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Keep me from falling Keep me from falling - eBook-Ausgabe

Hanna van den Valentyn
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Roman

— Romance mit großen Gefühlen und einem mitreißenden Spannungsfall
Paperback (15,00 €) E-Book (9,99 €)
€ 15,00 inkl. MwSt. Erscheint am: 02.05.2025 Bald verfügbar Das Buch kann 30 Tage vor dem Erscheinungstermin vorbestellt werden.
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Keep me from falling — Inhalt

Wem kannst du auf der Suche nach der Wahrheit trauen?

Gerade erst hat Evelyn ihre ältere Schwester Grace am College besucht, doch kurz danach verschwand diese spurlos. Während ihre Eltern die Ermittlungen der Polizei abwarten wollen, versucht Evelyn allein herauszufinden, was geschehen ist – und erhält dabei unerwartete Hilfe von Miles, den sie bisher nur flüchtig kannte. Obwohl ihre Familien unterschiedlicher nicht sein könnten, verstehen sich die beiden sehr gut. In all dem Chaos ist Miles der Einzige, der Evelyn Halt gibt. Der sie zum Lachen bringt. Doch können ihre Freundschaft und die aufkeimenden Gefühle in einer Welt voller Scheinwahrheiten bestehen?


Berührend und hochspannend

Auf der Suche nach ihrer vermissten Schwester findet Evelyn mit Miles mehr als die ersehnten Antworten

€ 15,00 [D], € 15,50 [A]
Erscheint am 02.05.2025
400 Seiten, Klappenbroschur
EAN 978-3-492-06590-0
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400 Seiten
EAN 978-3-492-60950-0
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Leseprobe zu „Keep me from falling“

Evelyn, 24. April

1

„Nein!“ In meiner Stimme liegt ein energischer Unterton. Es war mehr ein Schrei, und ich hole tief Luft, um nicht noch weiter aus der Fassung zu geraten. Grace starrt mich mit aufgerissenen Augen an und versucht, etwas zu erwidern, als ich ihr zuvorkomme: „Ich kann sehr wohl selbst entscheiden, auf welches College ich gehen will. Da könnt ihr drei euch noch so viel Mühe geben. Ich werde nicht hier in Ostwood studieren!“

Kaum sind die Worte über meine Lippen, wende ich mich von meiner Schwester ab und stürme auf die Zimmertür zu. Mit [...]

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Evelyn, 24. April

1

„Nein!“ In meiner Stimme liegt ein energischer Unterton. Es war mehr ein Schrei, und ich hole tief Luft, um nicht noch weiter aus der Fassung zu geraten. Grace starrt mich mit aufgerissenen Augen an und versucht, etwas zu erwidern, als ich ihr zuvorkomme: „Ich kann sehr wohl selbst entscheiden, auf welches College ich gehen will. Da könnt ihr drei euch noch so viel Mühe geben. Ich werde nicht hier in Ostwood studieren!“

Kaum sind die Worte über meine Lippen, wende ich mich von meiner Schwester ab und stürme auf die Zimmertür zu. Mit Schwung reiße ich sie auf und trete auf den Flur, wobei ich fast in jemanden hineinlaufe. Die junge Frau sieht erst mich an, bevor sie verwirrt zu Grace blickt. Ein wenig überrumpelt bleibe ich stehen und starre sie so böse an, bis sie mir endlich Platz macht, und ich an ihr vorbeirauschen kann. Erst als ich schon ein paar Schritte entfernt bin, erkenne ich sie. Es war Aubrie, die treue beste Freundin meiner Schwester. Ich bleibe ruckartig stehen. Die Fahrt von Maple Ridge nach South Organ dauert mindestens vierzig Minuten, aber ich kann mir schon denken, dass Aubrie trotzdem herkommt, wenn Grace sich bei ihr über mich ausjammern will. Mal wieder.

Während Grace schon aufs College geht, besucht Aubrie noch die gleiche Highschool wie ich. Sie ist ein Jahrgang über mir, im letzten Jahr. Meine Schwester ist bereits fertig mit der Schule, weil damals bei einem Test herauskam, dass sie hochbegabt ist, und sie deswegen die elfte Klasse überspringen konnte. Seitdem hat sich mein Leben verkompliziert. Denn leider bin ich gerade ausgerechnet in der elften Klasse, weil ich garantiert nicht hochbegabt bin und trotzdem ständig Druck von meinen Eltern und Grace bekomme.

Tränen steigen in mir hoch, die ich nur mühsam wegblinzeln kann. Zum Glück hält der schwache Moment nicht lange an, denn sobald mir die Worte von Grace wieder durch den Kopf schießen, koche ich vor Wut. Sie will mich nur in etwas reindrängen, nämlich in ihre vermeintlich ideale Welt, von der ich aber nicht Teil sein möchte. Wie ein Roboter führt sie die Vorstellungen meiner Eltern aus, alles andere scheint ihr egal zu sein. Dabei ist sie doch meine Schwester. Normalerweise verstehe ich mich auch ziemlich gut mit Grace. Oder zumindest war es einmal so.

Ein wütender Schrei lässt mich aufschrecken. Ist das nicht Aubrie gewesen? Die Stimme wird noch lauter – und mir alles zu viel.

Ich eile durch die langen Flure und bahne mir einen Weg zwischen Studentinnen hindurch, die Miniröcke und schneeweiße Blusen tragen, und Studenten, die mit ihren Anzügen wie Pinguine aussehen. Ich hasse diese Uniformen, genauso wie den Rest von Ostwood. Bei jedem Schritt knarzt es unter meinen Füßen, und durch die imposanten Fenster fällt kühles Licht auf das dunkelbraune Parkett.

Als ich eine Nebentreppe aus dunklem Holz hinab in die große Eingangshalle nehme und dann eine der großen Türen aufstoße, denke ich an Aubries Gesichtsausdruck zurück. Sie wirkte, als würde sie neben sich stehen, nicht verwirrt, sondern eher aufgewühlt. Unter ihren Augen lagen dunkle Ringe, und ihre Haare waren nur zu einem lockeren Dutt zusammengebunden. Plötzlich werde ich unsanft aus meinen Gedanken gerissen, da es sich anfühlt, als ob jemand einen Eimer Wasser über mir auskippt. Ich blicke nach oben in den Himmel, der erdrückend dunkel und wolkenverhangen ist, dicke Regentropfen schlagen mir ins Gesicht. Erschrocken mache ich einen kleinen Satz nach hinten und pralle mit dem Hinterkopf gegen die imposante, mit geschwungenen Eisenelementen verzierte Holztür, durch die ich gerade nach draußen getreten bin. Ich fasse mir an die schmerzende Stelle und überlege kurz, ob ich umkehren oder mich in den Regen stürzen soll. Zurück zu Grace kann ich auf keinen Fall, da ich sonst noch mehr Vorträge über mich ergehen lassen müsste.

