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Keine Rosy ohne Dornen (Arthur-Escroyne-Reihe 6)

Keine Rosy ohne Dornen (Arthur-Escroyne-Reihe 6) - eBook-Ausgabe

Arthur Escroyne
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Kriminalroman

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Keine Rosy ohne Dornen (Arthur-Escroyne-Reihe 6) — Inhalt

Es ist der bislang dramatischste Fall ihrer Laufbahn, den Detective Inspector Rosemary Escroyne in Trench-upon-Water zu lösen hat. Die idyllische Gemeinde steht unter Schock, denn ein stadtbekannter Antiquitätenhändler wurde Opfer eines Ritualmords. Ohne die Hilfe von Allegra Stone, einer Londoner Spezialistin für frühzeitliche Menschenopfer, würde Rosy bei ihren Ermittlungen längst feststecken. Aber auch privat kommt sie nicht voran, die Fronten zwischen ihr und Arthur sind verhärtet. Seit ihren Affären haben sie nicht wieder zueinandergefunden. Arthur selbst ist in einem erbarmenswerten Zustand. Nichts wünscht sich der 36. Earl of Sutherly sehnlicher, als sich mit Rosy zu versöhnen, weil ihr kleiner Sohn unter der Trennung leidet, aber auch weil Arthur spürt, dass er seine Rosy noch immer von ganzem Herzen liebt …

€ 9,99 [D], € 9,99 [A]
Erschienen am 02.05.2018
Übersetzt von: Rudolf Katzer
288 Seiten
EAN 978-3-492-99009-7
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Leseprobe zu „Keine Rosy ohne Dornen (Arthur-Escroyne-Reihe 6)“

Der Schlossherr

Es gibt Millionen alleinstehender Männer in unseren Städten, unglückliche Männer, an der Liebe gescheiterte Männer. Jede dieser einsamen Geschichten muss durchlebt werden, Stunde für Stunde und Tag für Tag, auch die meine, egal, ob Wolken über Sutherly Castle hinwegfegen oder der Herbstregen auf das löchrige Dach niedergeht, ob der Frost die Fenster mit Eisblumen schmückt oder der Nebel so dicht ist, dass er durch den Kamin in den Salon quillt.

Ich bin Harold Philipp Arthur Escroyne, der 36. Earl von Sutherly, und fühle mich so einsam, [...]

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Der Schlossherr

Es gibt Millionen alleinstehender Männer in unseren Städten, unglückliche Männer, an der Liebe gescheiterte Männer. Jede dieser einsamen Geschichten muss durchlebt werden, Stunde für Stunde und Tag für Tag, auch die meine, egal, ob Wolken über Sutherly Castle hinwegfegen oder der Herbstregen auf das löchrige Dach niedergeht, ob der Frost die Fenster mit Eisblumen schmückt oder der Nebel so dicht ist, dass er durch den Kamin in den Salon quillt.

Ich bin Harold Philipp Arthur Escroyne, der 36. Earl von Sutherly, und fühle mich so einsam, dass ich schreien könnte. Gewiss ein merkwürdiges Bild, wenn der Schlossherr aus dem Westturm von Sutherly Castle heult. Aber die Einwohner von Trench-upon-Water, meines Heimatstädtchens, würden daran keinen Anstoß nehmen. Sie würden einander traurig zunicken und sagen: „Er kränkt sich sehr, unser Earl, kein Wunder, denn seine Rosy ist fort.“

Ja, meine Rosy ist fort. Rosemary, die Countess of Sutherly, meine Frau, lebt in einer Zweizimmerwohnung in Gloucester, etwa zwanzig Meilen von meiner Burg entfernt, aber sie ist keineswegs einsam. Rosy hat ihre Arbeit als Leiterin der Mordkommission unserer Grafschaft, ein ungewöhnlich verantwortungsvoller Job, und Rosy hat Philipp John, unseren fünfjährigen Sohn, meinen Stammhalter, den 37. Earl in spe. Rosemary stammt aus einer Arbeiterfamilie, ihre Leute wählen von alters her die Labour Party, und Rosy bedeutet die Erbfolge unseres Adelsgeschlechts wenig.

Sie hat alles, so kommt es mir wenigstens vor, während ich nichts habe. Ich sitze im Elfenbeinturm meines baufälligen Schlosses und beneide die Frau, die die Mörder unserer Gegend hinter Gitter bringt und sich Tag für Tag um unseren Sohn kümmern darf. Ich beneide Rosy, ich beneide sogar das polnische Kindermädchen, das Philipp John betreut, während Rosy im Dienst ist. Außerdem beneide ich jedes verdammte Pärchen, das ich am Fuße des Schlosses oder in der Stadt entdecke, junge und alte Leute, Händchen haltend, Pläne schmiedend, ich beneide die Pärchen sogar, wenn sie streiten.

Die Zeit des Streites zwischen uns ist vorbei. Rosy ist zu jener nüchtern sachlichen Kommunikation von Ex-Mann und Ex-Frau übergegangen, die mich rasend macht.

„Kannst du Philipp am Donnerstag schon um drei übernehmen? Dafür nehme ich ihn dir Sonntagabend ab“, schlägt sie zum Beispiel vor.

Wir haben einen Plan gemacht für das gemeinsam durchlebte Unglück, das man gemeinhin Trennung nennt. Ich verabscheue diesen Plan, denn es gibt keine Liebe nach Plan, kein Familienglück nach Plan, es gibt nur Enttäuschung, Missverständnis und Erniedrigung. Ich will kein getrennter, alleinstehender Mann sein, ich will überhaupt kein Earl mehr sein, wenn Rosy nicht meine Countess ist. Das Elend muss ein Ende haben, dem vielleicht ein Anfang innewohnt.

