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Kinderjahre Kinderjahre - eBook-Ausgabe

Remo H. Largo
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Die Individualität des Kindes als erzieherische Herausforderung

— Erziehungsratgeber für individuelle kindliche Entwicklung
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Kinderjahre — Inhalt

Von „Babyjahre“ zu „Kinderjahre“

Was ist Erziehung? Kinderarzt Remo H. Largo, Autor des Bestsellers „Babyjahre“, bietet Einsichten in die kindliche Entwicklung vom Kleinkindalter bis an die Schwelle des Erwachsenseins. Dabei berührt er fundamentale Fragen über Veranlagung und Umwelt, die kindlichen Grundbedürfnisse und Fähigkeiten, die Bedeutung von Reifung und selbstbestimmten Erfahrungen:

  • Wie entsteht die Individualität des Kindes?
  • Wie bilden sich tragfähige Beziehungen?
  • Wie werden Kinder zu selbstbewußten und glücklichen Erwachsenen? Wie finden sie ihr passendes Leben?
  • Was können Eltern zur Entwicklung ihres Kindes beitragen?

„Kinderjahre“ bietet praktische Hilfestellung, wie Sie die speziellen Talente und Veranlagungen Ihres Kindes am besten fördern

In klarer und verständlicher Sprache macht Remo H. Largo anhand vieler Beispiele deutlich: Erziehen bedeutet, das Kind in seiner Entwicklung so zu unterstützen, dass es zu dem Wesen werden kann, das in ihm angelegt ist.

Der Bestseller des bekannten Entwicklungsforschers in vollständig überarbeiteter und aktualisierter Neuausgabe.

€ 18,00 [D], € 18,50 [A]
Erschienen am 11.01.2021
464 Seiten, Broschur
EAN 978-3-492-31698-9
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€ 15,99 [D], € 15,99 [A]
Erschienen am 02.06.2020
464 Seiten
EAN 978-3-492-99056-1
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Leseprobe zu „Kinderjahre“

Vorwort


Boarding für den Flug Hamburg – Zürich. Vor mir steht eine Mutter, die ihr Kind auf dem Arm hat, das mich neugierig anschaut. Ich frage sie, wie alt ihre Tochter ist. Marisa sei 12 Monate und mache bereits die ersten Schritte. Marisa wird unruhig, sie will runter. Die Mutter stellt sie auf die Füße. Marisa macht vorsichtig einige Schritte. Weil die Gangway etwas abfällt, wird Marisa immer schneller, bis sie am Hosenbein eines Mannes zum Halten kommt. Der Mann blickt erstaunt nach unten und lächelt Marisa an. Die Mutter nimmt ihre Tochter hoch. Im [...]

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Vorwort


Boarding für den Flug Hamburg – Zürich. Vor mir steht eine Mutter, die ihr Kind auf dem Arm hat, das mich neugierig anschaut. Ich frage sie, wie alt ihre Tochter ist. Marisa sei 12 Monate und mache bereits die ersten Schritte. Marisa wird unruhig, sie will runter. Die Mutter stellt sie auf die Füße. Marisa macht vorsichtig einige Schritte. Weil die Gangway etwas abfällt, wird Marisa immer schneller, bis sie am Hosenbein eines Mannes zum Halten kommt. Der Mann blickt erstaunt nach unten und lächelt Marisa an. Die Mutter nimmt ihre Tochter hoch. Im Flugzeug angekommen, stellt sie Marisa wieder auf den Boden. Das Mädchen läuft stolz den Gang entlang und schaut sich aufmerksam die Menschen in den Sitzreihen links und rechts an. Da Passagiere hinter uns nachdrängen, nimmt die Mutter ihre Tochter erneut hoch und geht mit ihr zu ihren Plätzen. Sie kommen neben dem Mann von vorhin zu sitzen. Marisa lächelt ihn an. Den kenne ich doch.


Wenn Kinder auf die Welt kommen, erwarten sie nur Gutes. Sie wollen mit Freude empfangen, geliebt und umsorgt wer-den. Die nächsten 15 Jahre lang sind sie unablässig damit beschäftigt, sich Fähigkeiten wie das Laufen und Sprechen anzueignen; sie sind unendlich stolz, wenn sie wieder einen Entwicklungsschritt geschafft haben. Und sie wollen alles um sich herum kennenlernen und verstehen. Das unbändige Streben von Kindern, ihre Fähigkeiten zu entfalten und die Welt zu begreifen, fasziniert mich auch noch als alter Großvater. Ich habe meine helle Freude daran, Kindern wie Marisa zuzuschauen. Jedes Kind ist für mich immer noch eine neue Erfahrung, etwas Einzigartiges.