Also ziehe ich mir die Kapuze meiner Sweatshirtjacke tief ins Gesicht und laufe los. Kleine Steinchen schlagen gegen meine Fußknöchel, während der Wind so stark zunimmt, dass ich durch den peitschenden Regen hindurch fast nichts mehr sehen kann. Der Stoff meiner Jacke gibt schnell nach, und ich spüre das kalte Wasser an meiner Haut hinabrinnen. Mit zusammengekniffenen Augen suche ich nach meinem Auto. Meinen kleinen Wagen hatte ich gut geschützt unter einem sehr alten Baum geparkt.

„Shit!“, murmele ich vor mich hin. Es gibt zu viele Bäume, die alle gleich aussehen. Durch den Wind rauschen die Blätter besonders laut, und kleine Äste brechen ab. Nach einer Weile entdecke ich ein etwas heruntergekommenes Auto. Der taubenblaue Lack ist an einigen Stellen leicht abgeblättert, Teile des Wagens sind verrostet, und die Heckscheibe hat einen zarten Riss. Es ist mein Wagen, klein und verschrammt. Daneben steht ein neuer dunkelgrüner Mini, der auf Hochglanz poliert ist und dem ganzen Regen und Matsch zu  trotzen scheint. Das Auto meiner Schwester. Wie passend. Grace hat es zum Schulabschluss bekommen. Ich könnte vermutlich auch ein besseres Modell fahren, aber mein Wagen liegt mir irgendwie am Herzen, er hat Charakter.

Komplett durchnässt erreiche ich mein Auto und reiße die Tür auf, die ein schrilles Quietschen von sich gibt. Als ich mich auf den zerkratzten Ledersitz fallen lasse, schließe ich die Augen und atme tief durch. Kaum habe ich sie wieder geöffnet, bemerke ich eine Gestalt draußen im dichten Regen. Eine junge Frau steuert zielstrebig auf einen klapprigen Jeep weiter unten zu und steigt an. Ist das nicht Aubries Auto?

Warum fährt sie schon wieder zurück, obwohl sie gerade erst gekommen ist? Mit diesem Gedanken starte ich den Motor, der ein hörbares Knattern von sich gibt, und fahre los.

Der Regen prasselt auf das Dach, und durch die Ritzen in den Türen spüre ich den kalten Wind. Meine Haare triefen, und meine Klamotten kleben wie eine zweite Haut an mir. Ich fange an zu zittern, als ich nach zehn Minuten auf die Hauptstraße fahre. Nach weiteren zwanzig Minuten passiere ich ein Schild, auf dem in orangen Buchstaben Maple Ridge steht.

 

Miles, 24. April

2

Rums. Die Haustür fällt krachend ins Schloss, sodass ich mich erschrocken umdrehe. Aubrie stürmt durch den Flur und poltert direkt die Treppe hoch, ohne mich auch nur eines Blickes zu würdigen. Typisch. Ich wende mich wieder meinen langweiligen Cornflakes zu, die schon so lange in der trüben Milch schwimmen, dass sie einen breiigen Klumpen bilden. Nach ein paar weiteren Löffeln schiebe ich die Schüssel beiseite, trinke den letzten Schluck Orangensaft aus meinem Glas und lasse beides stehen, bevor auch ich nach oben gehe. Denn wir haben schon Mittag, und ich bin immer noch in meinen Schlafsachen.

Als ich an Aubries Zimmer vorbeikomme, klopfe ich an. „Alles in Ordnung bei dir?“, frage ich durch die verschlossene Tür. Ist es offensichtlich nicht, weil ich keine Antwort bekomme. „Aubrie?“, versuche ich es erneut.

„Verschwinde“, zischt sie.

Aber ich lasse nicht locker, bis ich schließlich ein Klack höre, sie aufschließt und durch den kleinen Türspalt lugt. „Was ist?“, brummt sie genervt. Sie sieht erschöpft aus, aber in ihren Augen blitzt ein wütendes Funkeln auf.

„Wo warst du?“ Auch in meiner Stimme schwingt jetzt ein ungeduldiger Unterton mit. Sie hat vor ungefähr eineinhalb Stunden das Haus verlassen und niemandem Bescheid gesagt. Unsere Eltern haben zum Glück nichts mitbekommen, was daran liegt, dass unsere Mutter mit einer Gehirnerschütterung im Krankenhaus liegt und unser Vater mal wieder geschäftlich verreist ist.

„Das geht dich zwar nichts an, aber ich war bei Grace“, entgegnet sie schnippisch. Mit dieser charmanten Antwort knallt meine Schwester die Tür wieder zu und schließt ab. Das tut sie in letzter Zeit öfter, aber ich gehe immer weniger auf ihre Eigenwilligkeit ein.

Also steuere ich auf mein Zimmer zu und stolpere in das bekannte Chaos: Auf meinem Nachttisch stehen leere Flaschen, mein Schreibtisch ist übersät mit Büchern, und auf dem Teppichboden liegen Kleidungsstücke verstreut. Irgendwie schaffe ich es nie, Ordnung in meinem Zimmer zu halten.

Ich ziehe ein weißes T-Shirt, das einzige, das noch sauber ist, aus meinem Schrank und suche daraufhin den Boden nach meinen grauen Shorts ab. Als ich die Klamotten gegen meine Jogginghose und das nicht mehr allzu frische Sweatshirt ausgetauscht habe, gehe ich wieder nach unten zur Tür. „Bin kurz weg“, rufe ich nach oben.

Mal wieder wird meine Mitteilung ignoriert, obwohl ich genau weiß, dass Aubrie sich denken kann, wo ich hinfahre. Ich greife nach dem Autoschlüssel und trete aus dem Haus in die stickig-staubige Luft. Ich laufe die Auffahrt, einen kleinen, unscheinbaren Kiesweg, hinunter zu meinem Wagen. Eigentlich ist es Aubries Jeep, aber meistens lässt sie mich damit fahren.

Ich setze mich hinters Lenkrad, starte den Motor, schaue in den Rückspiegel und trete mit dem Fuß auf das Gaspedal. Ich fahre zwar schon seit einem Jahr Auto, aber trotzdem umklammere ich das Lenkrad noch so krampfhaft, dass man meinen könnte, ich wolle es zerdrücken. Nachdem ich mehrere Male abgebogen bin, fahre ich aus unserem etwas heruntergekommenen Viertel, einer Aneinanderreihung eintöniger Häuser, heraus in das Zentrum von Maple Ridge. Hier stehen etwas schickere Wohnblöcke, und ich halte schließlich vor einem modernen Krankenhaus.

