Kein Jahr ohne dich Kein Jahr ohne dich - eBook-Ausgabe
Roman
— Der Liebesroman, der zu Tränen rührtKein Jahr ohne dich — Inhalt
Stephanie glaubt nicht an die große Liebe und „glücklich, bis der Tod euch scheidet“. Dafür ist sie zu realistisch und bodenständig. Mit ihrem Verlobten hat sie alles, was sie will, sie ist zufrieden. Doch als sie Jamie kennenlernt kommt es, dieses Herzklopfen, das man nicht überhören und schon gar nicht ignorieren kann. Jamie glaubt an all die Dinge, die Stephanie kitschig findet. Er hat seine Traumfrau bereits gefunden – glaubt er zumindest, bis er Stephanie begegnet. Und alles verändert sich. Sie sind füreinander bestimmt, doch das Leben hat andere Pläne. Von nun an treffen sie sich jedes Jahr für ein Wochenende, das nur ihnen gehört. Und jedes Jahr kehren sie zurück in ihre getrennten Leben. Dabei gehören Seelenverwandte doch zusammen …
Leseprobe zu „Kein Jahr ohne dich“
Teil 1
You do something to me
1. Kapitel
Freitag, 13. Oktober 2006
Stephanie
Ich bin nicht abergläubisch.
Gehöre nicht zu den Menschen, die Umwege in Kauf nehmen, um Leitern auszuweichen, sich vor schwarzen Katzen fürchten oder dem ganzen anderen Unsinn – reine Zeitverschwendung! Ich kann mir einfach nicht vorstellen, dass das Universum nichts Besseres zu tun hat, als uns einen schlechten Tag zu bescheren, nur weil wir unter einer Leiter hindurchgegangen sind. Oder weil der Dreizehnte eines Monats auf einen Freitag fällt. Aber irgendwie lassen sich die Leute [...]
Teil 1
You do something to me
1. Kapitel
Freitag, 13. Oktober 2006
Stephanie
Ich bin nicht abergläubisch.
Gehöre nicht zu den Menschen, die Umwege in Kauf nehmen, um Leitern auszuweichen, sich vor schwarzen Katzen fürchten oder dem ganzen anderen Unsinn – reine Zeitverschwendung! Ich kann mir einfach nicht vorstellen, dass das Universum nichts Besseres zu tun hat, als uns einen schlechten Tag zu bescheren, nur weil wir unter einer Leiter hindurchgegangen sind. Oder weil der Dreizehnte eines Monats auf einen Freitag fällt. Aber irgendwie lassen sich die Leute trotzdem davon beeinflussen, oder?
Wenn etwas Schlechtes passieren wird, geschieht es so oder so, egal in welcher Konstellation die Planeten stehen, ob gerade Freitag ist oder ein bestimmter Monat.
Die Uhr im Auto springt auf 17:03 Uhr. Ich bin spät dran.
Wir sind schon seit knapp einer Stunde unterwegs und sollten bald ankommen. Hoffentlich, die angespannte Stille im Auto ist nämlich kaum auszuhalten. Immerhin läuft das Radio. Es ist auf „laut genug, damit die Atmosphäre sich nicht ganz so unangenehm anfühlt“ eingestellt. Aerosmith singen davon, dass sie nichts verpassen wollen: I Don’t Want to Miss a Thing.
Mein Kopf wird gegen die Kopfstütze gedrückt, während wir die kurvigen Landstraßen entlangrauschen. Er fährt in seinem hellblauen BMW Z3 immer zu schnell. Seinem „James Bond“-Auto, mit dem er bei jeder Gelegenheit angeben muss.
„So habe ich das wirklich nicht gemeint“, sagt Matt plötzlich, den Blick auf die Fahrbahn geheftet. Der Motor heult auf, während er spricht.
Ich drehe mich zu ihm um, die Hände zwischen meinen übereinandergeschlagenen Beinen. Glücklicherweise habe ich eine Sonnenbrille auf. Ich fühle mich weniger ausgeliefert, wenn mein Gegenüber beim Streiten oder Diskutieren meine Augen nicht sehen kann. Sonst komme ich mir immer so schutzlos vor.
„Wie hast du es denn dann gemeint?“, frage ich Matts Profil in einem Tonfall, der meine Zweifel daran ausdrückt, ob seine Antwort mich zufriedenstellen kann. „Du behandelst mich wie ein Kind. Ihr alle behandelt mich so, ich habe es wirklich satt.“
„Die Art und Weise, wie ich es gesagt habe, tut mir ehrlich leid, das wollte ich nicht.“ Er bleibt ganz ruhig, wodurch ich mich noch mehr wie ein bockiges Kind fühle. „Wir wollen doch alle nur dein Bestes.“
„Ich halte es aber nicht mehr aus, die ganze Zeit umsorgt zu werden, Matt!“, platzt es aus mir heraus. „Dabei drehe ich noch durch. Vertraut mir doch einfach, dass ich das Richtige tun werde.“
Er hört mir zu, nimmt meine Worte auf, den Blick noch immer auf die Straße gerichtet. Dann nickt er und sieht mich flüchtig an. „Natürlich. Vielleicht bin ich tatsächlich überfürsorglich, weil ich dich liebe und mir Sorgen um dich mache. Ich hatte einfach nicht damit gerechnet, dass es dich so aufregen würde.“
Ich lege meine Hand auf seine, die das Lenkrad festhält. „Ich weiß“, sage ich sanft und lehne mich zu ihm hinüber. „Es tut mir leid. Ich bin … ein bisschen nervös.“
Er nimmt meine Hand vom Lenkrad und legt sie zurück auf meine Beine, dabei drückt er sie leicht.
