

Kinder des Radiums Kinder des Radiums - eBook-Ausgabe
Auf den Spuren meiner jüdischen Familie
Kinder des Radiums — Inhalt
Familiengeheimnisse und die Suche nach Wahrheit
Als der britische Autor Joe Dunthorne gebeten wird, einen Vortrag über seine Familie im „Dritten Reich“ zu halten, macht er bei seinen Recherchen eine schier unglaubliche Entdeckung: Sein jüdischer Urgroßvater Siegfried Merzbacher, der in den 1920er- und frühen 1930er-Jahren in Oranienburg lebte und dort als Chemiker Haushaltsartikel herstellte, darunter eine radioaktive Zahnpasta, war später maßgeblich an der Entwicklung chemischer Waffen für die Nazis beteiligt. Mitte der Dreißigerjahre musste die Familie emigrieren. Die quälende Erinnerung blieb über Generationen ... Eine atemberaubende Spurensuche.
Basierend auf den Memoiren des Urgroßvaters, die die Jahre 1890 bis 1970 umspannen
„Meine Großmutter wuchs damit auf, dass sie sich die Zähne mit radioaktiver Zahnpasta putzte. Die Wohnung lag so nahe an der Fabrik, dass Großmutter noch beim Einschlafen das Schüttelgeräusch des Autoklavs hören konnte.“
Recherchen zur eigenen Familiengeschichte führen Joe Dunthorne nach Oranienburg – nicht nur wegen der vielen Blindgänger aus dem Zweiten Weltkrieg die „gefährlichste Stadt Deutschlands“: Dunthornes Urgroßvater stellte hier radioaktive Zahnpasta sowie Gasmasken und chemische Waffen für die Nazis her, die den Boden noch heute belasten. Als Jude musste Siegfried Merzbacher 1935 zwar das Land verlassen, konnte dies aber vollkommen unbehelligt tun. In seinen umfangreichen Memoiren, die er später schrieb und die die Jahre 1890 bis 1970 umspannen, fehlt diese Episode. Dennoch hat sie sein weiteres Leben im türkischen Exil und später in den USA offenbar geprägt, wie sein Urenkel andeutet. Kinder des Radiums ist eine tiefgreifende Reflexion über individuelles und kollektives Erbe, über Traumata, Schuld und die Suche nach Wahrheit.
Die außergewöhnliche Familiengeschichte eines preisgekrönten Autors
„Eine fesselnde Geschichte über Familiengeheimnisse und chemische Kriegsführung sowie über die Suche eines Schriftstellers nach einer verlässlichen Vergangenheit ... Joe Dunthorne hat einen modernen Klassiker geschrieben.“
Andrew O'Hagan
„Eine kluge Erkundung der eigenen Familiengeschichte, die verblüffende Entdeckungen zutage bringt. Dunthorne nimmt den Leser mit auf ein bemerkenswertes Abenteuer, das Länder und Generationen umspannt. Ich habe schon viele Kriegserinnerungen gelesen, aber so etwas ist mir noch nie begegnet. Lyrisch, aber schonungslos, ist dies ein außergewöhnliches Buch.“
Ariana Neumann, New York Times-Bestsellerautorin
„Kinder des Radiums ist ein bewegendes, komisches, beunruhigendes und zutiefst überraschendes Buch, eine actiongeladene Meditation und eine moralische Abenteuergeschichte, voll von intimen und historischen Widersprüchen, mit denen wir alle auf die eine oder andere Weise leben. Wie Primo Levis 'Grauzone' ist das Gebiet, das dieses Buch erforscht, durch seine Mehrdeutigkeit und Komplexität definiert, und wir können uns glücklich schätzen, dass uns ein Autor wie Dunthornes mit seinem außerordentlichem Talent auf die Spur führt.“
Sam Lipsyte
Leseprobe zu „Kinder des Radiums“
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Meine Großmutter wuchs damit auf, dass sie sich die Zähne mit radioaktiver Zahnpasta putzte. Der Wirkstoff war strahlenbehandeltes Calciumcarbonat, ihr Vater der für die Herstellung zuständige Chemiker. Noch bevor die Zahnpasta im Handel erhältlich war, brachte er seiner Familie Tuben davon mit nach Hause. Unter dem Markennamen „Doramad“ versprach die Zahnpasta ein „mit neuer Lebensenergie geladenes“ Zahnfleisch und ein „blendend weißes“ Lächeln. Die Wohnung lag so nahe an der Fabrik, dass meine Großmutter noch beim Einschlafen das Schüttelgeräusch des [...]