Es ist Ende September in Gloucestershire, eine Jahreszeit, die ich sonst liebe, wenn der Sommer seine sengende Kraft verliert und alles im Leben und in der Natur leichter, weicher, versöhnlicher wird. In diesem Jahr ist der September für mich vor allem mit der Angst behaftet, dass bald die Herbststürme und die düstere Winterstarre hereinbrechen werden. Es kommt die dunkle Jahreszeit, die ich allein auf der Burg werde zubringen müssen.

 

„Rosy, mach auf!“, brülle ich in den zweiten Stock hoch. Ich schäme mich, zu brüllen, es ist mir peinlich, aufzufallen, aber da Rosy die Tür nicht öffnet, bin ich dazu gezwungen. Ihr Apartment im nördlichen Gloucester hat gut isolierte Fenster, ohne Gebrüll kann ich ihre Aufmerksamkeit nicht erregen.

Nachdem ich das Hamsterrad meiner düsteren Gedanken lange genug durchlaufen und trostlos aus dem Westturm der Burg gestarrt hatte, ertrug ich den Zustand nicht länger. Ich schlüpfte in die Sandalen, klapperte die einhundertsechs Stufen zu unserem Parkplatz hinunter, sprang in den klapprigen Corolla und legte die zwanzig Meilen nach Gloucester in einem Tempo zurück, das man dem schäbigen Mittelklasseauto gar nicht zumuten möchte. Meinen geliebten Volvo hat Rosy einfach aus der Trennungsmasse beschlagnahmt und fährt ihn seither im Dienst.

„Komm schon, Rosy!“, setze ich mein Gebrüll fort. „Ich weiß, dass du da bist, der Volvo steht vor dem Haus.“

Sechs Uhr abends, ich bin überrascht, dass Rosy schon zu Hause ist; ich hatte angenommen, Philipp John noch in der Obhut von Rosza Włodarczyk vorzufinden. Ja, der Teufel Zufall will es, dass beide Frauen, die auf meinen Sohn aufpassen, dem Blumenreich zuzurechnen sind, Rosy und Rosza, zwei dornige Zerberusse, an denen ich vorbeimuss, wenn ich Philipp John sehen möchte.

Auch wenn heute Dienstag ist und nicht der verabredete Donnerstag, will ich meinen Sohn jetzt sehen. Üblicherweise betreue ich ihn Donnerstagnachmittag bis Freitag früh und bringe ihn morgens in die Nursery School. Außerdem habe ich ihn jede zweite Woche von Donnerstag bis Sonntag. Es ist ein sauberer Plan, aber ich pfeife darauf, ich will jetzt zu meinem Jungen.

„Rosy, Rosy, Rosy!“, schreie ich zu ihren Fenstern hoch.

Das mittlere öffnet sich, aber nicht der kastanienbraune Wuschelkopf meiner Ex-Frau taucht auf, sondern das platinblonde Haupt der polnischen Furie. Rosza Włodarczyk denkt auch mit Mitte fünfzig nicht daran, die Wahrheit über ihr weißes Haar zu lüften, und blondiert es alle zwei Wochen neu.

„Sie können nicht jedes Mal kommen, Sir Arthur, wann Sie kommen wollen“, sagt sie von oben herab.

Es ist nicht meine Art, ausländische Akzente zu verhöhnen, aber Roszas Wortschöpfungen und Satzbauten sind nur im Original wiederzugeben. Wenn Rosza Sir zu mir sagt, gibt es mir jedes Mal einen Stich, weil das Wort bei ihr dem Krächzen einer Krähe ähnelt – Seeer! Seeer!

„Wo ist meine Frau?“

„Rose Marie ist Dienst.“

„Wieso steht dann der Volvo da?“

„Ist Dienst in andere Dienstauto.“

„Wo ist Philipp?“

„Schläft Philipp. Hat lange in Sonne spielen.“

„Sie setzen meinen Sohn der prallen Mittagssonne aus?“

„Ich nicht. In Nursery School spielen.“

„Ich will ihn sehen. Ich möchte sehen, ob es ihm gut geht“, versuche ich sie mit gesundem Menschenverstand zu überzeugen.

Abwehrend streckt Rosza die Hände aus dem Fenster. „Seeer, Seeer, bitte kein Schwierigkeiten. Darf nicht aufmachen, Rose Marie sagt.“

„Muss ich wirklich erst meine Frau anrufen, damit sie Ihnen erlaubt, mich reinzulassen?“

„Ja, bitte anrufen“, kontert Rosza und schwups, ist das Fenster wieder zu.

Selbstverständlich rufe ich Rosy nicht an, weil sie nicht abheben würde. Während der Dienstzeit nimmt sie meine Anrufe nie entgegen. Rosy hat den Entschluss gefasst, ihr Leben außerhalb von Sutherly Castle auf eine neue Basis zu stellen. Rosy hat den Entschluss gefasst, mich nicht mehr zu lieben.

 

Detective Inspector Rosemary Escroyne will gerade den Hörer auflegen, aber selbst für eine Ermittlerin von Kapitalverbrechen ist es schwierig, einem polnischen Kindermädchen die Stirn zu bieten.

„Er tut mir so leid“, sagt Rosza Włodarczyk am anderen Ende.

„Wer tut dir leid?“

„Der Earl, Ihr Earl, der arme Earl.“ (Der schöne englische Titel Earl klingt aus Roszas Mund wie Errrrrl.)

„Warum tut er dir leid?“, erwidert Rosy mit der Geduld einer Heiligen.