Mein Verlobter. Seine strahlenden blauen Augen waren das Erste, was mir an ihm auffiel. Große Augen mit fürsorglichem Blick, ein paar Lachfältchen. Er ist von Natur aus blond, genau wie ich. Die Leute halten uns oft für Schweden und sagen, dass wir, „wenn es an der Zeit dafür ist“, bestimmt sehr hübsche Kinder bekommen werden. Matt trägt die Haare zu einer dieser angesagten, verwuschelten Tollen à la David Beckham aufgetürmt.
„Ich möchte dich aber doch daran erinnern, dass du die Finger vom Alkohol lassen solltest!“, sagt Matt und zieht die Augenbrauen hoch.
Ich werde wohl lernen müssen, solchen Situationen mit Humor zu begegnen. „Mach dir da mal keine Sorgen“, erwidere ich. „Ich werde nichts trinken. Seit April habe ich schon keinen Tropfen mehr angerührt.“
Ist es wirklich schon so lange her? Der Gedanke kommt mir seltsam vor, bis vor sechs Monaten haben Matt und ich noch unseren verrückten, schnelllebigen Alltag in London gehabt. Mittlerweile wohnen wir in einem ruhigen Dorf in Cambridgeshire, nicht weit von meinem Vater und meiner Schwester entfernt. Ruhig ist allerdings gar kein Ausdruck. Eine ganz schöne Umstellung mit gerade mal sechsundzwanzig Jahren.
Ich bin mir nicht ganz sicher, was die Stephanie, die ich kenne, hier zu suchen hat. In diesem exklusiven Landhaus eine knappe Stunde von meinem neuen Zuhause entfernt, in dem ich an einem Wochenendkurs über Kunst und Fotografie teilnehme. Die alte Steph wäre sicher außer sich.
Aber im Herbst ist es hier wirklich schön. Ich habe seit meinem achtzehnten Lebensjahr in London gewohnt, bin jedoch auf dem Land groß geworden, weshalb es sich für mich ein wenig nach Heimat anfühlt. Es erinnert mich an meine Mutter. Ich mag alles daran: die Farben, den kühlen Wind, selbst diesen typischen Klang – ja, es gibt ihn wirklich. Ich würde am liebsten im Herbst heiraten, aber Matt besteht aus einer Reihe von für mich nicht nachvollziehbaren Gründen auf eine Sommerhochzeit: bessere Fotos, die Gäste mögen sommerliche Feste lieber, sie sind eher ein „Ereignis“. Deshalb werde ich nächstes Jahr am 14. Juli 2007 zu Mrs Stephanie Bywater.
Als wir die Landstraße verlassen und in einen malerischen Ort einbiegen, wird mir durch das schnelle Abbremsen des Wagens übel. Vielleicht sind es aber auch nur die Nerven. Wir fahren an wunderschönen Häusern mit Eichen in den Gärten vorbei, bis uns ein Schild zu unserer Rechten den Weg nach Heathwood Hall weist.
„Hältst du es ein Wochenende über hier aus, Liebling?“, fragt Matt und zeigt auf das Schild.
„Das hoffe ich doch“, sage ich übertrieben fröhlich, obwohl ich mir wirklich Sorgen mache. Seit sechs Monaten habe ich nicht mehr als ein paar Stunden allein verbracht.
„Sei nicht zu streng mit dir“, sagt Matt. „Nutz das Wochenende, um zu entspannen und wieder zu dir selbst zu finden.“
Durch die Sonnenbrille kann Matt nicht sehen, dass mir Tränen in die Augen steigen.
Auf keinen Fall weinen. Nicht jetzt.
„Und außerdem …“, fährt er fort, „klingt es, als sei der Kurs wie für dich gemacht! Kunst, Fotografie und … und all die anderen Sachen. Das hat dir doch früher immer so viel Spaß gemacht.“
„Auf den ›all die anderen Sachen‹-Teil bin ich besonders gespannt.“ Ich muss lachen. „Und was hast du vor, während ich weg bin?“
„Morgen wollte ich Rugby spielen, Sonntag ins Fitnessstudio. Ich muss endlich meinen Körper in Form bringen. Es ist nie zu früh, um sich auf die Hochzeit vorzubereiten, Steph“, sagt er, lacht ebenfalls und nimmt die linke Hand vom Lenkrad, um mir seinen Bizeps vorzuführen. Seine durchtrainierten Arme zeichnen sich unter seinem dünnen, langärmligen Oberteil ab, und ich gleite spielerisch mit den Fingern daran entlang.
„Was habe ich für ein Glück!“, flüstere ich. „Oh! Wir sind da.“
Der Blinker gibt ein leises Klicken von sich, als wir nach Heathwood Hall abbiegen. Die tief stehende Oktobersonne taucht die Fahrbahn in ihr Licht, die Straße wird gesäumt von alten Eichen mit rot, orange und gelb leuchtenden Blättern. Während wir die Auffahrt hinauffahren, nehme ich die Brille ab, um einen ersten Blick auf das Gebäude zu werfen, das sich uns nach und nach in seiner vollen Pracht darbietet. In dem Prospekt wird es als „Jakobinisches Herrenhaus aus dem 19. Jahrhundert“ beworben. Ein besonderes Merkmal ist die hübsche Terrasse mit ihrem wunderschönen Springbrunnen, dahinter erstreckt sich eine sanfte Hügellandschaft.
Matt parkt direkt vor dem Eingang an einer der Seiten des Gebäudes und nimmt meine Sachen aus dem Kofferraum.
„Hör mal …“, sagt er und fasst mich um die Taille, „… amüsier dich gut und lass uns die alte Stephanie zurückholen, in die ich mich verliebt habe. Ich liebe dich.“
„Ich dich auch“, antworte ich.
Er hält mein Gesicht in seinen Händen, lächelt mich an und küsst mich dann flüchtig auf die Stirn. „Bis Sonntag! Ruf mich an, falls du etwas brauchst“, sagt er noch, während er schon wieder auf dem Weg zu seinem Wagen ist. „Und bring dich nicht in Schwierigkeiten.“
„Ich? Niemals!“, rufe ich zurück.