Es ist nicht irgendein Krankenhaus, sondern das Krankenhaus, das ich bestens kenne, seit meine Mutter hier ein- und ausgeht. Sie ist nicht wirklich körperlich krank, hat aber doch zu oft Aussetzer, die sie immer wieder in unangenehme Situationen bringen. Ich verdamme dieses Gebäude. Es ist wie eine hässliche Grimasse, die mich Woche für Woche angrinst, als würde sie mich verhöhnen.

Da direkt vor dem Krankenhaus Parkverbot gilt, versuche ich mein Glück auf dem riesigen Parkplatz des nahe gelegenen Einkaufszentrums. Ich sehe mich gerade nach einem freien Platz um, als ein blauer Wagen mit viel zu hoher Geschwindigkeit aus einer Parklücke schießt. Ich trete so stark auf die Bremse, dass ein lautes Quietschen ertönt und der Wagen abrupt zum Stehen kommt.

Das war knapp. Zu knapp für meine Nerven. Ich öffne die Autotür und sehe mich suchend nach dem rasenden Wagen um, doch ich kann ihn schon nicht mehr entdecken. Depp.

Ohne weiter über den Zwischenfall nachzudenken, parke ich das Auto. Nachdem ich ausgestiegen bin, drehe ich mich zu dem schicken Gebäude um. Das Krankenhaus wurde letztes Jahr komplett saniert. Mit zusammengekniffenen Augen blicke ich an der beigen Fassade empor und versuche, durch die verspiegelten Fenster zu schauen, die hellblau umrahmt sind, kann jedoch nichts erkennen. Meinen Blick wieder auf den Asphalt gerichtet, quetsche ich mich zwischen den eng parkenden Autos hindurch und überquere den Parkplatz. Obwohl es erst April ist, ist es schon sehr warm, und der Asphalt flirrt vor Hitze.

Als ich durch die Drehtür gelangt bin und in Richtung Aufzug gehe, lächeln mich einzelne Patientinnen und Patienten sowie Mitarbeitende des Krankenhauses an. Was jeder normale Mensch als Sympathie wahrnehmen würde, empfinde ich als aufgesetzt. Ich wurde im Grunde darauf trainiert, mich niemandem direkt zu öffnen, da sonst eventuell etwas über unsere brüchige Familienstruktur herauskommen könnte. Denn wir sind eine eher ungewöhnliche Familie. Ein Vater, der so gut wie nie da ist, eine Mutter, die immer wieder von ihrer psychischen Erkrankung eingeholt wird, eine Schwester, der ihre Familie nichts mehr bedeutet, und dann gibt es noch mich. Wer ich bin, weiß ich nicht.

Ich wurde einfach in dieses chaotische Leben hineingeboren und darf jetzt irgendwie damit klarkommen. Deshalb habe ich mir in Büchern meinen eigenen Raum geschaffen und lese, so oft es geht, um in andere Welten fliehen zu können. Eine Fantasiewelt ist allemal besser als die Realität.

Doch genau jetzt sieht mir die reale Welt in die Augen. „Hey, Schatz.“

Nach diesen zwei Worten würde ich am liebsten wieder umdrehen, da sie genauso falsch sind wie mein restliches Leben. Aber ich reiße mich zusammen und trete in das kühle und nach Sterilium riechende Zimmer. Neben der Tür entdecke ich einen Stuhl und schiebe ihn unter die Klimaanlage. Nachdem ich mich gesetzt habe, durchflutet mich angenehme Kälte. Für ein paar Sekunden entspanne ich mich.

„Miles?“ Meine Mutter sieht mich fragend an.

Ich blicke wieder auf und sehe ihr direkt in die grauen, trüben Augen. Mein Unterkiefer spannt sich an, genau wie jeder andere Muskel meines Körpers. „Wie geht es dir?“, presse ich mühsam hervor. Mittlerweile komme ich direkt, ohne jegliche Begrüßung, auf den Punkt, da ich nicht zum ersten Mal in dieser Woche hier bin.

„Wieder besser. Ich werde schon übermorgen entlassen, und meine Medikamente wurden umgestellt. Macht euch keine Sorgen, alles wird gut.“ Das sagt sie mit solch einer sanften und hoffnungsvollen Stimme, dass ich es für einen Moment selbst glauben möchte. Doch ich werde schnell in die Realität zurückgeholt, als eine Krankenschwester hereinkommt. Nein. Nichts wird gut, und das weiß sie genauso gut wie ich. Denn die Krankenhausbesuche und Medikamente sind zu normal, zu alltäglich geworden, als dass ich mir noch Hoffnung auf ein normales Familienleben machen könnte.

Ich höre, wie die Tür zufällt, als die Krankenschwester das Zimmer wieder verlässt, und kehre aus meinen Gedanken zurück. Bevor ich irgendetwas sagen kann, bombardiert meine Mutter mich schon mit Fragen.

„Wie läuft es in der Schule?“

Ganz okay.

„Was machst du den ganzen Tag so?“

Nichts Bestimmtes.

„Ist Aubrie zu Hause?“

Ja, leider.

Ich will über das meiste nicht sprechen und antworte deswegen nur auf ihre letzte Frage. „Ja, sie ist zu Hause, aber verbarrikadiert sich mal wieder in ihrem Zimmer.“ Immer die gleichen Fragen, und ich gebe ihr immer die gleichen Antworten.

Meine Mutter wirft sich eine der Pillen ein, die die Krankenschwester vorbeigebracht hat, und sieht mich nachdenklich an.

„Sie ist bestimmt nur erschöpft von der Schule. Vielleicht solltet ihr euch mehr gegenseitig unterstützen.“ Ich verdrehe die Augen, weil es nicht an der Schule liegt, dass Aubrie so mies drauf ist. Nein, sie hat irgendein anderes Problem, das sie belastet. Nur werde ich nie erfahren, was sie bedrückt, weil wir kaum noch miteinander reden. Wenn wir es doch tun, schwingt ein so verachtender Ton in ihrer Stimme mit, dass ich beinahe vergesse, dass wir Geschwister sind. Das liegt zum Großteil daran, dass ich mal auf Grace, ihre beste Freundin, stand. Nicht lange, aber meine Schwester bekam es mit, und daraufhin haben wir uns zerstritten. Zumindest glaube ich, dass dies der Grund ist, denn seitdem ist es anders zwischen uns.