Wie unterschiedlich Kinder sein können, war eine der nachhaltigsten Erfahrungen, die ich in meiner Tätigkeit als Wissenschaftler und klinisch tätiger Entwicklungspädiater in mehr als 30 Jahren gemacht habe. In den Zürcher Longitudinalstudien durfte ich mit meinen Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen mehr als 700 Kinder von der Geburt bis ins Erwachsenenalter begleiten. Wir haben die Entwicklung jedes einzelnen Kindes Jahr für Jahr in Bereichen wie Motorik und Sprache detailliert aufgezeichnet und analysiert. Bei der Auswertung der Daten stellte sich heraus, dass es keine Fähigkeit, kein Verhalten und keine körperliche und psychische Eigenschaft gibt, die bei allen Kindern gleich ausgebildet ist. In jedem Alter sind Kinder unterschiedlich groß und schwer. Einige Kinder machen die ersten Schritte im Alter von 10, andere erst mit 20 Monaten. Es gibt Kinder, die sich bereits mit 3 bis 4 Jahren für Buchstaben interessieren, die meisten erst mit 6 bis 8 Jahren, und nicht wenigen bereitet das Lesen selbst im Erwachsenenalter noch Mühe.

Kenntnisse über die Vielfalt unter Kindern und die Gesetzmäßigkeiten der normalen Entwicklung sind im Umgang mit Kindern eine unschätzbare Hilfe, insbesondere wenn sie nicht mehr unseren Erwartungen entsprechen. Beispielsweise bei Bernhard, der von seinen Eltern in die entwicklungspädiatrische Poliklinik gebracht wurde, weil er mit 10 Jahren immer noch nicht rechnen konnte. Er fühlte sich als Versager, da er hinter den anderen Kindern zurückblieb und die Erwartungen der Eltern und der Lehrerin nicht zu erfüllen vermochte. Bernhard war in seinem Wohlbefinden so sehr beeinträchtigt, dass er mehrmals den Schulbesuch verweigerte.

Ich habe im Laufe meiner klinischen Tätigkeit Tausende von Kindern wie Bernhard erlebt, die uns zugewiesen wurden, weil sie von der „Norm“ abwichen und den Erwartungen der Erwachsenen nicht entsprachen. Sie litten an den unterschiedlichsten Entwicklungsstörungen wie einer Rechenschwäche und reagierten darauf mit Verhaltensauffälligkeiten wie Ess- und Schlafstörungen oder wie Bernhard mit sozialem Rückzug. Der oftmals unausgesprochene Auftrag der Eltern und Lehrer an uns bestand darin, die Kinder durch Förderung in die „Norm“ zu bringen, was – wie uns die langjährige Erfahrung gelehrt hat – nicht gelingen kann. Für uns war das eigentliche Problem dieser Kinder, dass sie nicht „sie selbst“ sein durften. So versuchten wir den Kindern zu helfen, indem wir uns ein Bild von ihren individuellen Fähigkeiten machten und dann gemeinsam mit den Eltern und Bezugspersonen überlegten, wie das jeweilige Kind mit seinen Stärken und Schwächen am besten unterstützt werden konnte. Das war häufig nicht leicht, hatten doch viele Eltern und Lehrer bestimmte Erwartungen an das Kind, ganz eigene Vorstellungen von seinen Fähigkeiten und vor allem von den Leistungen, die es erbringen sollte. Wenn es uns jedoch gelang, die Erwachsenen auf die individuellen Be-dürfnisse und Fähigkeiten des Kindes einzustellen, verbesserte sich sein körperliches und psychisches Wohlbefinden und seine Lernbereitschaft nahm zu.

Die wichtigsten Erkenntnisse aus meiner klinischen und wissenschaftlichen Tätigkeit habe ich in einer Reihe von Büchern wie „Babyjahre“ (2017b), „Schülerjahre“ (2009) und „Jugendjahre“ (2011) für Eltern und Fachleute dargelegt. Seit dem erstmaligen Erscheinen der „Babyjahre“ vor 25 Jahren durfte ich die wunderbare Erfahrung machen, dass Eltern viel gelassener und umsichtiger mit ihren Kindern umgehen, wenn sie sich an ihren individuellen Grund-bedürfnissen und Fähigkeiten orientieren. Ein Verständnis für die kindliche Entwicklung ist eine weitaus bessere Erzie-hungshilfe als jeder wohlmeinende Ratgeber.