Wie sich herausstellt, hat mein Vater das Sternenlichtzimmer für mich gebucht, das teuerste von allen. Eine richtige Suite, völlig verschwenderisch und unnötig zugleich, wenn man allein ist, aber ich rechne ihm die Geste hoch an. Nachdem ich eine Viertelstunde lang im Mantel auf meinem Himmelbett gesessen und den Kamin angestarrt habe, wird mir bewusst, dass ich so langsam in die Gänge kommen sollte.
Ich nehme in der Hoffnung auf ein wenig Entspannung eine Dusche und wünsche mir, mutig genug zu sein, um an den obligatorischen Willkommenscocktails in der Bar teilzunehmen, die vor dem Abendessen geplant sind. Ob ich das wohl hinbekomme? Ich weiß einfach nicht, wie oft ich dieselben Small-Talk-Fragmente wiederholen kann. Alle werden fragen, warum ich hier bin, weil jeder einen Grund hat.
Als ich aus der Dusche steige, spüre ich, wie es anfängt. Panikattacken haben mich in den letzten Monaten regelmäßig heimgesucht, seitdem habe ich verschiedene Methoden gelernt, um sie im Zaum zu halten. Trotzdem kommen sie wieder. Ihre Art, sich anzuschleichen, stört mich am meisten. Ganz langsam setzt sich die Angst im Hals fest, wie der abgestandene Rauch in dreckigen Kneipen, und wenn sie einmal da ist, gibt es kein Zurück. Jeder Versuch, normal zu atmen, ist nutzlos, da die Attacken dadurch nur noch stärker werden.
Ich kralle mich im Badezimmer am Waschbecken fest, bis meine Knöchel weiß anlaufen, fixiere mein verschwommenes Bild im beschlagenen Spiegel und konzentriere mich ganz aufs Atmen. Meine tropfnassen Haare sind straff nach hinten gekämmt, mein ungeschminktes Gesicht sieht blass und verletzlich aus. Meine duschwarme Haut wird noch heißer. Ein klebriger Film bedeckt meinen Körper, als die Angst aus ihm herausquillt. Es fühlt sich an, als würde jedes bisschen Sauerstoff aus meinen Lungen gepresst. Was für ein erbärmlicher Anblick. Ich kann noch nicht einmal zwei Nächte allein verreisen, ohne zusammenzubrechen.
Als ich mich schließlich wieder unter Kontrolle habe und mir die Haare föhne, fasse ich den Entschluss, Matt anzurufen, damit er mich abholen kommt.
Ich schaffe es einfach nicht.
Dicke, heiße Tränen strömen mir übers Gesicht, als ich auf der Suche nach meinem Telefon durchs Zimmer tappe. Irgendwann finde ich es, es hat jedoch keinen Empfang. Ich will nur noch nach Hause. Ich atme tief ein, greife nach meinem Mantel, ziehe mir die Stiefel an und verlasse auf der Suche nach einem Telefonsignal mein Zimmer.
Die geschwungene Treppe renne ich förmlich hinunter, gerate auf den Holzstufen mehrfach fast ins Stolpern. Unten angekommen, laufe ich sofort in den Eingangsbereich.
Da sehe ich ihn.
2. Kapitel
Jamie
Das Feuer knistert und knackt wütend. Es lodert in einem großen und imposanten Kamin, ganz typisch für Orte wie diesen. Als ich davor stehen bleibe, schlägt mir die Hitze entgegen, die gleichzeitig gegen den eisigen Hauch von draußen ankämpft.
Ich betrachte gerade das Schild über dem Kamin, als die Stille des Augenblicks durch schnelle, näher kommende Schritte unterbrochen wird. Dann sehe ich sie.
Sie kommt in die Eingangshalle gestürmt, und unsere Blicke treffen sich.
Ich wende mich wieder dem Schild über dem Kamin zu, spüre jedoch ihre Anwesenheit, als sie an mir vorbeieilt. Ich beobachte sie aus den Augenwinkeln, sehe, wie sie am Empfangstresen in ihrer Tasche nach etwas sucht, ihr Telefon herauszieht, darauf schaut und sich dann die Nase schnäuzt. Ein lauter Seufzer entfährt ihr. Ich bin mir nicht ganz sicher, ob sie Hilfe benötigt oder nur ein aufgebrachter Gast ist, den man lieber in Ruhe lassen sollte.
„Es ist gerade niemand am Empfang. Ich warte auch“, sage ich, möchte ihr irgendwie helfen.
„Ach so. Dann warte ich“, sagt sie leise und dreht sich zu mir um. Sie streicht sich die blonden, langen Haare aus dem Gesicht und zieht sich den Mantel noch etwas enger um den Körper. Ihr Gesicht ist tränenverschmiert, und ihre großen grünen Augen sehen traurig aus. Ihre Arme sind leicht verschränkt, sie runzelt die Stirn und starrt zu Boden.
„Denken Sie das auch?“, frage ich.
„Wie bitte?“, sagt sie und sieht mich dabei etwas verwirrt an.
„Denken Sie das auch?“, wiederhole ich und mache eine Kopfbewegung in Richtung des Schildes über dem Kamin. Sie sieht hoch und folgt meinem Blick. Das Schild ist aus einem dunklen Stück Holz gefertigt, in das kunstvoll aufwendige Verzierungen geschnitzt wurden. In goldenen Lettern steht darauf:
Dem Schicksal begegnet man auf dem Weg, den man nimmt, um ihm auszuweichen.
Über ihr Gesicht huscht ein Lächeln. „Nein“, antwortet sie. „Und Sie?“
„Selbstverständlich. Glauben Sie nicht an das Schicksal?“
„Eigentlich nicht. Vielleicht früher einmal, als Kind. Aber nun nicht mehr.“
„Das klingt nach einer traurigen Geschichte.“
„Tja, wie es aussieht, bin ich eine geborene Zynikerin“, sagt sie und zuckt mit den Schultern.