Vor ungefähr einem halben Jahr fingen die psychotischen Rückfälle bei meiner Mutter wieder an. Unser Vater musste den Job wechseln, um die vielen Therapien zahlen zu können. Er war kaum noch zu Hause. Seitdem geht es mit unserer Familie den Bach runter.

Zu Beginn des Frühlings hatte ich mehrere Anläufe genommen, um uns alle einander etwas anzunähern und das verlorene Vertrauen wieder aufzubauen. Ich organisierte Ausflüge, kaufte Popcorn für gemeinsame Filmabende und plante einen Urlaub in den Sommerferien. Erfolglos. Keiner hat meine Bemühungen angenommen, die Stimmung war genau wie vorher ständig angespannt. Nichts änderte sich, und mittlerweile habe ich eingesehen, dass sich auch nichts mehr ändern wird.

Einmal in der Woche telefoniere ich mit meinem Vater, der für einen Nachrichtensender arbeitet, ständig umherreist und kaum Zeit für uns hat. Meine Mutter besuche ich zweimal in der Woche, um ihr zu berichten, wie es zu Hause läuft. Das Problem ist, dass sie ungefähr alle vier Wochen wieder hier liegt – in diesem Zimmer, das außer weißen, kühlen Wänden nichts weiter als einen Nachttisch neben dem Bett vorzuweisen hat – und mich entweder fragend oder benommen ansieht.

In diesem Moment greift sie nach meiner Hand, die von einem Schweißfilm bedeckt ist, und ich zucke zusammen. Es ist wie ein elektrischer Schlag. Ihre Berührungen sind für mich wie die einer Fremden geworden. Unangenehm und unvorhersehbar. Mein Herz klopft so laut, dass ich Angst habe, sie könnte es hören.

„Miles?“, fragt sie erneut. Sie hat sich weit nach vorne gebeugt, und ich kann ihrem Blick nicht mehr ausweichen. Aus ihrem Pferdeschwanz haben sich einige blonde zerzauste Haarsträhnen gelöst, die über ihre grauen Augen fallen und ihr bleiches Gesicht halb verdecken. Mein verkrampfter Blick scheint sie zu verwirren. Schmerzlich wird mir bewusst, dass meine Zurückgezogenheit nicht spurlos an ihr vorbeigeht. Ich muss wahnsinnig abweisend auf sie wirken.

Bevor ich etwas sagen kann, beginnen meine Finger gegen meinen Willen zu zittern. Meine Mutter erscheint plötzlich doppelt vor meinen Augen, und es fühlt sich an, als ob mir die Kontrolle über meinen Körper komplett entgleitet. „I… Ich …“ Es ist ein einziges Gestammel, und ich spüre nur noch, wie mein Gesicht auf dem Boden aufschlägt.

 

Evelyn, 24. April

3

Meine Eltern starren mich mit weit aufgerissenen Augen an. Aus ihren Gesichtern ist jegliche Farbe gewichen, Panik flackert in ihren Augen auf. Mit schweren Schritten gehe ich in Richtung Sofa, das mit einem samtigen Stoff überzogen ist und farblich zu den hellgrauen Vorhängen passt. Als ich mich setze, knarzt es leise, und eine unerträgliche Stille breitet sich im Raum aus. Die Sekunden fühlen sich wie Minuten an und scheinen nicht zu vergehen, bis sich mein Vater räuspert. Er zupft an seiner dunkelblauen Krawatte, wirkt nervös. Das schneeweiße Hemd darunter ist mit Falten übersät und seine Hose mit Kaffee bekleckert. Er sieht erschöpft aus, wie immer. Und doch scheint etwas an ihm, an seinem äußeren Erscheinungsbild anders zu sein.

Mein Vater steht auf und setzt sich zu mir. Dabei quietschen die Sohlen seiner braunen Schuhe, ein unangenehm lautes Geräusch. Er greift nach meiner Hand, die ich instinktiv zurückziehe. Trotzdem bekommt er sie zu fassen. Seine Hand ist eiskalt, obwohl ich kleine Schweißtropfen auf seiner Stirn sehe, die er sich hektisch wegwischt. Irgendwas stimmt hier ganz und gar nicht.

„Hör zu, Evelyn.“ Sein Tonfall ist ungewohnt ernst. „Ich … also wir … Wir sind beunruhigt.“ Ich ziehe scharf die Luft ein, und es scheint, als ob auch meine Eltern den Atem anhalten. Worum geht es hier? Hat Grace unseren Eltern etwa von dem Streit erzählt?

Bevor mein Vater weiterreden kann, setzt meine Mutter an und spricht jenen Satz aus, den ich nie mehr aus meinem Kopf bekommen werde: „Grace ist möglicherweise verschwunden.“

Mein Kopf schnellt nach oben, obwohl ich mich gleichzeitig viel zu schwach fühle, um aufrecht sitzen zu können. Eine Gänsehaut arbeitet sich immer weiter meinen Rücken hinauf. Ich schnappe nach Luft. Das Wohnzimmer scheint immer kleiner zu werden, während die Wände mit ihrer enormen Last näher rücken. Wenn mein Vater nicht noch immer meine Hand fest umschlossen halten würde, eine Geste, für die ich nun dankbar bin, würde ich womöglich zusammensacken.

Bei jedem Versuch, einen Satz herauszubringen, beginnt meine Stimme so heftig zu zittern, dass ich kein einziges Wort über die Lippen bringe. Doch ich versuche, mich zusammenzureißen und logisch zu denken. „Warum denkt ihr, dass sie …?“ Ich breche ab. „Ich habe sie vorhin doch noch gesehen“, murmele ich gedankenverloren. Die weiteren Sätze meiner Eltern nehme ich kaum wahr. Vor meinen Augen verschwimmt alles.

„Sie hätte doch heute ihre Hausarbeit abgeben müssen. Ostwood hat uns informiert, dass deine Schwester nicht zur Abgabe aufgetaucht ist.“ Mein Vater schluckt schwer. „Und du kennst sie ja. Das würde ihr unter keinerlei Umständen passieren, eine so wichtige Abgabe zu verpassen.“

Ich blicke verzweifelt in Richtung meiner Mutter.

„Hör zu, Evelyn. Es ist ein Schock, auch für uns, und wir machen uns ebenfalls große Sorgen, aber wir sind selbst unsicher, ob wir vielleicht etwas übertrieben reagieren.“

Wohl kaum. Es klingt eher wie eine Frage, auf die man sich guten Zuspruch erhofft. Dass sie mir nur gut zureden wollen, ist mir bewusst, sonst hätten sie eben nicht so verzweifelt gewirkt.