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Meine Großmutter wuchs damit auf, dass sie sich die Zähne mit radioaktiver Zahnpasta putzte. Der Wirkstoff war strahlenbehandeltes Calciumcarbonat, ihr Vater der für die Herstellung zuständige Chemiker. Noch bevor die Zahnpasta im Handel erhältlich war, brachte er seiner Familie Tuben davon mit nach Hause. Unter dem Markennamen „Doramad“ versprach die Zahnpasta ein „mit neuer Lebensenergie geladenes“ Zahnfleisch und ein „blendend weißes“ Lächeln. Die Wohnung lag so nahe an der Fabrik, dass meine Großmutter noch beim Einschlafen das Schüttelgeräusch des Autoklavs, eines gasdicht verschließbaren Druckbehälters, hören konnte.
Als die Familie 1935 Deutschland verlassen musste, nahm sie Tuben der Zahnpasta mit, und auf der tausendsechshundert Kilometer langen Reise gen Südosten setzten ihre Koffer nach und nach Alphateilchen frei. Während des Krieges erfuhr meine Großmutter, dass die Zahnpasta, an deren Entwicklung ihr jüdischer Vater beteiligt war, zur bevorzugten Wahl der Wehrmacht geworden war. Eine Zweigfabrik in der besetzten Tschechoslowakei sorgte dafür, dass die nach Osten vordringenden deutschen Truppen, die brutal mordeten und ganze Dörfer niederbrannten, dies mit strahlenden Zähnen tun konnten.
Nicht, dass sie mir jemals davon erzählt hätte. Alles, was ich über das Leben meiner Großmutter weiß, stammt aus zweiter Hand – Anekdoten, die sich mit jeder Wiederholung abnutzten. Als meine Mutter mir zur Hochzeit einen Ring schenkte, erzählte sie mir, dieser sei 1935 „den Nazis entkommen“. Ich betrachtete den ovalen Roteisenstein, schwarz und voller roter Flecken, und malte mir die Flucht mit der lebhaften Vorstellungskraft eines Menschen aus, der sich nicht die Mühe macht, Nachforschungen anzustellen. Mein Onkel schenkte mir ein Poster mit dem lächelnden blonden Doramad-Mädchen, das von innen leuchtete. Ich pinnte es über meinen Schreibtisch und begann, über die Kindheit meiner Großmutter zu schreiben. Das Projekt machte gute Fortschritte – bis sich genau die Person einschaltete, um deren Leben es ging.
Ich versuchte, meine Großmutter in ihrem Haus in Edinburgh zu interviewen. Das war vor mehr als einem Jahrzehnt. Wie sie so dasaß, in einem niedrigen Sessel, mit einem flauschigen Wollpullover, der sie verschwommen aussehen ließ, gab sie zu erkennen, dass ich noch nicht bereit sei. Ganz gleich, welche Fragen ich stellte, es waren nicht die richtigen, und ich erinnere mich, wie ihr Gähnen zunehmend aggressiver wurde, bis sie schließlich sagte: „Sag mal, warum liest du nicht einfach ein Buch darüber?“ Und als ich einige Monate später einen neuen Anlauf nahm und ihr mitteilte, inzwischen hätte ich ein Buch darüber gelesen – ein nuanciertes und preisgekröntes generationenübergreifendes Memoir über die Verfolgung einer wohlhabenden jüdischen Familie und ihre Migration von Odessa über Wien nach Paris, ein Meisterwerk des Genres und möglicherweise eine Vorlage dafür, wie ihre eigene Lebensgeschichte in Angriff zu nehmen wäre –, stellte sich heraus, dass sie es bereits gelesen hatte und dass sie es verabscheute. Sie sagte: „Nein, so war es nicht.“ Wie aber war es dann? Ich traute mich nicht, noch einmal nachzufragen.
Ein Teil von mir stellte sich vor, eines Tages, kurz vor dem Ende, werde sie meine Hand nehmen und anfangen zu reden und ihr Herz auszuschütten, die Jahrzehnte würden von ihr abfallen – und das wäre das Zeichen, nach meinem Notizbuch zu greifen. Stattdessen kam es zu schleichender Demenz und in deren Gefolge zu Depressionen. Sie war stets humorvoll und zugleich ehrlich gewesen, und selbst wenn ihre Ehrlichkeit in Grausamkeit umschlug, war sie damit durchgekommen, weil sie dabei oft lachte und den Kopf zurückwarf.