„Sie glauben nicht daran, dass Dinge aus einem bestimmten Grund passieren? Glauben Sie also eher an den Zufall?“, hake ich nach.
Einen Moment lang betrachtet sie aufmerksam das Schild und nimmt dabei, ohne sich dessen bewusst zu sein, eine Denkerpose ein. Das Knistern und Knacken des Feuers ist das einzige Geräusch, das die Stille durchbricht.
„Wenn ich ehrlich bin, glaube ich an nichts so richtig“, sagt sie schließlich. „Aber es ist wirklich ein schönes Stück.“
Ich lächle und drehe mich zu ihr um. „Ja, das finde ich auch. Was gefällt Ihnen daran?“
„Jedes Detail ist bis ins Kleinste ausgearbeitet. Die Linien dort unten wirken so glatt. Und dann hier … diese Rosen oder Blumen, wie kann man so etwas Feines überhaupt schnitzen? Faszinierend!“
„Das stimmt“, pflichte ich ihr bei. „Mir gefällt die Asymmetrie besonders gut. Das war sicherlich in der Entstehungszeit noch ziemlich ungewöhnlich. Aber das macht es nur noch einzigartiger.“
„Ja! Schauen Sie sich nur das Symbol dort in der Mitte an. Das sieht irgendwie keltisch aus, nach einem Knoten oder so.“
„Ja“, erwidere ich und richte meinen Blick auf die verflochtenen Holzlinien, die sich wie Ranken um das Schild winden, oben aufeinandertreffen und ein beeindruckendes, labyrinthartiges Muster bilden. „Das ist ein Liebesknoten. Er steht für Liebe, Zuneigung und Freundschaft in der Kunst.“
Sie nickt wohlwollend, aber ich merke, dass sie gar nicht richtig bei der Sache ist und vermutlich nur höflich sein möchte.
„Sie nehmen mir das wohl nicht ab, oder? Wollen Sie wirklich eine Ungläubige bleiben?“ Ich zwinkere ihr zu.
„Und ob!“ Sie lacht und sieht zum Empfang hinüber.
„Sind Sie in Eile, wollen Sie abreisen?“, frage ich.
„Ja, nein, also … irgendwie schon. Ich habe keinen Empfang und muss dringend telefonieren, damit mich jemand abholen kommt.“
„Ach so, ja, Telefonempfang gibt es hier drinnen tatsächlich nicht, es ist wirklich ein Albtraum“, erkläre ich. „Nur an einem einzigen Ort auf dem ganzen Gelände kann man sein Telefon nutzen. Den kann ich Ihnen gern zeigen, wenn Sie möchten?“
„Das wäre fantastisch! Sehr nett von Ihnen!“, erwidert sie.
Ich führe sie nach draußen und die Treppen hinunter.
„Ich danke Ihnen vielmals“, sagt sie. „Ich möchte Ihnen wirklich keine Umstände machen. Kommen Sie gerade an, oder reisen Sie ab?“
„Ich bin gerade aus Manchester angekommen, das war eine lange Fahrt.“
„Ich habe schon überlegt, woher Sie stammen. Ihrem Akzent nach zu urteilen, hätte ich auf Leeds getippt, aber ich bin in solchen Sachen wahrlich keine Expertin.“
„Leeds?“, rufe ich empört. „Also wirklich, da wünsche ich mir glatt, ich hätte Ihnen niemals meine Hilfe angeboten.“
Sie lacht, und wir nähern uns der Terrasse. Alles ist hell erleuchtet, das Licht aus den Zimmern ergießt sich über die Fassade. Der riesige Springbrunnen davor ist reich verziert, steinerne Blätter und Rosen schmücken die verschiedenen Ebenen, winden sich schlangengleich um die Struktur. Ganz oben ist eine junge Frau, mit einem flötenähnlichen Instrument, in einer Tanzpose erstarrt. Ihr Rock ist hochgewirbelt, die Arme wild.
„Wow, ist das schön“, sagt sie und sieht staunend hoch. „Wie der Brunnen wohl aussieht, wenn das Wasser eingeschaltet ist?“
„Zumindest ist das hier der Ort, den ich meinte. Versuchen Sie es.“
Sie fasst in ihre Manteltasche und zieht ihr Telefon heraus. Das helle Display beleuchtet ihr Gesicht, als sie es anschaltet. „Sie hatten recht. Zumindest ein kleines bisschen Empfang gibt es hier!“, sagt sie, ruft bei jemandem an und hält sich das Telefon ans Ohr.
Plötzlich komme ich mir wie ein Eindringling vor, also ziehe ich mich langsam zurück und gehe in Richtung Eingangshalle.
„War ja klar“, ruft sie.
Ich drehe mich zu ihr um und sehe sie an.
„Da scheue ich keine Mühen, um anzurufen, und was passiert dann? Mailbox! Ich versuche es in ein paar Minuten noch einmal.“
„Darf ich Ihnen Gesellschaft leisten?“, frage ich. „Ich denke wirklich, ich sollte bis zum Ende der Mission die Stellung halten.“
„Wenn Sie möchten …“, antwortet sie und setzt sich auf eine Ecke des Brunnens, die in Richtung Dunkelheit, auf die Hügel hinaus zeigt.
Ich nehme neben ihr Platz. „Kommen Sie also gerade an, oder reisen Sie ab?“
„Gute Frage!“ Sie lächelt verlegen. „Ich weiß es selbst nicht so genau“, sagt sie und streicht sich durch die Haare, bevor sie die Hände auf den Knien ineinander verschränkt. „Ich bin erst vor ein paar Stunden angekommen, aber vielleicht reise ich heute Nacht noch ab.“
„Okay … Sind Sie allein hier?“
„Ja, also eigentlich nicht. Ich sollte mit einer Gruppe hier sein. So ein Kunstding. Aber ich glaube, ich bin nicht in der Stimmung dafür“, sagt sie leise und sieht auf ihr Telefon.
