd i di gut sichern, also du schaffst des scho!“
Ich sortiere das Material am Klettergurt, viel brauche ich nicht: 3er- und 3,5er-Friends, insgesamt drei kleine Messerhaken – eigentlich viel zu wenig für eine Seillänge dieser Preisklasse, die bestimmt ein Siebener ist, aber andere Sicherungen werden hier nicht passen, also brauche ich sie auch nicht mitzuschleppen. Wäre alles nur unnötiger Ballast.
Jetzt also bin ich hier, genau da, wo ich sein wollte und wovon ich immer geträumt habe: Neuland, unberührter Fels, vor mir nichts als Ungewissheit. Ich hole noch einmal tief Luft und mache mir bewusst, dass ich in der nächsten halben Stunde alles geben muss. Das Einzige, was jetzt noch zählt und was mich beherrschen wird, ist der kleine Absatz 30 Meter über mir.
Die ersten zehn Meter vom Band sind leichter als erwartet. Ein mehr oder weniger moralisch aufbauender Sicherungspunkt, ein Friend, der mit zwei Segmenten flach in der Wasserrille liegt, gibt nur wenig Sicherheit, beruhigt aber zumindest die Nerven. Bis jetzt ist der Rückweg offen, alle Kletterzüge bis zu diesem Punkt kann ich noch zurücksteigen. Vor mir steilt sich jetzt die Wand auf, die nächsten Meter in eine kleine Wandeinbuchtung scheinen schwierig zu werden. Weiter oben verliert sich die Rille in einer glatten, plattigen Wand. Aber es gibt immer wieder seichte Dellen und Felseinbuchtungen. Sind da versteckte Griffe, vielleicht eine Felsritze, in der ich einen Messerhaken unterbringen kann? Wenn ich aber keine Sicherung unterbringe, die Kletterei zu schwierig ist, was dann? Noch kann ich aussteigen, vernünftigerweise zurücksteigen auf das sichere Band und die Nachmittagssonne genießen. Aber das will ich auch nicht.
Ich versuche also, nicht daran zu denken, was passieren könnte. Ich atme noch mal tief durch und trockne meine Hände mit Magnesia. Dann noch eine sinnbefreite Bitte an meinen Bruder, er solle jetzt gut aufpassen, und ich klettere los. Ich vergesse alles um mich herum, registriere weder Sonne noch blauen Himmel, ich denke nicht mehr an die so verlockenden Graspolster auf dem Band, alles in mir konzentriert sich auf die Qualität meiner nächsten Züge. Und die werden zunehmend wackliger, der Körper beginnt leicht zu vibrieren, ich kann die Kletterschuhe nicht mehr präzise auf die Reibungstritte stellen. Zwei etwas undurchsichtige Züge an winzigen Seitgriffen, dann kann ich mich in der seichten Wandeinbuchtung verspreizen. Nach sechs Metern Kletterei, durchgehend am Limit, die erste körperliche Erholung, aber keine Erholung für die Psyche: Die fragwürdige Sicherung liegt weit unter mir, keinesfalls würde sie jetzt einen Sturz halten, fliegen darf ich nicht, ich würde neben Alexander aufs Band donnern.
Hinter einem kleinen Grasbüschel entdecke ich eine schmale Ritze und verklemme einen kurzen Messerhaken. Zwei vorsichtige Schläge mit dem Hammer, schon fliegt der Haken mitsamt der Schuppe in hohem Bogen hinaus aus der Wand. Ich schimpfe, fluche, bettle selbst den lieben Gott um eine Sicherung an, doch nichts geht, der Fels ist zu kompakt: kein Haken, kein Friend, kein Klemmkeil möglich. Der Rückweg ist abgeschnitten, es ist zum Heulen. Ich stecke in einer Einbahnstraße mit Pfeil nach oben und flehe geradezu, dass sie keine Sackgasse sein möge. Es gibt nur noch eine einzige Verkehrsregel, und die heißt: „Stürzen verboten!“ Ich weiß in dieser Situation, dass die einzige Sicherung ich selbst bin, meine Finger, meine Füße, mein Gehirn. Ich darf jetzt keinen Fehler machen, sonst war’s das.