Jetzt aber hatte sie aufgehört zu lachen und verbrauchte eine Pflegekraft pro Woche, Pflegekräfte, denen sie schon bei der ersten Visite Tränen in die Augen trieb. Ihr schottisch-deutscher Akzent verlieh ihren Sticheleien besonderen Nachdruck. Ebenso unduldsam konnte sie sich selbst gegenüber sein. „Manche Leute sind schrecklich nett“, sagte sie einmal zu mir, als ich sie im Rollstuhl durch den Park schob. „Und manche Leute sind wie ich: einfach nur schrecklich.“
Sie starb 2017 im Alter von zweiundneunzig Jahren. Auf der Trauerfeier hielten meine Schwester und ich eine gemeinsame Rede, in der wir versuchten, ihre eigenwillige Ausdrucksweise wiederzugeben, eine Mischung aus schottischem Englisch und Bayerisch mit türkischen Einsprengseln. Wir hatten Freunde und Verwandte angeschrieben. Alle waren sich einig, dass sie unvergessliche Sprüche von sich gegeben hatte, doch so recht daran erinnern konnte sich niemand – abgesehen von einer Handvoll Beleidigungen, die zu unflätig waren, um sie während einer Zeremonie zu zitieren. Wir hatten das Gefühl, nur angedeutet zu haben, wie viel von ihr nicht mehr zugegen war. Das wiederum half, sie heraufzubeschwören. Noch in ihrer Abwesenheit spürten wir ihre Gegenwart.
Erst zwei Jahre nach ihrem Tod, während eines Familientreffens, wagte ich mich in ihr altes Schlafzimmer. Gern würde ich sagen, dass ich herumschnüffeln wollte, um mich ihr noch einmal nahe zu fühlen; in Wahrheit war wohl eher das Gegenteil der Fall. Erst jetzt, da sie tot war, fühlte ich mich in der Lage, ihr mehr Fragen über ihr Leben zu stellen, in der Gewissheit, dass sie keine Widerworte geben würde. Ich wusste, dass sich irgendwo in ihrem Zimmer eine Sammlung von Dokumenten befand, die „Familienarchiv“ genannt wurde.
Ich stellte mir ein unter einer losen Bodendiele verstecktes zerbröckelndes Briefbündel vor; stattdessen stieß ich auf eine Schublade, säuberlich mit einem Kofferanhänger beschriftet: Familienarchiv. Sie war mit verblichener orangefarbener Tapete ausgekleidet und enthielt Kriegsmedaillen, Diplome, antike Münzen, die unveröffentlichten Memoiren ihres Vaters, Schachteln mit Briefen in fast waagerechter Handschrift, verschiedene aufgezeichnete Interviews mit meiner Großmutter, eine peinliche Mappe mit Gedichten von mir, die ich ihr als Teenager feierlich überreicht hatte, und ein handgeschriebenes „Rezept“ für radioaktive Zahnpasta vom November 1925, als sie ein Jahr alt war und ihre ersten Zähne durchkamen.
Ich breitete die Unterlagen auf ihrem Bett aus und spürte, wie die Wände die Missbilligung meiner Großmutter ausstrahlten. Es war mir nicht entgangen, dass ich als Einziger von drei Geschwistern nie gebeten worden war, sie auf einer ihrer Reisen nach Deutschland zu begleiten, wo sie mehrfach als Ehrengast der Stadt Berlin eingeladen war. Meine beiden Schwestern berichteten von emotional aufwühlenden Aufenthalten, von dem herzlichen und doch respektvollen Willkommen der Stadt, von zweisprachigen Gastgebern mit einem tiefen Gespür für Geschichte, die sie von Tür zu Tür geleiteten. Und von Luxushotels mit üppigem internationalem Frühstück. Nicht, dass ich der Einzige gewesen wäre, der Interesse an einer Geschichte hatte. Meine älteste Schwester machte sich Notizen für eine Graphic Novel, während mein Cousin Charlie, ein Filmemacher, meiner Großmutter mit digitaler Spiegelreflexkamera und Handmikrofon durch die Stadt folgte. Ich konnte mir nicht helfen, ich empfand es als persönliche Brüskierung.