„Warum nicht?“
Sie schaut auf den Steinboden und schlägt die Spitzen ihrer Stiefel gegeneinander, bevor sie antwortet. „Ich habe eine schwere Zeit hinter mir. Eine Art Zusammenbruch vor sechs Monaten, und ich versuche gerade, darüber hinwegzukommen.“
„Ach so, das tut mir leid.“
Sie lächelt höflich in meine Richtung. Die Art von Lächeln, die ausdrücken soll: Ich weiß, da kann man nicht viel zu sagen.
„Was wollen Sie, das Sie nicht haben?“
„Wie meinen Sie das?“, fragt sie zurück und zieht die Augenbrauen hoch.
„Wenn im Leben nicht alles rundläuft, liegt es oft daran, dass man etwas braucht oder etwas will, das gerade fehlt. Was könnte das bei Ihnen sein?“
Sie starrt in die Dunkelheit und sucht nach einer Antwort. Das Licht aus der Eingangshalle umspielt beinahe zärtlich ihr Gesicht.
„Ich habe wirklich keine Ahnung“, sagt sie dann und schüttelt den Kopf. „Ich habe tatsächlich alles, was ich brauche – eine Familie, die mich unterstützt, eine gute Arbeit, und für nächstes Jahr ist meine Hochzeit geplant …“
„Ich denke, es gibt einen Unterschied zwischen dem, was wir brauchen, und dem, was wir wollen. Was das ist, müssen Sie allerdings selbst herausfinden.“
„Vielleicht bin ich ja auch nur eine verwöhnte Göre und sollte dankbarer sein für alles, was ich habe“, sagt sie nachdrücklich.
„Na ja“, entgegne ich. „Ich nehme mal an, dass es da jede Menge zwischen den Zeilen gibt, und Sie haben es nur noch nicht herausgefunden. Aber das werden Sie, da bin ich mir sicher.“
„Vielleicht“, sagt sie und lacht, dabei steckt sie ihre Hände in die Manteltaschen, um sich warm zu halten.
„Was ist denn so lustig?“ Ich lächle.
„Sie erinnern mich nur an jemanden, der ähnliche Dinge sagen würde, das ist alles.“
Ich sehe sie mit betont zusammengekniffenen Augen an, wodurch sie nur noch mehr lachen muss, dann wechsle ich das Thema.
„Was hat Sie dazu veranlasst, an dem Kunstkurs teilzunehmen?“
„Kunst – also ehrlich gesagt hauptsächlich Fotografie – war vor Jahren eins meiner größten Hobbys. Deshalb hat meine Familie den Kurs für mich gebucht. Sie dachten, er könnte mir dabei helfen, mich selbst zu finden.“
„Klingt, als sollten Sie unbedingt an dem Kurs teilnehmen. Sie können sicher viel daraus mitnehmen. Kunst hat eine beruhigende Wirkung auf die Seele.“
„Glauben Sie das wirklich?“, fragt sie überrascht und legt dabei den Kopf zur Seite. „Ich hätte Sie jetzt nicht gerade für den Kunsttyp gehalten. Die sind meistens so extravagant, und Sie wirken eher …“
„… eher wie?“
Sie mustert mich von Kopf bis Fuß. Ich mache mir Sorgen, zu gammelig auszusehen – habe mich schließlich schon seit Tagen nicht rasiert, und durch meine dunklen Haare wirken die Stoppeln schon fast wie ein Bart.
„Eher normal“, sagt sie plötzlich.
Ich lache. „Auch ich hätte nicht gedacht, dass Sie so ›am Boden zerstört‹ sind, wie Sie gerade geschildert haben. Der Schein kann trügen.“
„Das stimmt wohl.“ Sie lächelt. „Warum sind Sie hier?“
„Ich verbringe das Wochenende mit ein paar Freunden“, sage ich. „Warum schlafen Sie nicht eine Nacht darüber und entscheiden dann?“
Da klingelt ihr Telefon. Sie nimmt es aus der Tasche, wirft mir einen Blick zu und guckt dann aufs Display.
„Gehen Sie ruhig ran. Es hat mich gefreut, Sie kennenzulernen – ach ja, ich heiße übrigens Jamie“, sage ich noch schnell und bewege mich langsam rückwärts in Richtung Eingangshalle.
„Stephanie“, antwortet sie lächelnd und geht ans Telefon.
Staffeleien, Bleistifte, Kreide und Acrylfarben sind überall verteilt. In dem Raum wurden einige Heizstrahler aufgestellt, vermutlich damit das Aktmodell nicht frieren muss, wenn es an der Reihe ist.
„Hallo zusammen! Ich heiße Jamie Dobson und werde den Workshop zur bildenden Kunst leiten …“
Die Teilnehmer sehen mich erwartungsvoll von ihren Arbeitsplätzen aus an, sie wollen endlich loslegen. Sie nicken anerkennend, als ich ihnen erzähle, dass ich achtundzwanzig Jahre alt bin und einen sehr guten Abschluss an der Central Saint Martins Kunst- und Design-Hochschule in London gemacht habe, bereits renommierte Stipendien mit berühmten Künstlern erhalten und regional ausgestellt habe. Dann sehe ich sie ganz hinten im Saal, sie lächelt mir zu.
„Du hast dich also entschieden zu bleiben, wie ich sehe?“, frage ich, als ich sie direkt nach meiner kurzen Einführung aufsuche.
Sie lacht und schüttelt gleichzeitig ungläubig den Kopf. „Was soll ich sagen, du hast mich ja geradezu überredet.“
Die nächsten Stunden verbringen wir damit, verschiedene Stillleben zu zeichnen: Ein paar auf einem Tisch drapierte Gegenstände und verschiedene Früchte, dann ist das Aktmodell an der Reihe.