„Wie er da steht, unten, wie er hoch will zu die kleine Lord, wie er sich sehnt und nicht darf und wie das so traurig ist.“

Auf welcher Seite stehst du eigentlich, würde Rosy am liebsten erwidern, aber mit falscher Gefühligkeit kommt man diesem großen, diesem traurigsten Thema auf der Welt nicht bei, dass zwei Menschen, die einander lieben, nicht mehr miteinander leben können.

„Wir sollten vor allem an den kleinen Lord denken“, versucht sie, die Sache ins Versöhnliche zu ziehen. „Er hat sich inzwischen an den Donnerstag-Turnus gewöhnt und weiß, dass er jeden Donnerstag auf dem Schloss ist. Wenn wir das durcheinanderbringen, gäbe es nur Verwirrung.“

Rosza am anderen Ende schweigt.

„Ist Arthur inzwischen wieder gefahren?“

Rosy hört Schritte, Rosza geht ans Fenster. „Ja, ist fahren. Kein Auto mehr vor dem Haus.“

„Na, siehst du.“ Rosy amüsiert die sentimentale Ader der sonst so lebenserfahrenen Rosza, deren Lieblingsfilm Der kleine Lord ist. Sie kann die rührende Schmonzette mit Alec Guinness gar nicht oft genug sehen und heult im letzten Drittel leidenschaftlich und herzzerreißend. Vielleicht hat es damit zu tun, dass Roszas eigene Kinder groß sind und nicht mehr in England leben. Die Polin sieht es als Ehre an, einen echten kleinen Lord betreuen zu dürfen, obwohl unser Junge dem blonden Sonnenschein aus dem Film in keiner Weise ähnelt. Philipp John ist zu einem reizenden Kobold herangewachsen. Er hat Rosys kastanienbraunen Wuschelkopf, pechschwarze Augen und einen frechen Mund, in dem zahntechnisch das Chaos regiert, das vor dem ersten Schöpfungstag geherrscht haben muss. Philipp ist noch zu klein, als dass man bereits dentistisch regulierend eingreifen könnte. Mehr als seine Zähne macht uns die leichte Behinderung Sorgen, die er von Geburt an hatte. Ich möchte nicht ins Detail gehen, aber mithilfe von Physiotherapie und einem genialen Logopäden haben wir große Fortschritte erzielt.

„Gut, Rosza, wir sehen uns dann in zwei oder drei Stunden.“

Rosy legt auf, atmet tief durch und wirft einen Blick aus dem Fenster. Warum nimmt sie sich die Zeit, noch einmal aus dem Fenster zu schauen, obwohl draußen ein wichtiger Zeuge wartet? Weil Rosy nicht aus Stein ist. Sie hat ein Herz so groß wie der Ozean, eine Seele so fein und sensibel, dass sie sich ein dickes Fell zulegen musste, um in ihrem Job den Kopf über Wasser zu halten. Rosy ist die Liebe in Person. Ja, ich wiederhole das: Rosy ist die Liebe. Daher macht es ihr zu schaffen, wenn das Kindermädchen erzählt, dass Rosys Ex-Lord vor dem Fenster steht und vor Sehnsucht zu seinem Knaben hochbrüllt. Rosy will Frieden und Harmonie, eigentlich will sie auch Liebe. Trotzdem ist sie der Überzeugung, dass es zwischen uns im Moment bestenfalls Frieden geben kann. Harmonie ist in unserer Situation unmöglich, und Liebe, nun, Liebe ist ein sehr großes Wort.

Die Tage werden kürzer, denkt Rosy beim Blick auf den Parkplatz der Polizeidirektion, das Wetter ist allerdings immer noch sommerlich. Was ist bloß mit dem britischen Wetter los? Niemand konnte bisher erklären, wieso die Hochdruckgebiete, die um unsere Insel früher konsequent einen Bogen gemacht haben, in den letzten Jahren genau über uns stehen blieben. Was ist aus dem guten alten verregneten England geworden? Das Bild des Briten mit dem Regenschirm unterm Arm ist nur noch eine historische Karikatur.

„Hier entlang“, hört Rosy aus dem Vorzimmer. Die Tür geht auf, und Sergeant Ralph Bellamy führt den Besucher herein.

Ja, Ralph ist wieder da, Rosys langjähriger Assistent, den eine Krankheit ein Jahr lang aus dem Verkehr gezogen hatte. Aus mehreren Gründen ist Rosy froh, dass sie ihren guten Ralph wiederhat, ihre Petersilie, wie wir ihn nennen, weil er belebend auf seine Chefin wirkt, ihr Energie spendet, sie manchmal aufregt und dadurch ihre Durchblutung fördert.

„Das ist Mr. Fiennes“, sagt Ralph beim Eintreten.

Rosy empfängt ihren Gast hinter dem Schreibtisch. „Mr. Fiennes, ich bin Rosemary Escroyne. Bitte nehmen Sie Platz.“

Fiennes setzt sich auf den angebotenen Stuhl. Ralph verzieht sich in seine Ecke, von wo aus er den Befragungen am liebsten beiwohnt.

Mr. Fiennes hat nicht das typische Aussehen eines Rechtsanwalts. Seine Sonnenbrille bedeckt das halbe Gesicht, das nach vorne frisierte Haar bedeckt die halbe Glatze. Sein Anzug besteht aus einem besonderen Stoff, der bei jeder Bewegung changiert. Gefaltet legt er die Hände in den Schoß. „Die Leute können es noch gar nicht glauben.“

„Die Leute … bitte was?“ Rosy bleibt stehen.