Ich nahm das schwerste Dokument zur Hand, Die Memoiren Siegfried Merzbachers – ihres Vaters –, von denen ich wusste, dass sie den Grundlagentext unserer Familiengeschichte darstellten. Auf dem Schwarz-Weiß-Foto, welches das Deckblatt des Schreibblocks im A4-Format zierte, wirkte der Apotheker, einen Stapel Dokumente unter dem Arm und große Tränensäcke unter den Augen, hinter der Doramad-Zahnpasta heiter und entspannt. An ihren Großvater, den sie als warm, weich, „großväterlich“ und „vollkommen freundlich“ beschrieben, hatten meine Mutter und ihre Geschwister nur glückliche Erinnerungen. Ich überflog die unveröffentlichten und auch gar nicht zur Veröffentlichung bestimmten Seiten, die unter meinen Verwandten vor allem deshalb so berüchtigt waren, weil nur wenige von uns es geschafft hatten, sie zu lesen. Selbst mein Vater, der lernbegierigste Mensch, den ich kenne – ein Historiker des niederländischen Kolonialreichs im siebzehnten Jahrhundert –, fand die Lektüre „eine ziemliche Plackerei“. Und das war nur die stark gekürzte englische Übersetzung – gerade einmal 519 einzeilig beschriebene Seiten. Niemand, der noch am Leben war, hatte sich jemals durch das deutsche Original gearbeitet: nahezu zweitausend getippte Seiten.
Ich wusste, dass mein Urgroßvater während seines letzten Lebensjahrzehnts an seinen Memoiren geschrieben hatte; beim Tippen hatte er Tausende filterloser Zigaretten geraucht. Kurz bevor er, für niemanden überraschend, an Krebs starb, hatte er noch weitere Fußnoten hinzugefügt, erhellende Details über seine wissenschaftliche Arbeit zu zahlreichen Karzinogenen. Das war 1971. In den darauffolgenden vierzig Jahren verblieb der dreißig Zentimeter hohe Stapel ungelesener Seiten im Büro seines Sohnes Eugen und löste bei dessen Nachkommen, die das Gefühl hatten, sich unbedingt dafür interessieren zu müssen, leise Schuldgefühle aus.
Erst als Eugen in den Neunzigern war und in einer Seniorenwohnanlage lebte, beschloss er, die Memoiren zu kürzen und ins Englische zu übersetzen, damit auch die jüngeren, englischsprachigen Generationen ein schlechtes Gewissen bekämen, wenn sie sie nicht läsen. Nachdem er zwei Jahre lang tagtäglich an seiner Übersetzung gearbeitet hatte, fuhr Eugen zu einem Copyshop, um sie drucken zu lassen. Eine Woche später starb er. Und als ich das spiralgebundene Dokument in Händen hielt, wusste ich, dass es ein halbes Jahrhundert in Anspruch genommen hatte und für Angehörige zweier Generationen meiner Familie ein End-of-Life-Projekt gewesen war – und das mag erklären, weshalb ich es sofort wieder weglegte.
Stattdessen begann ich, die Interviews meiner Großmutter durchzugehen. Es gab vier Stunden mit dem Anne-Frank-Zentrum, eine kurze BBC-Dokumentation über deutsche Juden in Schottland, Videomaterial aus der Sammlung Refugee Voices und eine unveröffentlichte Audioaufnahme. Meine Großmutter ließ sich nur ungern befragen, bei diesem letzten Interview jedoch klang sie besonders mürrisch. Die Fragen des Interviewers kreisten immer wieder um zwei bestimmte Jahre – und den Grund konnte ich mir denken. 1935 war ihre Familie in die Türkei geflohen und hatte einen Großteil ihrer Besitztümer zurücklassen müssen; ihr Geld lag auf gesperrten Konten. 1936 kehrte die Familie zurück – mit einem Plan. Im Schutze der Olympischen Sommerspiele in Berlin verübte sie einen Raubüberfall auf ihr eigenes Haus.
Meine Großmutter war zwölf Jahre alt. Die Straßen waren von Wimpeln gesäumt, jeder einzelne Pflasterstein glänzte. Selbst die Baustellen der Stadt waren verschönert, die Eichenlaubgirlanden in chemische Konservierungsmittel getunkt worden, damit sie während der zweiwöchigen Olympiade gesund aussahen. Goebbels nannte es ein „Fest der Freude und des Friedens“. Es hieß, im Athletendorf seien die Mücken vollständig ausgerottet und der See mit zweihundert Störchen besiedelt worden. Berlin lächelte so sehr, dass man die Zähne knirschen hören konnte.