Sie können jedoch gar nicht ahnen, was wirklich in mir vorgeht. Klar, ich mache mir Sorgen, aber aus anderen Gründen als meine Eltern. Dass Grace mal kurz von der Bildfläche verschwindet, ist nichts Ungewöhnliches – zumindest für mich ist es das nicht. Sie hat mir schon oft erzählt, dass sie sich durch eine Hintertür aus dem Collegegebäude schleicht. Grace ist zwar die Musterschülerin von uns beiden, aber sie kann auch eine wilde Seite haben, die nicht unbedingt etwas Gutes verheißt. Meistens ist sie allerdings nur kurz fort. Es ist es untypisch für sie, nicht Bescheid zu sagen, wenn sie mal Zeit für sich braucht. Also, warum hat sie sich nicht gemeldet? Vor allem, wenn es um die Schule geht.

„Komm her.“ Meine Mutter ist zu uns auf das Sofa rübergerutscht und schließt ihre Arme um mich. Mit dem Ärmel wischt sie meine Tränen weg, die nicht nur aufgrund von Grace’ Verschwinden gelaufen sind. Mich überrollen Schuldgefühle, und meine Gedanken fangen an zu rotieren. Hat es etwas mit unserem Streit zu tun? Sucht sie nur nach Aufmerksamkeit? Doch eine Frage beschäftigt mich am meisten: Wo ist sie?

Zugleich überkommt mich der Verdacht, dass meine Eltern nur so geschockt sind, da es um Grace geht. Und um ihren Ruf. Da passt das Verschwinden ihrer vorbildlichen Tochter einfach nicht ins Bild. Bei mir würden sie sich sicherlich nicht so große Sorgen machen. Oder?

„Wie kommt ihr darauf, dass sie verschwunden sein könnte?“ Ich löse mich aus den Armen meiner Mutter.

„Wir haben einen Anruf von Aubrie erhalten. Sie fragte, ob wir probieren könnten, Grace zu erreichen, da sie wohl ihren Anruf nicht erwidert hatte.“ Meine Mutter klingt besorgt. „Daraufhin haben wir versucht, deine Schwester zu erreichen. Aber sie ging nach dem fünften Anruf immer noch nicht dran, und du weißt doch, dass sie ihr Handy immer bei sich hat“, fährt sie fort. Ich nicke nachdenklich.

„Ich habe Aubrie heute in Ostwood gesehen, aber sie war wohl nicht lange bei Grace, weil wir, glaube ich zumindest, gleichzeitig aufgebrochen sind, um nach Maple Ridge zurückzufahren.“ Ich war mir zwar nicht ganz sicher, ob es wirklich sie war, die zu ihrem Auto gelaufen ist, aber anders kann ich es mir nicht erklären. Ich suche nach weiteren Anhaltspunkten. Irgendwer muss doch schließlich wissen, wo Grace ist.

„Habt ihr es denn schon bei der Collegeverwaltung probiert? Oder bei irgendjemand anderem?“

„Ja, natürlich“, antwortet meine Mutter. „Sie haben dann auch ein paar Freundinnen befragt, aber keine hat sie gesehen.“ Ihre Stimme bricht.

„Wieso bist du eigentlich so früh nach Hause gekommen?“ In der Stimme meines Vaters schwingt ein leicht vorwurfsvoller Unterton mit. Unsere Eltern wussten zwar Bescheid, dass ich eine Nacht bei Grace schlafe. Eine Methode, um mir das College schmackhafter zu machen. Sie wissen aber auch, dass ich mich nur ungern in Ostwood aufhalte. Ein paar Ideen, wie ich mir die Zukunft vorstelle, habe ich schon, aber das College gehört definitiv nicht dazu. Nicht dieses College, nicht Ostwood.

Unwillkürlich verziehe ich das Gesicht. Dass mein Vater mir sogar jetzt vorwirft, dass ich es dort nicht aushalte, bringt mich innerlich zum Brodeln. Ich muss mich zusammenreißen, um nicht selbst unter der Lawine aus Vorwürfen und Wut begraben zu werden. Stoße ich sie einmal an, wird sie nicht mehr aufzuhalten sein.

Also zucke ich nur mit den Schultern, da ich das Thema nicht weiter ausführen möchte. Vor allem jetzt nicht, wo Grace verschwunden ist. Nachdem wir uns gestritten haben.

„Okay … ähm … Möchtest du dann vielleicht lieber in dein Zimmer gehen, um dich von dem, wie soll ich sagen, Schrecken zu erholen?“ Es soll eine Frage sein, aber an der Tonlage meiner Mutter erkenne ich, dass es sich eher um eine Anweisung handelt.

„Ja.“ Diese Art von knappen Antworten ist ungewöhnlich für mich, und meinen Eltern scheint das auch aufzufallen, aber gerade ist mein Kopf viel zu durchtränkt von Gefühlen, Vorwürfen und wirren Gedanken. Ich hätte noch so viele Fragen, aber ich weiß genau, dass meine Eltern nicht weiter mit mir über Grace reden werden. Stumm erhebe ich mich vom Sofa, wobei ich die Blicke meiner Eltern wie kleine Messerstiche spüre.

Auf dem Weg in mein Zimmer strömt mir ein beinahe penetranter Geruch entgegen, der aus dem Zimmer von Grace stammt. Ich kenne ihr Parfüm nur allzu gut, da sie es nicht nur auf ihre Haut sprüht, sondern im ganzen Raum verteilt. Vor ihrer Tür bleibe ich kurz stehen und stoße sie vorsichtig auf. Mein Blick wandert durch den Raum. Rechts steht ein weißer Schminktisch, auf dem Pinsel in runden Behältern stehen. Gegenüber der Tür befindet sich ihr Bett, vor dem ein taubenblauer Teppich liegt. Die flauschigen Kissen sind ordentlich nach Größe sortiert. Die schneeweiße Decke ist akkurat in den grauen Bettrahmen gesteckt.

Als ich das Zimmer betrete, wird der Geruch nach Rosen noch intensiver und vermischt sich mit dem Geruch von Leder. Wie gebannt folge ich ihm quer durch das Zimmer bis zum weiß lackierten Holzschrank. Ich kann es mir nicht verkneifen, den Schlüssel zu suchen, da ich ihn andernfalls nicht aufbekommen würde. Grace bewahrt in dem Schrank ihre Schuhe auf. Leider durfte ich sie bislang nicht ausleihen oder auch nur anprobieren, da die Schuhe sündhaft teuer waren. Unsere Eltern haben zwar genug Geld für teure Schuhe, Autos oder für die Villa, in der wir leben, aber eine Sache wünschen sie sich mehr als alles andere und können sie doch nicht kaufen: zwei perfekte Töchter.