„Sie können nicht glauben, dass Charlie tot ist.“ Im Gegensatz zu seinem Outfit ist die Stimme des Anwalts nüchtern und kühl.

„Oh, Mr. Charles Reissman ist ganz gewiss tot. Das kann ich Ihnen versichern“, erwidert Rosy.

„Natürlich ist er tot.“ Fiennes hebt die Hand an seine Unterlippe. „Aber die Leute wollen Charlie noch einmal sehen. Wann kann ich die Aufbahrung vorbereiten?“

Während Rosy die Akte heranzieht, fällt ihr auf, dass Fiennes’ Hände erstaunlich zart und schmal sind. „Von einer Aufbahrung muss ich abraten, Sir. Ich kann noch nicht einmal sagen, bis wann ich die Leiche freigeben werde.“

Fiennes’ Fingerspitzen rutschen von der Unterlippe auf sein Kinn. „Ich habe bereits den Gedenkgottesdienst organisiert. Die Menschen wollen zusammenkommen und sich gemeinsam an Charlie erinnern.“

„Man erinnert sich an einen Menschen besser ohne dessen Leiche.“ Rosy schlägt die Akte auf, sie ist noch recht dünn. „Wegen der besonderen Todesart von Mr. Reissman muss ich Ihnen einige unangenehme Fragen stellen, Sir.“

Die Hand des Anwalts sinkt wieder in den Schoß. Er nickt, als wolle er sagen, er sei auf das Schlimmste gefasst.

„Wer war der gegenwärtige homosexuelle Partner von Mr. Reissman?“

„Den gibt es nicht“, antwortet Fiennes. „Weil Charlie nicht schwul war. Haben Sie sie jemals persönlich gesehen?“

„Zwangsläufig. Mr. Reissman war ja eine ziemlich auffällige Erscheinung in unserer Stadt.“

„Woran erinnern Sie sich genau?“

„An eine Blondine mit breiten Schultern und dem Gang eines Möbelpackers.“

„Sie haben sie treffend beschrieben.“ Fiennes lächelt. „Das Entscheidende aber ist, Charlie war eine Frau. Es ist daher ganz natürlich, dass Männer sie geliebt haben.“

„Ich will Sie nicht schockieren, Mr. Fiennes, aber wir haben die Hoden von Mr. Reissman neben seiner Leiche gefunden. Er war ganz gewiss keine Frau.“

Fiennes braucht einen Moment, um das zu verdauen. „Charlie besaß die Seele und den Geist eines hochbegabten weiblichen Wesens.“

„War Mr. Reissman transsexuell? Hatte er vor, eine Geschlechtsumwandlung durchführen zu lassen?“

„Keineswegs. Er hing an seinem Ding und hätte sich nie entschließen können, es abzuschneiden.“

Das hat ja nun auch definitiv jemand anders besorgt, denkt Rosy und überlegt, wie sie geschmackvoll auf die Kastration von Charles Reissman überleiten soll.

„Hat sich Mr. Reissman in Kreisen bewegt, die zur Gewalttätigkeit neigen? Gehörte er einer Sekte an oder einer sektenähnlichen Verbindung? Wir suchen nach Hinweisen auf einen Club, wo er sich gern aufhielt, vielleicht eine religiöse Ausrichtung, der Mr. Reissman sich zugehörig fühlte.“

„Charlie war nicht so, wie Sie vermuten. Er lief nicht in rot beleuchtete Folterkeller oder auf perverse Sexpartys.“ Der Anwalt hebt abwehrend seine kleinen Hände.

„Es geht nicht darum, was ich vermute, Mr. Fiennes, sondern um Hinweise, die mich den Hergang der Tat rekonstruieren lassen. Wodurch hat Ihr Klient diese ungewöhnliche Gewalt heraufbeschworen? Wer war Charles Reissman, was für ein Mensch war er?“

Fiennes fährt sich nervös durchs Haar. „Vor zwanzig Jahren hat Charlie die Buchhandlung geerbt. Reissman & Co. existiert bereits seit 1887 und ist aus Gloucester nicht mehr wegzudenken. Ich habe Charlie kennengelernt, als sie im Begriff war, das neue Kulturzentrum zu gründen und einen Rechtsbeistand gebraucht hat. Sie war damals so jung und euphorisch, man musste sie einfach gernhaben.“

Ralph greift in das Gespräch ein: „Ihre Bewunderung in Ehren, Sir, aber können wir Mr. Reissman der Einfachheit halber ab jetzt als Mann bezeichnen?“

„Man kann seinen Tod nicht verstehen, wenn man Charlies Charakter nicht versteht.“

„Lebte Mr. Reissman allein?“, übernimmt Rosy wieder.

„Ja, ziemlich zurückgezogen. Er hat eine Wohnung in der Stadt und ein verstecktes Häuschen in Newnham. Dort war er allerdings selten.“

„Was ist mit Reissmans Verwandten, seinen Eltern?“

„Sie leben in Australien. Das Verhältnis zu ihnen war schlecht, Charlie hat sie seit Jahren nicht besucht.“

„Hatte er Kinder?“

„Nein. Zumindest nicht, dass ich davon wüsste.“

„Sie meinen, es könnte illegitime Kinder geben?“

„Da bin ich überfragt.“

„Was wissen Sie über Reissmans intime Bekanntschaften?“

„Auf besondere Weise hat Charlie allen gehört.“ Etwas Schwärmerisches liegt plötzlich im Ton des Anwalts. „Ob in der Buchhandlung, im Kulturzentrum oder auf der kleinen Bühne, die er vor ein paar Jahren gegründet hat, Charlie war eine Person des öffentlichen Interesses. Das bedeutete für ihn Hunderte Begegnungen täglich.“

„Mr. Fiennes, ich suche irgendeine Verbindung, die mich der besonderen Art dieses Verbrechens näherbringt. Können Sie mir Lokale nennen, die Mr. Reissman besucht hat, Saunas, Sportclubs, Massagesalons? Wenn Reissman keine feste Beziehung hatte, möchte ich etwas über seine Affären erfahren.“

Da Fiennes schweigend seine Hände ineinanderlegt, sieht Rosy sich genötigt, ihm die offene Akte zuzuschieben. Obenauf liegt eine Fotografie der Leiche. Der Anwalt wirft einen kurzen Blick darauf, schluckt und lehnt sich zurück.