Jeden Tag hoben die Eltern meiner Großmutter bei ihrer Bank den Tageshöchstbetrag ab und gaben ihn hemmungslos aus, in dem Wissen, dass er an der Grenze höchstwahrscheinlich beschlagnahmt werden würde. Im Kaufhaus Wertheim bekam meine Großmutter eine neue Geige und ihr älterer Bruder eine Leica, die er sich um den Hals hängte. Eugen war fünfzehn und gab bereits weltmännische Ansichten zu Kaffee und Zigaretten zum Besten. Als sie den Kurfürstendamm entlanggingen, hörten sie Stimmen in den Bäumen. Im Astwerk versteckte Lautsprecher verkündeten die neuesten Wettkampfergebnisse aus dem Stadion: Achtung! Achtung! Gold für Deutschland im Speerwerfen der Männer …
Ihr Vater fuhr sie zu ihrer alten Wohnung in Oranienburg, einer kleinen Stadt nördlich von Berlin. Der Dreiundfünfzigjährige war Chemiker und rauchte so stark, dass die rechte Seite seines Schnurrbarts die Farbe von Rost angenommen hatte. Erleichtert stellten sie fest, dass der Schlüssel noch ins Schloss passte. Leise schlichen sie die Treppe hinauf und achteten darauf, nicht ans Geländer zu stoßen und ihre ehemaligen Nachbarn zu stören. Meine Großmutter kroch auf den stickigen Dachboden und reichte Fotos, Briefe, Schmuck und ein Tablett mit antiken Münzen hinab. Das alles wurde lautlos die Treppe hinuntergetragen, vorbei an dem Auge, das durch einen Spalt in der Tür im zweiten Stock spähte, und hinaus auf die Straße, wo das Auto wartete.
Sie blickte durch die Heckscheibe, als ihr Vater die Familie nach Süden und durch Berlin lotste, vorbei an dahinratternden gelben Straßenbahnen, an Sportfans, die sich Fahnen um die Schultern drapiert hatten, an den Reihen langer Hakenkreuzbanner, die zum Stadion führten – die ganze Straße rot gefärbt, als starre man in einen Rachen. Bei ihrem Anblick war die Fahrweise ihres Vaters plötzlich gehemmt, jede Kurve nahm er mit größter Sorgfalt, und erst viele Stunden später wurde die Familie mitsamt einem ungewöhnlich schweren Aktenkoffer über die Grenze gewunken, in die Tschechoslowakei.
So zumindest malte ich es mir unter Zuhilfenahme einiger Farbtupfer aus, nachdem ich den Geschichten meiner Familie gelauscht hatte. Nun aber hörte ich zu, wie der Interviewer auf Einzelheiten drängte. Hatte sich meine Großmutter bedroht gefühlt oder Angst gehabt? Hatte sie Fälle von Antisemitismus beobachtet oder selbst erlebt? Konnte sie Genaueres dazu ausführen? Sie erkannte den Tonfall von jemandem, der nach Traumata gräbt, und ihre Stimme verhärtete sich, doch er blieb beharrlich. Schließlich nannte sie weitere Einzelheiten, allerdings nicht solche, wie ich sie erwartet hatte.
Sie seien, so erklärte sie, mit dem Orientexpress nach Deutschland gereist und wieder zurück – „zwei Tage und zwei Nächte lang essen“. In diesem Augenblick spürte ich zum ersten Mal, dass meine Version der Ereignisse von Fakten bedroht wurde. Den größten Teil ihrer Besitztümer hätten sie bereits 1935 mit in die Türkei genommen, fuhr sie fort, darunter einen Bechstein-Flügel, und was sie in Berlin zurückgelassen hatten, sei eingelagert worden.