Dieses Buch hat eine andere Zielsetzung als meine früheren Bücher, in denen ich die Vielfalt unter den Kindern und den Verlauf der kindlichen Entwicklung beschrieben habe. Dieses Buch befasst sich mit dem Wesen des Kindes und den Gesetzmäßigkeiten der Entwicklung. Das Herzstück dabei ist das Fit-Prinzip (siehe auch mein Buch „Das passende Leben“ (Largo 2017a)). Es besagt: Jedes Kind will mit seinen Grundbedürfnissen, Fähigkeiten und Vorstellungen in Übereinstimmung mit seiner Umwelt leben. In „Kinderjahre“ geht es also um das Zusammenwirken von Kind und Umwelt. Das Fit-Prinzip bekommt in der heutigen Gesellschaft, die zunehmend von sozialer Isolation, Förderwahn und Leistungsstreben geprägt ist, eine besonders große Bedeutung. Kinder wollen alle ihre Fähigkeiten entfalten und nicht nur diejenigen, die Eltern, Schule und Gesellschaft von ihnen erwarten. Doch das ist für sie immer schwieriger geworden.

In der Erstausgabe der „Kinderjahre“ (1999) habe ich das Fit-Prinzip erstmals beschrieben. In den vergangenen 20 Jahren hat sich mein Verständnis für das Fit-Prinzip so sehr vertieft, dass ich mich entschlossen habe, das Buch vollständig zu überarbeiten. Ich hoffe, dass das überarbeitete Fit-Prinzip bei Eltern und Fachleuten auf Interesse und Zustimmung stoßen und ihnen beim Umgang mit Kindern eine Hilfe sein wird.


Remo H. Largo
Juni 2019



Einleitung


Der 11-jährige Ben setzt sich verunsichert auf seinen Platz. Die Lehrerin hat ihn bei der Begrüßung kaum angeschaut und nur flüchtig Guten Morgen gesagt. Ben grübelt: Warum ist die Lehrerin bloß unzufrieden mit mir? Ist meine Mathearbeit schlecht ausgefallen?

Als die Lehrerin Bens Verunsicherung und auch die der anderen Kinder bemerkt, erklärt sie der Klasse, dass sie müde und besorgt ist, weil ihr Kind in der vergangenen Nacht krank wurde und sie es ins Krankenhaus bringen musste. Dann teilt die Lehrerin die Mathearbeit aus. Ben ist Zweitbester. Er ist sehr zufrieden. Er spürt auch die Anerkennung von der Lehrerin und den anderen Kindern; manche schauen sogar ein bisschen neidisch zu ihm herüber.


Menschen jeden Alters wollen sich angenommen fühlen. Wie Ben reagiert auch ein gestandener Bankbeamter auf ein distanziertes Verhalten seines Vorgesetzten. Besonders Kinder aber brauchen für ihr Wohlbefinden ein Gefühl von Angenommensein. Ihr Selbstwertgefühl hängt wesentlich davon ab, ob sie die notwendige Anerkennung von den Erwachsenen und den anderen Kindern bekommen. Schließlich wollen sie mit ihren Leistungen sich selbst und den Erwartungen anderer wie der Lehrerin genügen können. Wohlbefinden, Selbstwertgefühl und Selbstwirksamkeit machen Kinder stark. Sie geben ihnen das Gefühl, ein gutes Leben zu führen, sich selbst zu mögen und ihren Alltag im Griff zu haben.

Wie sich ein Kind fühlt, etwa wenn es in der Schule überfordert wird, bestimmt sein Verhalten – und oft, wie erfolgreich es ist. Ist es in seinem Wohlbefinden beeinträchtigt und verfügt über ein geringes Selbstwertgefühl, schwächt das seine Beziehungsfähigkeit. Seine Lernmotivation und sein Leistungsvermögen werden durch die innere Unsicherheit ebenfalls herabgesetzt. Kinder können ihre Fähigkeiten und Fertigkeiten sowie ihr Wissen nur ungenügend einsetzen, wenn sie sich unwohl fühlen und verunsichert sind. Schlimmstenfalls leiden ihr Wohlbefinden, Selbstwertgefühl und ihre Selbstwirksamkeit derart, dass sie überzeugt sind: Mich mag niemand, ich kann nichts, ich bin nichts wert. Eine solch tiefe emotionale Verunsicherung erleben Kinder als Stress, der zu psychosomatischen Beschwerden wie Kopfschmerzen oder Verdauungsstörungen führen kann.