„Werden Sie mir helfen, Mr. Fiennes?“ Aus dem Augenwinkel bemerkt Rosy, wie Ralph seinen Notizblock zückt.

„Ich will es versuchen.“

 

Telefon in Venedig

Allegra di Partecipiano besteigt das Vaporetto an der Fondamenta Nuova. Sie hat sich Arbeit auf die Fähre mitgenommen und bleibt im Freien, weil unter Deck das Geschnatter der Touristen jeden klaren Gedanken unmöglich macht. Der Wind reißt an den Buchseiten, Allegra hebt den Blick. Sie liebt die Grautöne um diese Jahreszeit. Die kalte Luft legt einen milchigen Nebel über das Meer, der Schiffsbug zerreißt das feuchte Gespinst. Das Wasser der Lagune verschmilzt mit dem Grau des Ufers, der Teeranstrich der Docks, die dunklen Fensterhöhlen, die Silhouette von Santa Maria Assunta sind die letzten Kontraste der im Dunst entschwindenden Stadt.

Noch nie haben wir auf den Spuren der Escroynes das britische Inselreich verlassen. Diesmal ist es nötig, und wie so oft zwingt uns eine Frau, diesen Schritt zu wagen, eine außergewöhnliche Frau. Seien wir geduldig, seien wir vertrauensvoll und folgen Allegra di Partecipiano durch diese andere Inselwelt in die Bucht von Venedig.

Allegra drückt die Seite ihres Arbeitsheftes nieder und malt Schriftzeichen in einer fremden Sprache. Das ist keineswegs Italienisch, es sind keltische Schriftzeichen, in denen sie den Namen der Totengöttin Skadi schreibt. Darin besteht Allegras Arbeit, sie beschäftigt sich mit vorzeitlichen Mythen, mit ausgestorbenen Sprachen, mit Phänomenen, die auf die eine oder andere Weise den Tod zum Thema haben. Der Name Skadi heißt auf Altenglisch sceadu und hat sich mit den Jahrhunderten zum englischen shade entwickelt, der Schatten, in den alle Menschen und selbst die Götter zur Götterdämmerung eingehen müssen. Skadi war eine ungewöhnliche Lady, die dem Mythos zufolge in der rauen Gebirgswelt Schottlands lebte. Da die Kelten, Vorfahren der Schotten, schneebedeckte Berge mit milchspendenden Brüsten gleichsetzten, wurde Skadi als nährende Muttergöttin verehrt.

Das Vaporetto gleitet an San Michele, Venedigs Toteninsel, vorbei. Allegra lächelt über sich selbst. Sie sitzt auf einer zugigen Fähre, schreibt einen Essay über mythologische Muttertiere und ist selbst ein eingefleischter Single. Sie blickt ins Weite. In herbstlicher Trostlosigkeit zieht die Lagunenwelt an ihr vorbei. So ist das mit dem neuen Wetter auf unserer Welt, eine heiße Septembersonne brennt auf England herab, während der Nebel in Venedig einen frühen Herbst ankündigt. Die italienischen Menschen werden übellaunig, weil ihre alten Heizungen dem neuen Wetter nichts entgegenzusetzen haben. Sie kämpfen mit Bronchitis, während der Engländer verdutzt zum Himmel hochblinzelt und sich fragt, wann die Sonne endlich im vertrauten Herbstnebel zu verschwinden gedenkt.

Wegen der Feuchtigkeit empfindet Allegra die Luft noch frostiger. In den grauen Monaten, die Venedig nun bevorstehen, ist es, als ob die Stadt den Atem anhalten würde. Allegra möchte diesem unwirtlichen Ort gerne entfliehen. Sie träumt von einem Land, wo die Menschen wissen, wie man gute Öfen baut, sie träumt von der Britischen Insel. Frierend schreibt sie den Aufsatz über den Skadi-Kult weiter und ist damit gerade zu Ende, als das Vaporetto an der verwitterten Mole der Insel Torcello anlegt. Die meisten Touristen sind schon in Murano ausgestiegen, um die dortigen Glasbläserarbeiten zu bestaunen. Allegra betritt festen Boden. Das Vaporetto kehrt über San Francesco del Deserto wieder in die Stadt zurück.

Ihr Vater Vittorio erwartet sie an der Mole. Er trägt seinen langen schwarzen Mantel offen, Farben haben diesen Mann noch nie interessiert. Nachdem der Principe di Partecipiano durch seine Schwarz-Weiß-Fotografie berühmt geworden ist, hat er nie wieder mit Farben gearbeitet. Trotz des schütteren Haares strahlt sein Schädel die Gewalt eines Minotaurus aus, mit verhaltenen Schritten kommt er auf Allegra zu. Das Brutale, gepaart mit der Arroganz des Patriziers, macht die Merkwürdigkeit dieses Gesichts aus. Heute jedoch wirkt Vittorio verunsichert und müde.