„Bitte nicht anschauen! Es ist furchtbar. Ich bin eine echte Niete im Zeichnen“, sagt Stephanie und versucht, ihre Staffelei mit den Händen zu bedecken, als ich durch den Kursraum wandere.
„Das stimmt doch gar nicht. Ich finde, du hast das Licht hier ganz toll eingefangen, wirklich sehr gut!“
„Meinst du das hier, wo ich einfach nur etwas Schwarz um den Stuhl herum gemalt habe? Das war aber eigentlich nicht die Aufgabe, oder?“
„Wichtig ist, das zu interpretieren, was man sieht. Es geht nicht darum, eine perfekte Nase oder realistische Hände zu zeichnen“, erkläre ich. „Außerdem sind Schatten tatsächlich ein sehr wichtiger Teil von Bleistift- und Kreidezeichnungen.“
Ich strecke meine Hand aus und fasse ihr sanft unters Kinn, damit sie es leicht nach vorn schiebt.
„Wenn man ein Gesicht zeichnen möchte, reicht dafür nie eine Linie“, erkläre ich und fahre mit dem Finger sacht am Rand ihres Gesichts entlang. Ihre grünen Augen sehen die ganze Zeit über in meine. „Beim Zeichnen kommt es tatsächlich größtenteils darauf an, das einzufangen, was man nicht sieht, und nicht das, was man sieht.“
Sie lacht verhalten. „Das verstehe ich nicht so ganz.“
„Manchmal kann man nur etwas sehen, wenn man darum herum zeichnet … wenn man wahrnimmt, was sich in den Schatten verbirgt. Verstehst du?“
„Ja“, flüstert sie.
„Jamie, könntest du einen Blick auf die Hände hier werfen? Ich glaube, ich habe sie vermasselt“, ruft ein Mann von der anderen Seite des Raumes.
Unsere Blicke suchen sich noch ein letztes Mal, bevor ich mich den Arbeiten anderer Kursteilnehmer zuwende und sie weiterhin Schatten finden lasse.
Nach einem vollen Workshoptag möchte ich einfach nur nach draußen, um noch ein wenig frische Luft zu schnappen. Ich unterrichte gern, aber das Wochenendprogramm hat es ganz schön in sich. Ich laufe an der Vorderseite des Landhauses hinaus ins Grüne, da sehe ich jemanden auf der Bank unter der riesigen Eiche sitzen. Als ich bemerke, dass es wieder Stephanie ist, kann ich mir ein Grinsen nicht verkneifen.
„Bitte lächeln!“, ruft sie und richtet einen Fotoapparat auf mich.
Ich versuche, die Pose eines Fotomodells aus dem Katalog nachzuahmen. Das Gewicht auf einem Bein, die Hände in den Taschen, gucke ich nachdenklich in die Ferne.
„Gut so?“, frage ich mit meinem typisch nach Manchester klingenden Einschlag und versuche dabei zu wirken wie Liam Gallagher.
„Wunderbar! Nächster Halt: Mailand“, ruft sie, während ich auf sie zuschlendere.
„Ist hier noch frei?“, frage ich und zeige auf den Platz neben ihr.
„Natürlich“, antwortet sie, nimmt die iPod-Kopfhörer aus den Ohren und steckt sie in die Tasche.
„Ich freue mich, dass du geblieben bist.“
„Ja, ich bin auch froh. Es war gar nicht so schlimm, wie ich befürchtet hatte. Und jetzt bin ich tatsächlich richtig stolz auf mich.“
„Das solltest du auch. Also, ich weiß ja nicht genau, warum, aber stolz auf sich zu sein kann nie schaden.“
„Warum hast du mir eigentlich verschwiegen, dass du einer der Dozenten des Workshops bist?“
Ich drehe mich lachend zu ihr um. „Tja. Das war nicht so wichtig. So konnte ich der interessante Fremde sein, dem du dich öffnest. Vielleicht hättest du dich anders entschieden, wenn du gewusst hättest, dass du mich wiedersehen würdest.“
„Und wer, bitte schön, hat gesagt, dass ich dich interessant fand?“
„Ich bin ein Künstler, selbstverständlich bin ich interessant! Nein, du hast natürlich recht, ich bin einfach nur ein Kunstfreak, der es nicht bis zum richtigen Künstler gebracht hat. Es macht mir allerdings Spaß, vom Rand aus zuzusehen.“
„Wie bitte? Nun hör schon auf!“, quietscht sie und versetzt mir einen spielerischen Stoß mit dem Ellbogen. „Ich habe doch von deinen ganzen beeindruckenden Leistungen gehört, hast du uns nicht sogar selbst davon erzählt?“
„Das mag sein“, erwidere ich. „Hast du Lust auf ein Gläschen Wein? Ich könnte uns eine Flasche besorgen und sie hier herausbringen? Und ein paar Decken. Die Nacht ist perfekt, um die Sterne zu betrachten.“
Sie schaut bewundernd zum Himmel hinauf, der mit jeder Minute dunkler wird, und sagt einen Augenblick lang nichts.
„Stephanie?“
„Ja? Oh, entschuldige“, sagt sie. „Wein? Ja, warum nicht. Aber nur ein Glas. Ich habe keine Lust, morgen mit einem Kater aufzuwachen.“
„Alles klar“, erwidere ich, springe auf und laufe zum Landhaus zurück. Dann drehe ich mich doch noch einmal zu ihr um. „Was ist dir lieber? Rot oder Weiß?“
„Weiß“, sagt sie. „Ich mag keinen Rotwein.“
„Ich auch nicht“, rufe ich zurück.
Ich besorge uns ein paar große karierte Wolldecken, die so typisch für Landhäuser wie dieses sind, in die wir uns einwickeln. Stephanie steckt sogar ihre Haare hinten unter die Decke, aber sie fallen weiterhin lose um ihr Gesicht. Ich nehme ihr das Versprechen ab, niemandem zu verraten, dass ich so eine warme Decke benutze. Ich bin schließlich ein „harter Kerl aus dem Norden“ und tue das selbstverständlich nur ihr zuliebe, damit sie sich besser fühlt.