Ein Kind fühlt sich dann wohl, wenn es seine körperlichen und psychischen Bedürfnisse befriedigen und seine Fähigkeiten entfalten kann. Dafür sollte es möglichst in Übereinstimmung mit seiner Umwelt leben dürfen. Wenn wir es als Eltern, Erzieherinnen und Lehrer darin ausreichend unterstützen, wird aus dem Kind ein junger Erwachsener mit einer positiven Grundstimmung, einem guten Selbstwertgefühl und einer guten Selbstwirksamkeit. Dies zu gewährleisten ist das Hauptanliegen des Fit-Prinzips.

Die nachfolgende kurze Übersicht über die verschiedenen Kapitel des Buches soll der Leserin und dem Leser aufzeigen, von welch großer Bedeutung so unterschiedliche Themen wie Vielfalt der Grundbedürfnisse und Fähigkeiten, das Zusammenwirken von Anlage und Umwelt und die Gesetzmäßigkeiten der kindlichen Entwick-lung für das Verständnis des Fit-Prinzips sind, aber auch von Misfit-Konstellationen, einer fehlenden Übereinstimmung zwischen Kind und Umwelt.


Das Normale an der kindlichen Entwicklung ist Vielfalt

Wären alle Kinder gleich, wäre Erziehung nicht gerade ein Kinderspiel, aber doch sehr viel einfacher. Wenn gleichaltri-ge Kinder gleich viel essen würden, im selben Alter zu sprechen anfingen und in der Schule gleich gut lesen könnten, gäbe es weit weniger Erziehungsprobleme. Was den ganzen Mehraufwand jedoch bei Weitem aufwiegt und Kinder so kostbar macht: Jedes Kind ist als Person und in seinem Werdegang einzigartig.

Kinder sind bereits bei der Geburt sehr verschieden und werden es im Verlauf ihrer Entwicklung immer mehr. So gibt es unter gleichaltrigen Kindern solche, die doppelt so viel essen wie andere. Während das eine Kind mit 12 Monaten die ersten Wörter spricht, ist ein anderes erst mit 30 Mona-ten so weit. Die meisten Kinder lernen im Alter von etwa 7 Jahren Rechnen. Einige bringen sich das Rechnen bereits mit 4 bis 5 Jahren selbst bei, anderen gelingt dies erst Jahre später. Früh entwickelte Mädchen bekommen mit 10 Jahren ihre Regel, spät entwickelte erst mit 16 Jahren. Das Normale an der kindlichen Entwicklung ist Vielfalt.

Es ist offensichtlich und niemand wird bestreiten, dass gleichaltrige Kinder verschieden groß und schwer sind. Zu akzeptieren, dass geistige Fähigkeiten wie Sprache und Zahlenverständnis ebenfalls unterschiedlich angelegt sind, fällt – insbesondere bei den eigenen Kindern – weitaus schwerer. Dabei entwickeln sich diese Fähigkeiten von Kind zu Kind noch sehr viel unterschiedlicher als Körpergröße und Gewicht.

Gleichaltrige Kinder können so verschieden sein, dass eine erzieherische Haltung, die dem einen Kind entspricht, bei einem anderen verfehlt sein kann. Je mehr es uns gelingt, uns auf die individuellen Bedürfnisse und Fähigkeiten der Kinder einzustellen, desto besser werden sie sich entwickeln und desto geringer wird der erzieherische Aufwand sein. Viele erzieherische Schwierigkeiten treten gar nicht erst auf, wenn wir uns an der Individualität des Kindes orientieren.

Von den Normvorstellungen Abschied zu nehmen ist nicht einfach, und der Individualität eines Kindes gerecht zu werden ist anspruchsvoll. Dafür müssen wir als Eltern, Bezugspersonen und Fachleute unsere Erziehungshaltung immer wieder hinterfragen und uns immer wieder neu auf das Kind einstellen.


Über den Einfluss von Anlage und Umwelt

Roger Federer ist einer der erfolgreichsten Tennisspieler aller Zeiten. Er ist bei 20 Grand-Slam-Turnieren als Sieger hervorgegangen und hat die Weltrangliste mehr als 300 Wochen lang angeführt. War er so erfolgreich, weil er mit einem außerordentlichen Talent gesegnet ist, weil er sehr viel trainiert hat oder weil sich Begabung und Trainingseifer ideal ergänzt haben? Wenn Jugendliche einen dicken Harry-Potter-Band in einer Woche verschlingen, während einige ihrer Schulkameraden selbst eine kurze Notiz in einer Boulevardzeitung nur mit Mühe entziffern können – ist das so, weil ihre Lesekompetenzen so verschieden angelegt sind, oder liegt es daran, dass Elternhaus und Schule sie unterschiedlich unterstützt haben, oder trifft beides zu?