Als sie im olympischen Sommer zurückkehrten, blieben sie volle fünf Wochen, hauptsächlich um Zeit mit Verwandten zu verbringen. Sie nahmen Französischunterricht bei einem Lehrer, der ihnen jeden Tag die Tür öffnete und sie fragte: „Kinder, möchtet ihr eine Brezel?“ Es gab keinen Raubüberfall auf ihr eigenes Haus, kein Fluchtauto, keine Wettfahrt zur Grenze. Es stand nicht einmal fest, ob sie ihre alte Wohnung überhaupt aufgesucht hatten. Die gesperrten Bankkonten, die Kamera und die Geige – all das stimmte, sonst aber nicht viel. Die Schilderung meiner Großmutter erinnerte eher an Sommerferien. Als der Interviewer schließlich sagte, er habe keine weiteren Fragen mehr, schob sie ihren Stuhl zurück und sagte: „Na, Gott sei Dank.“
Was das Zuhören noch schlimmer machte, war, dass ich der Fragesteller war. Es handelte sich um das Interview aus dem Jahr 2012, in dem sie mir sagte, ich solle ein Buch zu dem Thema lesen, ein Interview, das ich zwar aufgezeichnet, jedoch nie abgespielt hatte – aus verständlichen Gründen. Es begann damit, dass meine Großmutter bereits mitten in einem Satz war, während ich noch an dem Diktiergerät hantierte. „Tut mir leid“, unterbrach ich sie, „ich hab gemerkt, dass es nicht eingeschaltet war. Wer … wer … wer hat Selbstmord begangen?“ Darauf folgte eine Lehrstunde in Inkompetenz, ein Interview, das mich so beschämte, dass ich es jetzt immer nur wenige Sekunden lang abspielen konnte und regelmäßig pausieren musste, um durchzuatmen. Es war unschwer einzusehen, weshalb ich die Idee, über sie zu schreiben, aufgegeben hatte. Schwerer zu begreifen war, wie es mir gelungen war, das meiste von dem, was sie mir erzählt hatte, zu vergessen und zu der Geschichte zurückzukehren, an die ich lieber glauben wollte.
Da erst begann ich, die Memoiren meines Urgroßvaters zu lesen, in der Hoffnung, meine tröstlichen Hirngespinste durch etwas Aussagekräftiges, etwas Wahres zu ersetzen. Die ganze Woche über – meine Neffen rannten kreischend den langen Flur auf und ab – arbeitete ich mich langsam vor. Es gab hundert Seiten Ahnengeschichte, die bis ins achtzehnte Jahrhundert zurückreichte, zu Jizhak Merzbacher, einem Tierhauthändler aus Nordostbayern. Weitere hundert Seiten befassten sich mit der unglücklichen Kindheit Siegfrieds und seiner beiden Schwestern in München. Die orthodoxen Eltern hatten die Kinder der Obhut eines im Haushalt lebenden Kindermädchens überlassen. Siegfried hatte versucht, ein Perpetuum mobile zu basteln, das nur aus Papier, Schnur, Leim und Murmeln bestand.
Danach folgte ein ausführlicher Bericht über sein Hochschulstudium, seine frühe akademische Laufbahn und die unzähligen weltverändernden wissenschaftlichen Durchbrüche, die um ein Haar erfolgreich gewesen wären, aber eben nur um ein Haar. Nylon, Chlorophyll, verschiedene Lücken im Periodensystem, die zu füllen ihm versagt blieb. Obwohl er von einigen der größten Köpfe des Goldenen Zeitalters der deutschen Wissenschaft unterrichtet worden war – auf jeder Seite Nobelpreisträger –, endete er damit, in einem umgebauten Bauernhaus fässerweise Pulver für Kopfschmerztabletten anzurühren.
Erst nach vierhundert Seiten war ich an dem Punkt angelangt, an dem meine Großmutter im Mutterbauch steckte. Damals war ihr Vater vierzig Jahre alt und hatte endlich eine Anstellung gefunden, auf die er stolz sein konnte: Er arbeitete für die Auergesellschaft, jene berühmte Berliner Firma, deren schwach radioaktive Straßenlaternen der Stadt ihren charakteristischen Glanz verliehen. Das Auerlicht brannte sauberer und länger, weil die Glühstrümpfe mit Thorium getränkt waren.