Wir reden und lachen.
Unsere Leben könnten nicht unterschiedlicher sein – ich bin durch die harte staatliche Schule gegangen, und sie war auf kostenpflichtigen Privatschulen –, aber wir finden auch Gemeinsamkeiten, wie etwa die Liebe zur Kunst, Literatur und Musik. Wir beide verabscheuen Queen – die Band und nicht unsere Königin. „Mir gefällt Bohemian Rhapsody, Jamie“, sagt sie, „aber mit den anderen Sachen kann ich nichts anfangen. Viel zu laut und zu dramatisch.“
Wie erwartet ist die Nacht klar, und die Sterne sind sehr gut zu erkennen.
„Darf ich dich danach fragen, was vor ein paar Monaten geschehen ist? Man merkt dir gar nichts mehr an.“
Sie zuckt mit den Achseln. „Das ist eine ganz schön lange Geschichte, irgendwie hatte ich mich selbst verloren.“
„Eindeutig uneindeutig“, witzle ich und blinzle ihr dabei verschwörerisch zu.
„Darin bin ich echt gut, findest du nicht?“
„Und wie“, stimme ich ihr zu. „Wie hat deine Familie darauf reagiert?“
„Schwer zu sagen.“
„Warum?“
„In meiner Familie wird nicht offen miteinander geredet. Jeder hat sein Päckchen zu tragen, aber es wird nie darüber gesprochen.“
„War das immer schon so?“
„Nein.“ Sie nimmt einen großen Schluck Wein. „Aber erzähl du mal von deiner Familie. Eltern? Brüder? Schwestern?“
„Einzelkind. Meine Mutter lebt noch in Manchester. Mein Vater ist abgehauen, als ich noch klein war. Seit meinem zehnten Lebensjahr habe ich ihn nicht mehr gesehen.“
„Oh, das tut mir leid.“
„Es ist, wie es ist.“
„Er weiß nicht, was er verpasst“, sagt sie beschwingt und versucht, so ein Gespräch aufzulockern, das in ganz schön tiefes Fahrwasser geraten ist. „Aber jetzt erzähl doch erst mal mehr von dir.“
„So viel gibt es da nicht zu sagen. Ich arbeite an einer Schule und versuche, meine eigenen Projekte zu verwirklichen, wann immer ich die Zeit dafür habe. Die Garage ist mein Atelier.“
„Das ist ja fantastisch, dass du auch deine eigenen Sachen machst“, sagt sie begeistert. „Und was ist dein Traumziel?“
„Mein Traumziel?“
„Ja.“
Ich denke einen Augenblick nach und sehe in die Sterne.
„Meinen Lebensunterhalt als Künstler zu verdienen. Mein bester Freund Cal ist Designer. Momentan verdient er fast nichts, aber irgendwann wird es so weit sein. Immerhin schafft er es jetzt schon, seine Ideen unter die Leute zu bringen. Er, meine Frau und ich waren an der Uni die besten Freunde.“
„Oh, das ist sicher wichtig, mit jemandem verheiratet zu sein, der selbst einen Sinn für Kunst hat“, sagt Stephanie. „Wie heißt sie?“
„Helen. Und ja, das stimmt, sie liebt meine kreative Ader.“
„Das kann ich mir vorstellen. Wie lange seid ihr denn schon ein Paar?“
Ich lächle sie an. „Wir sind schon mit achtzehn zusammengekommen.“
„Ach, echt? Das ist ja wundervoll.“
„Wir haben uns am Saint Martins kennengelernt. Sie ist eine fantastische Designerin und arbeitet in der Werbebranche in Manchester.“
„Sie hat also einen etwas kommerzielleren Weg eingeschlagen?“
„Ja, sie ist viel pragmatischer als ich. An mir ist wohl eher ein unkonventioneller Künstler verloren gegangen.“
„Wann habt ihr geheiratet?“
„Vor drei Jahren. Bisher noch keine Kinder – das ist zumindest sonst immer die nächste Frage“, sage ich und verdrehe die Augen.
„Das hat doch keine Eile. Ich möchte damit auch noch ein wenig warten“, stimmt sie mir zu und nippt dabei an ihrem Glas Wein.
„Egal …“ Ich stupse ihren Arm an. „Jetzt zu deinem Traumziel? An dem riesigen Klunker an deinem Finger kann ich ablesen, dass du verlobt bist. Ist die Traumhochzeit schon geplant?“
„Ja, nächsten Juli steigt das große Fest“, sagt sie und hält sich die Hand mit dem Diamantring, in dem sich das Licht des Gebäudes bricht, dicht vor die Augen.
„Die Art von Hochzeit, die du dir schon immer gewünscht hast?“
„Es wird sicher wunderschön. Das Fest findet in einem traumhaften Schloss statt, eine Stunde von zu Hause entfernt, es gibt sogar einen Wassergraben und auch ansonsten alles, was man sich nur wünschen kann. Matt hat es gefunden und hält es für perfekt“, schwärmt sie.
„Wie hast du Matt kennengelernt?“
„Vor ungefähr vier Jahren, als ich noch in London lebte. Bei einer Party. Wenn ich ganz ehrlich bin, ging es mir damals nicht so gut, aber das habe ich erst später verstanden“, erklärt sie und schlingt dabei die Decke noch fester um sich. „Aber er ist die ganze Zeit über bei mir geblieben und hat es mit mir zusammen durchgestanden. Er arbeitet für unseren Familienbetrieb, als Verkaufsleiter. Und ich arbeite dort als Marketing-Managerin.“
„Und bist du glücklich?“
„Natürlich!“, antwortet sie und sieht mich dabei an, als sei ich verrückt, weil ich überhaupt danach frage. „Ich habe den Ring, wir haben ein Datum festgelegt, unsere hundert engsten Freunde und Verwandten eingeladen …“
„Nur hundert?“
„Und außerdem“, sagt sie lachend, „ist Matt ein wirklich toller Mann. Er schaut mich an und sieht eine sichere Zukunft, eine Ehefrau und die zukünftige Mutter seiner Kinder …“
„Er sieht sicher auch, was ich sehe, eine kluge, lustige, intelligente und schöne junge Frau.“
„Nein“, sagt sie sehr schnell und wirft mir einen flüchtigen Blick zu. „Matt schaut mich an. Er sieht mich nicht. Das ist ein Unterschied.“ Ihr Blick wandert unsicher umher.