Die Frage, was an der Entwicklung und am Verhalten eines Kindes Ausdruck seiner Veranlagung und was erziehungsbedingt ist, treibt Eltern und Pädagogen gleichermaßen um. Sich darüber Klarheit zu verschaffen ist überaus wichtig, denn je nachdem, ob wir annehmen, dass ein bestimmtes Verhalten angeboren ist oder durch die Erziehung bestimmt wird, verhalten wir uns unterschiedlich. Fakt ist: Es ist immer sowohl Anlage als auch Erziehung beziehungsweise Erfahrung. So ist der tägliche Schlafbedarf biologisch vorgegeben. Die Eltern können die Schlafdauer ihres Kindes nicht bestimmen, sondern müssen sich darauf einstellen, dass es ein Kurz- oder Langschläfer sein kann. Hingegen können sie bestimmen, wann das Kind ins Bett geht, und können dafür sorgen, dass das abendliche Zubettbringen zu einer innigen Viertelstunde wird, die das Kind entspannt einschlafen lässt.

Was die Anlage zur Entwicklung beiträgt, kann die Umwelt nicht leisten. Was die Umwelt dazu beträgt, kann die Anlage nicht leisten. Es geht also darum zu verstehen, wie Anlage und Umwelt zusammenwirken.


Was Kinder in ihrer Entwicklung antreibt

Jedes Kind wird mit einem riesigen Entwicklungspotenzial geboren, das im Verlauf von Jahrmillionen entstanden ist und sich bewährt hat. Dieses ihm eigene Potenzial will das Kind verwirklichen. In den ersten Lebensmonaten beginnt es nach Gegenständen zu greifen und sie kennenzulernen. Mit einem Jahr kann es laufen und einige Worte verstehen. Mit 3 Jahren beginnt es zu zeichnen und mit dem Dreirad herumzufahren. Mit 5 Jahren spricht das Kind einigermaßen fehlerfrei und verfügt über ein einfaches Zahlenverständnis. Nun kommt es in die Schule, und die Entwicklung seiner Fähigkeiten macht bis zum Abschluss der Pubertät noch einmal einen Quantensprung. Das Kind rekapituliert innerhalb von etwa 20 Jahren eine immense Wegstrecke der Evolution – gewissermaßen im Schnelldurchlauf.

In jedem Lebensabschnitt reifen bestimmte Fähigkeiten und Verhaltensweisen heran, die das Kind durch Erfahrungen zur Entfaltung bringen will. So interessiert sich jedes Kind für Buchstaben, aber erst wenn die Fähigkeit zum Lesen herangereift ist. Dieser Auffassung vom Kind und von seiner Entwicklung werden Eltern und Lehrer kaum zustimmen, wenn sie davon ausgehen, dass ein Kind umso größere Fortschritte macht, je mehr Fertigkeiten mit ihm eingeübt werden und je mehr Wissen ihm angeboten wird. Das Kind ist aber keine Knetmasse, die man beliebig formen und an das man willkürliche Anforderungen stellen kann. So vermag sich ein Kind frühestens mit 4 Jahren in andere Menschen einzufühlen und hineinzudenken. Zuvor ein em-pathisches Verhalten vom Kind zu verlangen, etwa im Umgang mit einem jüngeren Geschwister, überfordert es.

Es ist ein Anliegen dieses Buches aufzuzeigen, dass jedes Kind lernen will, aber auf seine Weise und in seinem Entwicklungstempo. Wenn wir uns als Eltern und Erzieher an der individuellen Entwicklung eines Kindes und den Gesetzmäßigkeiten der kindlichen Entwicklung orientieren wollen, müssen wir unsere Erwartungen und unseren Umgang mit dem Kind immer wieder hinterfragen.

Remo H. Largo

Über Remo H. Largo

Biografie

Remo H. Largo, geboren 1943 in Winterthur, gestorben 2020 in Uetliburg, war bis zu seiner Emeritierung 2005 Professor für Kinderheilkunde. Fast drei Jahrzehnte lang leitete er die Abteilung für Wachstum und Entwicklung am Kinderspital in Zürich, wo er die bedeutendste Langzeitstudie über kindliche...

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