Er deutet zwei Küsse auf Allegras Wangen an. „Hast du Hunger?“

„Nein, Papa, du hast Hunger.“ Sie verharrt einen Augenblick in der Umarmung.

„Ich muss wirklich etwas essen, sonst falle ich um.“

„Warst du die ganze Nacht auf?“

Die hellen Augen ihres Vaters bekommen einen zornigen Glanz. „Acht Stunden habe ich auf der Questura zugebracht.“ Er deutet in Richtung des Restaurants, aber Allegra rührt sich nicht von der Stelle.

„Ich will es gleich hier erfahren, Papa.“

„Mir ist kalt.“

„Wir gehen erst, wenn ich alles weiß.“ Sie hängt ihre Arbeitstasche über die Schulter. „Wie alt war sie, Papa?“

„Das ist schwer zu sagen.“

„Du hast das Mädchen nicht danach gefragt?“

„Die Mädchen“, korrigiert er. Allegras entgeisterter Blick lässt ihn hinzusetzen: „Es sind Schulfreundinnen. Das haben sie zumindest behauptet.“

„Wo hast du sie kennengelernt?“

„Auf einem Fest, was spielt das für eine Rolle?“

„Hast du ihnen etwas gegeben?“

„Du glaubst, ich kriege die Mädchen nur noch herum, wenn ich sie bekifft mache?“ Hinter Vittorio schwanken die Fischerboote auf den Wellen, die das Vaporetto zurückließ.

„Warst du selbst bekifft, Papa?“

Vittorio bedeutet Allegra, leiser zu sprechen. Eine Familie kommt an die Mole gelaufen, sie haben die Fähre verpasst.

„Seid ihr zu dir gegangen?“

„Nein. Alles hat sich auf dem Fest abgespielt.“ Ein verschmitzter Glanz überzieht seine Züge. „Sie waren verkleidet, ich war auch verkleidet, weißt du ? Ich trug eine Maske.“

„Wir haben doch keinen Karneval.“

„Es war ein besonderes Fest, man traf dort nur die allerbeste Gesellschaft.“

Nach einer Nacht voll Angst und Sorge vor der drohenden Verurteilung ist Vittorio schon wieder ganz der Alte, der Fürst von Partecipiano, an dem sämtliche Gesetze abgleiten, ein Mann, der den Spießbürgern seine adelige Nase dreht.

Allegra hat Lust, ihm die Herablassung aus dem Gesicht zu wischen. „Bei deinem letzten Vergehen mit einer Minderjährigen hat der Richter beide Augen zugedrückt. Aber diesmal bist du dran, Papa.“

„Nicht, wenn du für mich aussagst.“

„Wieso sollte ich das tun?“

„Ich war maskiert. Man hat mich wahrscheinlich nicht erkannt.“

„Warum hat man dich dann verhaftet und auf die Questura gebracht?“

„Mich und drei weitere Herren.“ Seine Zunge gleitet über die Lippen. „Bis jetzt haben sie lediglich einen Verdacht.“

„Du bist wegen Nötigung vorbestraft.“

„Die Strafe wurde zur Bewährung ausgesetzt.“

„Du bist als Triebtäter registriert. Was würde es dir nützen, wenn ich für dich lüge?“

Eine schroffe Geste, dass sie sich mäßigen soll. „In dubio pro reo.“

„Was hast du diesen Mädchen angetan?“

Etwas Mitleidiges tritt in seine Augen. „Ach, Allegra, du bist schon viel zu lange allein. Für dich hat sich das süße Vergnügen mittlerweile in sein teuflisches Gegenteil verwandelt. Von wem hast du nur diese katholische Attitüde, diesen Hang zur Selbstkasteiung? Von mir nicht, so viel ist sicher.“

Insgeheim gibt Allegra ihrem Vater recht. Ihr Leben ist das Gegenteil von seinem. Vittorio Partecipiano, Abkömmling einer lombardischen Erobererfamilie, wird ein größerer Frauenverschleiß nachgesagt als dem seligen Giacomo Casanova. Angewidert von Venedig, diesem Disneyland für Touristen, hat Vittorio seiner Heimatstadt den Rücken gekehrt und ist auf die Insel der venetischen Ureinwanderer gezogen, nach Torcello. Nur seinetwegen lebt Allegra noch hier. Nur für ihren Papa bleibt sie, die einzige Tochter, die er legal anerkannt hat, in Venedig und fühlt sich dabei einsamer als auf einer Malariainsel. Sie weiß, dass sie ihr Leben endlich umkrempeln muss, und verflucht zugleich ihre Entschlusslosigkeit. Auch das unterscheidet sie von ihrem Vater. Er hat seine vierundsechzig Jahre genossen, war erfolgreich im Beruf und himmelstürmend mit den Frauen. Allegra ist zwar anerkannt in ihrem Fach, aber was ihre Beziehungen betrifft, ist sie ein Katastrophengebiet, das dringend Entwicklungshilfe benötigt.

„Du begrapschst zwei Minderjährige, und wenn sie dich erwischen, stellst du mich als Moralapostel hin?“, fährt sie Vittorio in die Parade. „Du bist so ein Heuchler, Papa.“

„Willst du mir deine Strafpredigt nicht lieber im Warmen halten?“, erwidert er bittend. „Ich sterbe vor Hunger.“

Er hakt Allegra unter, zusammen laufen sie in Richtung der Locanda. Vittorio begrüßt den Wirt, schlendert zu seinem Stammtisch und zieht für Allegra den Stuhl zurück. Seufzend nimmt sie Platz.

 

Es ist an der Zeit, zu Rosemary ins sonnige England zurückzukehren. Momentan scrollt die Kommissarin durch ihr Mobiltelefon, auf der Suche nach einer Nummer.