„Ja“, sage ich leise. „Das stimmt.“
Wir sitzen beide ruhig da, ohne ein Wort zu wechseln. Sie sieht mich an. Es ist einer dieser Momente, in denen man sich zu einer anderen Person hingezogen fühlt und das Herz ein wenig schneller schlägt. Plötzlich ist da diese Kluft aus Unsicherheit zwischen uns und unseren nur ein kleines Stück voneinander entfernten Gesichtern. Wir sehen uns endlos lang in die Augen, auch wenn in Wirklichkeit nur wenige Sekunden vergehen. Wir haben uns lange unterhalten, jetzt ist es still. Ich höre nur unseren Atem, der deutlich schneller geworden ist. Als sich unsere Gesichter einander nähern, spüre ich einen Hauch ihrer Lippen auf meinen. Dann schrecken wir beide gleichzeitig zurück.
Wir reden immer noch nicht, doch jetzt ist es ein unangenehmes, peinlich berührtes Schweigen.
„O Mann. Also wirklich, es tut mir leid“, sage ich, stelle mein Glas ins Gras und lege die Decke beiseite.
„Nein! Mir tut es leid“, antwortet sie. „Lieber Himmel, was war das denn?“
„Keine Ahnung. Wir haben vermutlich einfach zu viel getrunken“, flunkere ich. Keiner von uns macht einen besonders angetrunkenen Eindruck, aber irgendetwas muss ich sagen, da ich überhaupt nicht einordnen kann, was da gerade passiert ist. „Ich sollte jetzt wohl besser gehen.“ Ich stehe auf, atme ein paarmal tief durch und halte Abstand zu ihr.
„Ja, mach das. Ich bleibe noch einen Augenblick hier sitzen.“
„Bist du dir sicher, dass alles in Ordnung ist?“, frage ich und fahre mir mit den Fingern durchs Haar.
„Ja, alles klar“, sagt sie und zieht ihre Knie an die Brust.
„Okay, gut. Dann sehen wir uns vermutlich morgen, bevor du abreist.“
„Gute Nacht, Jamie!“
Ich schlafe nur wenige Stunden.
Was. War. Das. Denn?
Fast ein Kuss.
Was habe ich mir bloß dabei gedacht? Was haben wir beide uns dabei gedacht? So etwas ist mir vorher noch nie passiert. Zum Glück haben wir gerade noch rechtzeitig aufgehört. Ich hätte es niemals so weit kommen lassen dürfen. Aber es war so schön mit ihr. Ich wollte sie noch besser kennenlernen. Da ist etwas an ihr …
Am nächsten Tag sehe ich sie nicht. Sie nimmt an keinem meiner Workshops teil.
Als alle Kurse vorüber sind und es an die Abreise geht, ist die Eingangshalle brechend voll. Alle Teilnehmer treffen sich in der Nähe des Kamins, und ich betrachte das Schild darüber, das unser erstes Gespräch bestimmt hat. Unwillkürlich verzieht sich mein Gesicht zu einem Lächeln, während ich darauf warte, die Schlüssel abzugeben.
„Jamie?“
Ich drehe mich um, und da steht Stephanie, sie sieht viel fröhlicher aus als bei unserem ersten Treffen. Wenn sie lächelt, zeichnen sich ihre Wangenknochen besonders deutlich ab, ihre Nase zeigt ein wenig nach oben und bebt leicht beim Sprechen.
Sie ist schön.
„Stephanie! Brichst du schon auf?“
„Ja, Matt wartet draußen. Ich wollte mich nur verabschieden.“
„Ach so, na dann!“ Ich lächle und bin irgendwie enttäuscht, ein Gefühl, das ich mir nicht ganz erklären kann. „Es war schön, dich kennenzulernen, wenn auch nur kurz.“
„Ja, das finde ich auch“, lächelt sie zurück und sieht mir dabei tief in die Augen.
„Ich wünsche dir alles Gute! Zeichne weiter, du hast Talent“, gebe ich ihr noch mit auf den Weg.
„Ja, das werde ich machen. Vielleicht komme ich nächstes Jahr wieder“, sagt sie, nimmt ihre Tasche und läuft auf den Haupteingang zu.
Einen Augenblick lang stehe ich wie versteinert da, frage mich, ob ich noch etwas sagen soll. Für wen halte ich mich, ihr Ratschläge geben zu können? Ich kenne sie gerade einmal achtundvierzig Stunden. Ach, was soll’s. Ich werde sie nie wiedersehen.
„Steph!“
Sie dreht sich noch einmal um, die Tür ist schon geöffnet. Ich laufe zu ihr hin. „Ich wollte nur sagen …“
„Ja?“, flüstert sie.
„Die Menschen sehen dich, wenn du es zulässt, verstehst du?“
Sie lächelt freundlich und haucht mir ein Küsschen auf die Wange. „Danke, Jamie.“
Ich sehe, wie sie die Treppen hinunterläuft und zum Parkplatz geht. Ein blonder Typ steigt aus seinem blauen Cabrio und umarmt sie, bevor er ihre Tasche in den Kofferraum legt. Dann bemerke ich, wie sie vor dem Einsteigen einen letzten Blick in Richtung der Tür wirft, durch die ich ihr nachsehe.
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