Ich gebe mir viel Mühe in der Schule, aber Grace schlägt mich mit ihren Leistungen um Längen. Wahrscheinlich auch, weil sie schon immer zielstrebig war und Astrophysikerin werden möchte, während ich noch nicht einmal ein College gefunden habe. Manchmal weiß ich selbst nicht genau, was mich an Ostwood abschreckt, aber es ist vermutlich einfach zu perfekt für mich. Alles dort wirkt wie eine Fassade, doch darunter verbergen sie so viele Probleme, von denen die Erwachsenen meinen, man könne sie mit Geld und den richtigen Kontakten lösen. Es ist nichts weiter als eine riesige Inszenierung, ein Schauspiel, in dem jede und jeder nur eine Rolle spielt.

Mich hingegen interessieren logische Zusammenhänge, doch mehr als gut kombinieren kann ich nicht. Vor einigen Jahren habe ich fast alle Agatha-Christie-Folgen rund um den berühmten Detektiv Hercule Poirot gesehen und sie geliebt. Genau wie Grace. Doch jetzt ist alles anders.

Das College, auf das Grace gegangen ist, wirkt zu statisch. Ich stocke mitten in der Bewegung, gehe gedanklich meinen letzten Satz erschrocken noch mal durch. Grace geht nach wie vor nach Ostwood und wird auch bald wieder dort auftauchen. Ganz bestimmt.

Ein schlechtes Gewissen steigt trotzdem in mir hoch, weil ich bereits in eine Zukunft ohne sie blicke. Erneut kullert eine Träne über meine Wange, aber diesmal ausschließlich ihretwegen. Im Wohnzimmer habe ich mir Vorwürfe gemacht, dass sie nur aufgrund unseres Streits weggelaufen ist. In diesem Moment realisiere ich erst, dass Grace wirklich verschwunden ist. Ich spüre einen schmerzhaften Stich in meiner Magengrube. Als hätte mir jemand eine Faust in den Bauch gerammt. Mein Leben wird durch ihr Verschwinden nicht leichter werden, und durch unsere zahlreichen Auseinandersetzungen merke ich, wie sehr wir uns voneinander entfernt haben. Ich werde wahrscheinlich umso stärker in ihrem Schatten stehen, wenn sie verschwunden bleibt. Doch das Schlimmste daran wäre, dass ich mit ihr nie über die Dinge reden könnte, die zwischen uns stehen. Keine Aussprache, keine Entschuldigungen, keine Versöhnung. Zwar scheine ich meinen Eltern nicht so wichtig zu sein wie Grace, aber vielleicht brauchen wir Schwestern einander gerade deswegen. Vielleicht brauche ich sie gerade deswegen.

Meine Gedanken und Gefühle fahren Achterbahn. Mir wird noch schlechter, als ich bemerke, dass ich ihr Verschwinden ausnutze und zunächst an ihre teuren Schuhe gedacht habe. Meine Eltern glauben, dass ich nur wegen Grace’ Verschwinden geweint habe, da sie von unserem lauten Wortwechsel heute Morgen nichts wissen. Die Schuldgefühle nagen an mir, weil ich so wütend war. Aber jetzt mischen sie sich immer stärker mit Bedauern.

Als ich vor ihrem Schrank auf dem Boden kauere, nachdem ich sämtliche Schubladen durchwühlt habe, ohne den Schlüssel zu finden, höre ich die Stimme meiner Mutter in unmittelbarer Nähe. „Evelyn? Wo steckst du denn?“

Erschrocken sehe ich mich in Grace’ unordentlichem Zimmer um. Man könnte meinen, ein Wirbelsturm hätte sich hier entladen und alles mit sich gerissen, das ihm in die Quere kam. Dass ich Klamotten aus den Schubladen rausgerissen und auf den Boden geworfen habe, habe ich genauso wenig mitbekommen wie die zerstreuten Pinsel, die auf ihrem Schminktisch liegen. Ich bleibe wie versteinert sitzen und höre, wie die Stimme meiner Mutter immer lauter wird. „Ich würde für heute Mittag Pizza bestellen, die mag…“ Ihre dunkelbraunen Augen versetzen mir einen Stich, und ich weiche zurück, als hätte ich mich verbrannt. Meine Mutter schaut mich verblüfft an, richtet ihren Blick aber dann auf das Chaos hinter mir. Eine besorgte Falte bildet sich auf ihrer Stirn. „Was machst du in Grace’ Zimmer?“

Ja, was mache ich hier eigentlich?

Ich verfalle wieder in den apathischen Zustand von vorhin und bekomme keinen Ton mehr heraus. Wahrscheinlich auch, weil ich keine Antwort auf diese Frage habe.

Da ich den Blick zu Boden richte, kann ich den Ausdruck in ihrem Gesicht nicht erkennen, doch noch bevor ich wieder aufschauen kann, setzt sich meine Mutter im Schneidersitz vor mich. „Uns macht die Situation genauso fertig wie dich. Aber das gibt dir nicht das Recht, in ihren Sachen zu wühlen. Okay?“

„Ich habe nicht in ihren Sachen gewühlt“, verteidige ich mich. Auch wenn ich weiß, dass es gelogen ist.

Da meine Mutter mich jetzt mit einem durchdringenden Blick fixiert, weiß ich, dass sie genau dasselbe denkt. „Ist ja schon gut, ich habe in ihren Sachen gewühlt“, füge ich hektisch hinzu.

„Zur Ablenkung?“, fragt sie.

„Vermutlich. Mir sind einfach die Nerven durchgegangen. Tut mir leid“, nuschele ich.

„Du brauchst dich nicht zu entschuldigen, nicht bei mir.“ Kaum hat meine Mutter diesen Satz ausgesprochen, merkt sie genauso wie ich, dass ich mich bei niemand anderen entschuldigen kann. Der einzigen Person, der ich eine Entschuldigung schuldig bin, ist Grace. Aber in der momentanen Lage ist es unmöglich, mit ihr Kontakt aufzunehmen. Vor allem, weil selbst Aubrie sie nicht erreichen konnte, und Grace sonst immer an ihr Handy geht.