„Ich habe sie bestimmt irgendwo“, murmelt Rosy. „Ich habe sie allerdings unter ihrem Familiennamen abgespeichert.“

„Dann schau unter dem Familiennamen nach.“ Ralph isst ein Corned-Beef-Sandwich.

„Den Familiennamen habe ich leider im Augenblick vergessen.“

„Vergessen?“

Rosy scrollt geduldig. „Es ist ein komplizierter italienischer Name, irgendwas mit Marzano, Marzini, Marzinotto.“

„Dann würde ich an deiner Stelle unter M suchen. Haben wir denn in England niemanden, der diesen Job erledigen könnte?“

„Wenn du Informationen über mythische Rituale willst, ist Allegra die Beste. Außerdem liebt sie unser Königreich, weil man hier besonders viele Mythen aufstöbern kann.“ Rosy schüttelt den Kopf. „Mazzi? Marzanini? … Verdammt noch mal.“

In Venedig ist es inzwischen früher Nachmittag. Allegra ist von Torcello in die Stadt zurückgekehrt und verlässt das Vaporetto an der Accademia-Brücke. Sie überquert den Rio San Barnaba und läuft das schmale Ufer entlang. An einer düsteren Ecke, wo sich ein Bougainvilleastrauch so dicht emporrankt, dass niemand dahinter eine Gasse vermutet, steckt sie den Schlüssel ins Schloss. Allegra tritt in das schmale Haus, wirft ihre Tasche ab, schließt die Tür und legt einen Schaumstoffkeil davor, weil die Feuchtigkeit sonst bei jeder Ritze hereindringt. Einen Halbstock höher befindet sich alles in einem einzigen Raum, Kochzeile, Esstisch, die Sitzecke zieht sich unter der Galerie entlang, auf der das Bett steht. Allegras Wohnung besteht aus einem fünf Meter hohen Zimmer.

Auf der Empore klingelt das Telefon. Ungewöhnlich, dass jemand sie nicht auf dem Handy, sondern unter der Festnetznummer anruft. Sie läuft hoch und nimmt ab.

„Pronto?“, sagt jemand am anderen Ende, dessen Muttersprache nicht Italienisch ist.

„Wer spricht da?“

„Posso parlare con Signorina …?“, sagt die Stimme, doch bevor sie zu Ende gesprochen hat, geht Allegra dazwischen.

„Rosy? Rosy, bist du das?“

„Allegra?“

„Rosy, mein Gott, wie schön, deine Stimme zu hören!“

„Ich habe es schon bei dir im Institut versucht“, sagt die Kommissarin.

„Ich war heute nicht bei der Arbeit. Hallo, Rosy! Wie ist das Wetter in Gloucester?“

„Sonnig und warm. Fast so schön wie im sonnigen Venedig.“

„Wir haben Nebel, und ohne Heizung friert man sich den Hintern ab.“

Obwohl sich die beiden vor acht Jahren zum letzten Mal gesehen haben, ist nichts von ihrer Vertrautheit verloren gegangen.

„Wie geht es dir, was treibst du, Rosy? Hast du inzwischen Familie?“

„Ja, ich habe Familie“, antwortet sie zögernd.

„Wie viele Kinder?“

„Eines, einen Sohn. Und du?“

„Ich bin … Ich warte noch. Du kennst mich ja, heute hier, morgen da, immer auf der Suche nach prähistorischen Funden. Da lernt man nur schwer den passenden Mann kennen.“ Ihr Lachen klingt angestrengt.

„Hör mal, Allegra …“ Rosy räuspert sich. „Ich würde wahnsinnig gern weiter mit dir plaudern, aber wir haben da eine dringende Angelegenheit, und wenn du gestattest, würde ich gern gleich zur Sache kommen.“

Allegra stellt sich Rosys kastanienbraunes Haar vor, die frauliche Figur, die Cordhose und die festen Schuhe, in denen sie damals meistens auftrat. „Du rufst mich vom Kommissariat aus an?“

„So ist es.“

„Bist du immer noch im zweiten Stock?“

„Ja, Allegra.“ Rosy beendet das private Vorgeplänkel. „Ich wollte dich fragen, ob du vielleicht herkommen kannst.“

„Nach England?“

„Nach Gloucester.“

Allegra unterdrückt das Gefühl einer aufblitzenden Hoffnung sofort wieder. „Das geht im Augenblick schlecht, fürchte ich. Worum handelt es sich denn?“

„Wir haben einen Fall, bei dem wir ohne deine Expertise nicht weiterkommen.“

Allegra wird mit einem Mal flau im Magen. Sie liebt England, sie verehrt Rosemary und würde alles geben, die Freundin wiederzusehen. Aber dort, wo Rosy Dienst tut, lebt auch ein Mann, der Allegra vor Jahren unendlich wehgetan hat. Seither ist ihr, als ob sich die schöne Grafschaft verdüstert hätte. Aus der Ferne vermag Allegra zwar von der hügeligen Landschaft rund um die Cotswold zu träumen, doch ein Besuch dort würde alte Dämonen zum Leben erwecken, die sie unter großen Mühen gebändigt hat.

Rosy deutet Allegras Schweigen richtig. „Es dauert bestimmt nicht länger als zwei Tage. Ich verspreche dir, wir würden nicht einmal in seine Nähe kommen.“

Allegra versucht, ihrer Stimme einen nüchternen Klang zu geben. „Ihr habt doch vor Ort die besten Experten. Wozu braucht ihr mich?“

„Die Sache liegt auf deinem Fachgebiet. Ein Blick auf die Fakten, und du könntest uns sagen, womit wir es hier zu tun haben.“

Allegras Fachgebiet ist der Tod. Rosemary Escroynes Fachgebiet ist die Klärung von Todesfällen mit unnatürlicher Ursache. Man kann sagen, mit dem Tod kehrt Rosemary in Allegras Leben zurück.