Um aus der öffentlichen Begeisterung Kapital zu schlagen, wollten Siegfrieds Bosse in den 1920er-Jahren die Palette radioaktiver Produkte verbreitern. Andere Firmen stellten bereits radioaktive Gesichtscreme, radioaktives Haarwasser und ein Energiegetränk namens Radithor her, dreifach destilliertes und mit Radium-226 und -228 versetztes Wasser, das als Quelle „ewigen Sonnenscheins“ angepriesen wurde. Selbst Produkte, die nicht im Entferntesten radioaktiv waren – wie etwa Unterwäsche aus „Radiumseide“ – wurden mit dem Argument beworben, Radium sei ein Wundermittel und eine Quelle mysteriöser Kräfte. Es schien keine Rolle zu spielen, dass viele der Radiologen, die Pionierarbeit geleistet hatten, nach jahrelangem ungeschütztem Kontakt mit einer Reihe von Radioisotopen an den Folgen ihrer Forschungstätigkeit starben.
Siegfried wurde mit der Entwicklung einer Zahnpasta beauftragt und stürzte sich in die Arbeit. Als er mit einem dauerhaften Zahnabszess zu kämpfen hatte, sah er seine Chance gekommen. Er zog die Oberlippe zurück und ließ sich von einem Kollegen Radium-228 und dessen „Tochter“ Actinium-228 ins obere Zahnfleisch spritzen. Als er von der Arbeit nach Hause kam, war sein Mund geschwollen und pochte, doch nach zwei Tagen brach der Abszess plötzlich auf, der Eiter floss ab, und die Infektion war überwunden. Nachdem er die Heileigenschaften der Strahlung am eigenen Leib erfahren hatte, brachte er seiner schwangeren Frau und seinem Sohn Probetuben Doramad mit nach Hause. Ihre erste Berührung mit strahlenbehandeltem Calciumcarbonat hatte meine Großmutter also in der Fruchtblase. Am 14. April 1924 kam sie, das „erhoffte kleine Mädchen“, glücklich und gesund zur Welt und wurde Dorothea genannt.
Immer wieder prüfte ich die Seitenzahlen nach und versuchte herauszufinden, wie Siegfried jetzt noch einen vollständigen und zufriedenstellenden Bericht über die Kindheit meiner Großmutter, den Absturz des Landes in den Totalitarismus, das Aufziehen jüdischer Kinder im „Dritten Reich“, die Flucht in die Türkei und die Olympischen Spiele von 1936 unterbringen wollte, und das alles, bevor wir überhaupt zum Krieg gelangten. Stattdessen hatte ich bei der Lektüre des letzten Kapitels das Gefühl, einen weiteren Fall von „Warum liest du nicht einfach ein Buch darüber?“ vor mir zu haben.
Weder die Flucht aus Deutschland noch die Rückkehr nach Deutschland, ob heldenhaft oder nicht, wurde erwähnt. Er brachte es fertig, so wenig wie möglich über eigene Verfolgungserlebnisse zu erzählen, und wenn er es tat, bestand einer seiner Ticks darin, auf schwierige Episoden unweigerlich beruhigende Erinnerungen an einen Urlaub folgen zu lassen. Kaum hatte er sich eine Zugfahrt nach Berlin im Jahr 1933 ins Gedächtnis gerufen – als ein Uniformierter einen höflichen und ruhigen „jüdisch aussehenden“ Herrn aus dem Waggon zerrte, war er „zu feige“ gewesen, etwas zu sagen –, sah er sich vier Jahrzehnte zurückversetzt in das Jahr 1893, als er im Alter von zehn Jahren mit seiner Familie an den belgischen Küstenort Blankenberge gereist war, wo er zum ersten Mal die „unendliche Weite“ des Meeres sah. Ließe sich seine Herangehensweise in einem einzigen Satz zusammenfassen, so wäre es dieser: „Von diesem unangenehmen Thema wende ich mich nunmehr wieder meinen Kindheitsferien zu.“
Erst ganz am Ende des Manuskripts verstand ich, weshalb er so lange gezögert hatte. Denn hätte er über das Leben unter den Nazis geschrieben, so hätte er auch über seine neuen Arbeitskollegen nach 1933 schreiben müssen. Es stellte sich heraus, dass die Memoiren in gewissem Sinne eine erweiterte Beichte waren. Genauer gesagt, handelte es sich um 506 Seiten, auf denen er sich erst einmal ausgiebig räusperte, bevor er auf dreizehn Seiten endlich das Wort ergriff. Die Memoiren endeten mit dem Geständnis, dass er seine „heiligsten Prinzipien verraten“ habe und die Schuld nie mehr „loswerden“ würde. An diesem Punkt wurde mir klar, dass ich nicht in erster Linie über meine Großmutter schreiben würde – und wenigstens darüber hätte sie sich gefreut.
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