Meine Mutter räuspert sich und durchbricht die Stille. „Ich werde dann mal die Pizza bestellen. Welche möchtest du haben?“

„Eine Salamipizza“, antworte ich abwesend. Mir ist zwar gerade nicht nach Pizza, aber da ich das Frühstück heute Morgen ausfallen lassen musste, macht sich doch ein gewisser Hunger in mir breit. Meine Mutter schleicht so lautlos aus Grace’ Zimmer, dass ich erst bemerke, dass sie aufgestanden ist, als sie gerade um die Ecke biegt. Mühsam erhebe ich mich und schaue mir das Chaos nochmals an. Lange halte ich den beschämenden Anblick aber nicht aus. Deshalb verlasse ich das Zimmer und schließe schnell die Tür hinter mir.

Mein Zimmer ist nicht gerade unordentlich, aber so aufgeräumt wie das von Grace ist es noch nie gewesen. Ich taste nach dem Schalter links von der Tür und schalte das Licht an, dann lasse ich mich auf mein Bett fallen. Es ist frisch bezogen und duftet nach Orangenblüten. Ich atme den Geruch tief ein, da er so vertraut wirkt und mich die neuesten Ereignisse kurz vergessen lässt.

Doch dieser Moment hält nicht lange an. Im meinem Kopf schwirren so viele Fragen, auf die ich eine Antwort suche. Um das Gedankenchaos zu bändigen, ziehe ich einen etwas zerknitterten Zettel zwischen zwei Büchern hervor und greife nach einem Bleistift, der sich noch von der letzten nächtlichen Lerneinheit auf meinem Nachttisch befindet. Ich beginne zu schreiben, und das leise Kratzen des Bleistifts durchbricht die bedrückende Stille. Als ich ihn absetze, lese ich mir alle Fragen noch einmal durch.

Warum ist Aubrie so schnell wieder gefahren, hat aber dann probiert, Grace zu erreichen?

 

Was wird geschehen, wenn Grace nicht wieder auftaucht?

 

Warum ist Grace weggelaufen? Oder wurde sie gegen ihren Willen fortgebracht?

 

Die letzte Frage lässt das Blut in meinen Adern gefrieren. Darüber habe ich noch gar nicht bewusst nachgedacht, dass sie sich eventuell nicht freiwillig abgeschottet hat. Dass sie entführt worden sein könnte.

Es wirkt jedoch so absurd, dass ich den Gedanken verwerfe und mir vergeblich andere Antworten zusammenreime. Das Blatt Papier und den Stift lege ich neben mir ab und lasse mich mit dem Kopf nach hinten in das fluffige Daunenkissen fallen.

Die Sonnenstrahlen, die durch die Fenster hereinströmen und mein Gesicht treffen, brennen auf der Haut, aber auch der restliche Raum wirkt mit jeder Minute, die verstreicht, aufgeheizter. Auch wenn es heute morgen in South Organ geregnet hat, kann es jenseits der Bergkette, hier in Maple Ridge, weiter brütend heiß sein. Manchmal kann ich es nicht glauben, dass beide Städte im gleichen Land und nur eine kurze Autofahrt voneinander entfernt liegen, da sie so unterschiedlich sind, nicht nur bezüglich des Wetters.

South Organ ist ländlich, und es herrschen dort mehr Unwetter als sonnige Tage. Das ist schon mal ein Grund, warum ich nicht nach Ostwood gehen möchte. Das Collegegebäude könnte auch aus dem alten England stammen, und in den verwunschenen Gärten, die es umgeben, leuchten grelle Blüten auf, die den Regen wie Schwämme aufsaugen. Aber hinter dieser vermeintlich schönen Fassade lauert ein dunkler Schatten, der nur darauf wartet, seine Opfer zu täuschen.

In Maple Ridge ist es meistens heiß und stickig, aber die Architektur ist dafür viel moderner. Die Vorgärten bei uns und unseren Nachbarn sind dank der Bewässerungsanlagen zwar saftig grün, aber fährt man in die angrenzenden Viertel, wird es schlagartig karger. Das Gras ist trocken, nur wenige Bäume säumen den Straßenrand und die Farbe der Fassaden blättert teils ab. Dafür sind die Straßen in diesen Vierteln umso belebter. Die Gebäude wirken im Vergleich zu unserem Viertel, in dem villenartige Häuser inmitten gepflegter Gärten stehen, jedoch eher etwas trostlos.

Häufig war ich noch nicht in Aubries Viertel, außer wenn Grace sie abgeholt hat und ich mitgefahren bin. Von meiner Schwester weiß ich auch, dass Aubrie meist nur mit ihrem Bruder und ihrer Mutter dort lebt, da ihr Vater beruflich viel reist. Ihrem Bruder bin ich ab und zu in der Schule über den Weg gelaufen, habe ihn jedoch nie richtig kennengelernt.

Von unten höre ich eine Klingel läuten und Stimmen, die von meinem Vater und dem Pizzalieferanten stammen müssen. Ich rappele mich auf, als ich die Haustür zufallen höre, und trete in den Flur. Vor dem Hinuntergehen bleibe ich erneut vor Grace’ Zimmer stehen, werfe noch einmal einen Blick auf das Chaos, das ich angerichtet habe. Lange verharre ich dort jedoch nicht.

Die Stimmen meiner Eltern verstummen, als ich die Küche betrete. Ich habe das Gefühl, dass die Temperatur im Raum sofort deutlich abkühlt, als ich ihn betrete.

„Na, was hast du so gemacht?“, fragt mein Vater. Ich spüre den Blick meiner Mutter, die sich jedoch hastig wieder abwendet und in der Vorratskammer verschwindet.

„Ich habe mit Vivian und Nora telefoniert“, entgegne ich.

„Hast du ihnen von …“

„Grace’ Verschwinden berichtet? Nein, das habe ich nicht.“ Ich klinge unsicher, obwohl ich genau weiß, dass diese Worte den Satz meines Vaters beenden müssen. Andererseits hat er meine kleine Lüge mit dem Telefonat geschluckt. Zwar rede ich mit Nora und Vivian über alles, da sie meine besten Freundinnen sind, doch wahrscheinlich bin ich selbst noch nicht davon überzeugt, dass Grace nicht wieder auftauchen wird. Es wirkt zu unrealistisch. Es kann einfach nicht sein.

„Das ist gut“, murmelt mein Vater. „Könntest du es vielleicht zunächst für dich behalten? Wir wissen selbst noch nicht …“ Er zögert. Es kommt nicht oft vor, dass ich meinen Vater derartig wortkarg erlebe.

„Sie wird schon wieder auftauchen.“ Diesmal beendet meine Mutter den Satz. Sie versucht, ihre Worte entschieden und zuversichtlich klingen zu lassen, aber mir entgeht das Zittern in ihrer Stimme nicht. Glaubt sie überhaupt selbst daran?