Auch ihre erste Begegnung stand mit dem Tod in Verbindung. Vor neun Jahren stürzte im südlichen Gloucestershire eine stillgelegte Zinkmine ein, dabei wurde ein frühgeschichtlicher Fundort freigelegt. Als Expertin gehörte Allegra der internationalen Forschergruppe an, die mit den Ausgrabungen beauftragt wurde. Der Besitzer des Minengrundstücks, ein manisch-depressiver Metzger, verpflegte die Archäologen tagsüber. Nachts schlich er mit einem Beil ans Bett seiner Frau, erschlug und zerteilte sie nach bester Metzgerart. Während Allegra eine mumifizierte Frauenleiche aus dem dritten vorchristlichen Jahrtausend katalogisierte, ging Rosy bei den im weiten Umkreis verteilten Leichenteilen der Metzgersfrau mit gleicher Gründlichkeit vor. Als Allegra eines Nachmittags in die Stadt fahren wollte, wurde sie von einem Polizeiauto mitgenommen. Am Steuer saß Detective Inspector Rosemary Daybell.

„Wenn ihr eine Expertise wollt, schickt mir euer Material per Mail hierher.“ Allegra setzt sich aufs Bett.

„Ich fürchte, die Details sind zu außergewöhnlich. Der Tatort, das Opfer, die Zeremonie …“

„Was für eine Zeremonie?“ Sie hätte sich auf die Zunge beißen können. Rosy weiß, womit sie die Wissenschaftlerin ködern kann, und Allegra ist ihr in die Falle gegangen.

„Dem Tod des Opfers ist eine Tortur vorangegangen, von der ich noch nie etwas gehört habe. Ehrlich gesagt, glaube ich, niemand hat so etwas je zu Gesicht bekommen. Es handelt sich um eine Kastration, die das Merkmal eines Rituals trägt.“

„Das Opfer ist also ein Mann.“

„Gewissermaßen.“

„Wie meinst du das?“

„Das Opfer war ein stadtbekannter Transvestit, eine beliebte Persönlichkeit in Gloucester, Betreiber eines Kulturzentrums und Leiter eines Theaters, in dem er selbst als Frau auftrat. Charles Reissman wurde seit drei Tagen vermisst. Ein Statik-Ingenieur hat die Leiche gefunden, als er die Fundamente einer Tiefgarage prüfen wollte. Er bekam bei dem Anblick einen Nervenschock und liegt jetzt im Krankenhaus. Der Tote war … “ Rosy unterbricht sich. „Allegra, es sind doch bloß zwei Stunden mit dem Flieger. Mein Department zahlt dir eine Suite in einem schicken Hotel, du schaust dir alles in Ruhe an und sagst uns, was der oder die Täter damit bezweckt haben könnten.“

Allegra betrachtet ihre Zehen in der Strumpfhose. „Wodurch ist der Tod eingetreten?“

„Durch Strangulierung. Die Leiche war allerdings in einem Zustand, der es erstaunlich macht, dass das Opfer die Strangulierung noch erlebt hat. Es sieht so aus, als sei das Erdrosseln der letzte Akt des Rituals gewesen.“

„Ein vorgetäuschtes Ritual.“

„Wie meinst du das?“

„Zeremonielle Kastrationen kommen in fast allen Mythologien vor, sind heute aber aus sämtlichen Kulturen verschwunden. Die frühesten uns bekannten Funde stammen aus der Eisenzeit. In muslimischen Kulturen gab es die sogenannte Esselkh, eine Opferzeremonie, die zum Tod des Probanden führte. Bei den Assunta-Indianern wurde ein ähnliches Ritual zelebriert.“

„Das ist mein Mädchen“, lacht Rosy. „Nur du kennst dich mit so etwas aus, nur du kannst solche Fakten aus dem Stegreif abfeuern.“

„Jeder spezialisierte Historiker kann das.“

Nur ein kleiner Koffer, denkt Allegra, ich fahre mit dem Wassertaxi zum Flughafen Marco Polo, und zwei Stunden später bin ich in einem Land, wo sie wunderbare Öfen haben und fortwährend heißen Tee. Sie haben dicke Teppiche auf den Böden, Kissen auf den Sofas und schwere Vorhänge an den Fenstern. Es ist das Land, in dem ich Rosy wiedersehen werde, das Land, in dem auch Michael lebt. Michael, der mir das Herz aus dem Leib gerissen, es verspeist und wieder ausgespuckt hat. Es ist das Land meiner Liebe und meines Schmerzes.

„Es gibt ein Problem“, sagt sie ins Telefon.

„Lass es uns lösen.“ Rosy spürt, dass Allegra sich im Geist bereits auf den Weg gemacht hat.

„Mein Vater.“

„Der Principe? Was ist mit ihm?“

„Er braucht mich.“ Allegra rollt auf den Rücken und starrt zum Deckenfresko des Palazzo empor.

Über Arthur Escroyne

Biografie

Harold Philipp Arthur Escroyne ist der 36. Earl of Sutherly. Nach seinem Kunststudium arbeitete er als Werbegrafiker für einen bekannten englischen Shortbread-Hersteller. Lord Escroyne ist für seine Nacktstängel-Schwertlilienzucht (Iris aphylla) über die Grenzen der Grafschaft hinaus bekannt. Der...

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