„Leck mich am Arsch, du musst jetzt, aber du kannst es auch!“, rede ich mir ins Gewissen. Intuitiv setzt mein Körper die richtigen Bewegungen an, Leiste um Leiste wird fixiert, eine Aneinanderreihung schneller und dynamischer Kletterzüge. Ich klettere, weil ich muss, bin am Ende nur noch Betrachter meines Tuns, und endlich spüre ich einen großen Griff in meinen Händen. Geschafft! Der Spannungsabfall verwandelt sich in Übelkeit. Ich würge die letzten Reste meiner Verzweiflung aus dem Körper und wage langsam einen Blick nach unten: Was für eine verrückte Länge!
Alles andere bis zum Ausstieg ist der pure Genuss. Oben klopfen wir uns gegenseitig auf die Schultern, gratulieren uns zu unserer ersten Erstbegehung, zu unserer Linie durchs Neuland. Die Ungewissheit dieser Linie haben wir zu einer Gewissheit gemacht, die sich in Worte fassen lässt: acht Seillängen in bestem Fels, Schwierigkeitsgrad sieben, physisch wie psychisch höchst anspruchsvolle Plattenkletterei. Auch einen Namen haben wir für sie: „Rauhnachtstanz“.
Wir seilen ab und wandern zurück ins Tal. Jetzt sprudelt es regelrecht aus uns heraus, wieder und wieder klettern wir in Gedanken durch die Platten und freuen uns wie zwei Lausbuben nach einem gelungenen Streich.
„Von Berchtesgaden bis Patagonien, vom El Cap bis zum Cerro Kishtwar spannt sich ein Erlebnisbogen, der seinesgleichen sucht.“
„Vom Rock ‘n’ Roller der Berge, der Motörhead liebt und die Freiheit sucht. So muss Bergliteratur sein.“
„Thomas Huber hat in all diese Jahren soviel erlebt, dass seine Biographie sich sowohl als spannendes Berg- und Kletterbuch liest und auch bergsteigerisch nicht so erfahrenen Lesern das positive Gefühl vermittelt, sein Leben so zu leben wie man es im Innersten will.“
„Es ist ein faszinierendes, aufregendes und höchst unterhaltsames Buch geworden.“
„Leidenschaftlich.“
„Ich empfehle Thomas‘ Buch uneingeschränkt weiter – ein tolles Geschenk zu Weihnachten.“
„Wer Thomas Hubers Autobiographie liest, der erfährt nicht nur harte Kletter-Fakten, sondern auch viel Privates, sanftes, absolut authentisches.“
„Unfassbare Erstbegehungen, heftige Abstürze, überstandener Nierentumor – das alles ist hier nachzulesen.“
„Das mit 79 farbigen und zwei schwarzweißen Abbildungen illustrierte Buch liest sich fast so flüssig wie die Hubers durch die Granitwände des El Capitan flitzen.“
„Thomas Huber schafft es mit ›In den Bergen ist Freiheit – ein wildes Leben‹ die ganz großen Emotionen auf die Leser:innen zu transportieren. Der Nervenkitzel bei schwierigen Kletterpassagen oder heiklen Momenten auf Expedition lassen den eigenen Puls schneller schlagen. Über erfolgreiche Gipfelmomente kann man sich mitfreuen, als ob man selbst dort oben stehen würde. Besonders hervorzuheben sind allerdings die persönlichen Gedanken bei bitteren Niederlagen oder schweren Verletzungen. Hier lässt Huber ganz tiefe Einblicke in sein Gefühlschaos zu.“
„Sehr bayerisch, sehr direkt, sehr ehrlich. Huber beweist damit Mut, und genau so ist dieses Buch zu verstehen. Als ein Plädoyer dafür, dass es sich lohnt mutig zu sein.“
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