„Ich hoffe es.“

Das Gespräch zwischen meinen Eltern hört sich an, als ob sie gerade erst angefangen haben, über das Thema zu sprechen. Ich kann mir nur nicht vorstellen, dass sie nicht schon vorher über Grace geredet haben.

„Wie hat eigentlich Ostwood reagiert, als ihr angerufen habt?“ Die Gelegenheit, meine Eltern auszufragen, lasse ich nicht verstreichen.

Meine Mutter tritt mit ein paar Dosen Mais aus der Vorratskammer in die Küche. „Nicht sonderlich besorgt. Aber sie wollen jetzt noch die anderen Studentinnen und Studenten befragen.“

Da mir die Antwort nicht genügt, hake ich weiter nach. „Wann genau soll denn das stattfinden?“

„Die Befragung?“ Meine Mutter weiß genau, was ich meine, aber möchte es anscheinend selber nicht wahrhaben. „Noch gar nicht.“

„Was denn jetzt? Wir sollten doch alles tun, um Grace zu finden!“ Verwirrung macht sich in meinem Kopf breit. Es dreht sich sonst immer alles um Grace. Und jetzt, wo wir nicht wissen, ob es ihr gut geht, sind sie plötzlich zögerlich?

„Natürlich, und das tun wir auch. Aber bis sie sich in Ostwood auf eine Vorgehensweise verständigt haben, können wir nichts tun. Wir müssen bis morgen abwarten, auch wenn uns das schwerfällt.“

„Bis morgen?!“ Die Empörung in meiner Stimme ist nicht zu überhören. Wie können sie vor einer Stunde noch so aufgelöst und jetzt derart entspannt sein? Warum machen sie nicht mehr Druck?

Wahrscheinlich liegt es an ihrem Ruf, den sie auf keinen Fall aufs Spiel setzen wollen. Meine Mutter ist eine angesehene Floristin in der Stadt. Sie entwirft Blumenarrangements für Partys, Hochzeiten und sogar für die Häuser einiger Berühmtheiten. Mit ihren funkelnden Kleidern, ihrem glitzernden Schmuck und ihren hochgesteckten Haaren passt sie perfekt ins Bild. Mein Vater führt die Druckerei unserer Familie weiter, die von meinem Urgroßvater gegründet wurde und inzwischen international gefragt ist. Seine Undurchschaubarkeit hat mein Vater leider gleich mitgeerbt.

„Grace ist nun mal erwachsen und kann auf sich selbst aufpassen“, wirft mein Vater ein. Es ist ein eher kläglicher Versuch, sich selbst zu beruhigen. Er stellt sein Glas Wasser ab und geht einmal um den Küchenblock aus dunklem Marmor herum, um an die Pizzakartons zu gelangen. Die Pizza hatte ich beinahe wieder vergessen, doch als er den ersten Deckel anhebt, strömt ein warmer Dampf durch die Küche. Da hat sich wenigstens das Warten auf das Essen gelohnt.

Meine Mutter streicht mir kurz darauf über den Arm, bevor sie mir eine Maisdose hinhält. „Wenn deine Schwester wieder auftaucht, wird uns Ostwood Bescheid gegeben. Wir machen uns auch große Sorgen und würden am liebsten sofort etwas tun, um sie zu finden. Leider würde das auch eine Menge Aufsehen erzeugen, und am Ende ist es vielleicht ein Fehlalarm. Verstehst du das?“ Ich wende mich zu meiner Mutter und sehe deutlich die Verzweiflung in ihren Augen, die wahrscheinlich auch in meinen steht. Sie versuchen, ihre Aufgelöstheit von eben zu überspielen, auch wenn das bedeutet, dass sie nicht nur mich, sondern vor allem sich selbst belügen müssen. Und zwar beide.

„Ja.“ Ich nicke. Die Anspannung in mir löst sich kein Stück, jedoch widme ich meine Aufmerksamkeit lieber der Maisdose, anstatt gegen eine Wand anzureden. Ich gehe zum Spülbecken, gieße, nachdem ich eine Dose geöffnet habe, das Wasser ab und öffne sie. Mein Vater holt die Pizzen aus den fettigen Kartons und verteilt sie auf die von meiner Mutter bereitgestellten Teller. Meine Eltern verschwinden mit ihrem Mittagessen im Esszimmer, während ich noch den Mais über meine Pizza streue. Der Geruch von Salami und geschmolzenem Käse gibt mir ein wohliges Gefühl, sodass ich es nicht mehr länger ohne Essen aushalte. Also folge ich ihnen durch die Flügeltür und setze mich. Der Platz mir gegenüber bleibt leer. Grace’ Platz. Sie belegt nun schon das zweite Semester auf dem College und isst deshalb nur noch selten mit uns. Unter der Woche schläft sie in Ostwood, schaut jedoch gerne mal am Wochenende vorbei. Eigentlich jedes Wochenende. Außer an diesem. Wir wären auch zusammen zurückgefahren, aber nach unserem Streit hätte ich das nicht ausgehalten. Trotzdem hatte ich fest damit gerechnet, dass Grace einfach nach einer halben Stunde nachkommen würde. Ist sie aber nicht.

„Was tun wir, wenn Grace nicht mehr wiederkommt?“ Die Frage rutscht mir einfach heraus, und ich beiße mir auf die Lippe. Meine Mutter schaut erschrocken von dem Pizzastück hoch, von dem sie gerade abbeißen wollte. Ein Husten lenkt meinen Blick auf das leere Wasserglas meines Vaters, der sich beim letzten Tropfen offensichtlich verschluckt hat. Das Blut meiner Lippe verleiht dem köstlichen Geschmack der Pizza eine nach Eisen schmeckende Note. Die Stille hält gefühlt etliche qualvolle Minuten an, bis mein Vater seine Stimme wiederfindet.

„Wenn Grace nicht bald auftaucht, gehen wir zur Polizei.“

Hanna van den Valentyn

Über Hanna van den Valentyn

Biografie

Hanna van den Valentyn erzählte schon von klein auf Geschichten für ihre Familie und Freunde, schreibt seit ihrer Kindheit und hat mit nur 16 Jahren ihren ersten Roman fertiggestellt, mit dem sie sprachlich wie thematisch neben den erwachsenen Autorinnen im Romance Genre steht.

Veranstaltung
Lesung und Gespräch
Freitag, 27. Juni 2025 in Düsseldorf
Zeit:
20:15 Uhr
Ort:
Thalia Deutschland GmbH & Co.KG,
Königsallee 18
40212 Düsseldorf
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