Klang des Feuers (Wiebke-Meinert-Thriller 2) - eBook-Ausgabe
Thriller
Klang des Feuers (Wiebke-Meinert-Thriller 2) — Inhalt
Das Schicksal nennt keine Gründe. Es schlägt einfach zu.
Wiebke Meinert steht am Grab ihrer Schwester. Die Ermittlungen nach der Explosion von Saskias Wagen wurden eingestellt. Ein DNA-Test belegte eindeutig ihren Tod, die Akten sind seither unter Verschluss. Doch Wiebke spürt, dass ihre Zwillingsschwester lebt. Sie reist nach Hamburg und stellt inoffizielle Nachforschungen an, um die Schuldigen zu finden. Dabei stößt sie auf ein geheimes Netzwerk von Schmugglern, Politikern, Lobbyisten und Unternehmern. Alle haben eines gemeinsam: Sie wollen nicht, das Wiebke die Wahrheit erfährt, denn sie verdienen alle verdammt viel Geld mit Waffengeschäften …
Leseprobe zu „Klang des Feuers (Wiebke-Meinert-Thriller 2)“
PROLOG
Waldfriedhof Zehlendorf, 02:09 Uhr MEZ
Wiebke Meinert redete mit sich selbst. Wahrscheinlich häufiger als andere Menschen, was möglicherweise daran lag, dass es keine anderen Menschen in ihrem Leben gab. Jedenfalls keine wichtigen. Nicht mehr. Das war nicht immer ihre Entscheidung, denn manchmal wurden ihr die wichtigen Menschen einfach genommen. Wiebkes Hand zitterte, als sie das Herbstlaub vom Grabstein wischte. Saskia war ihr genommen worden. Sie hatte das Grab ihrer Zwillingsschwester noch nie besucht.
Niemand sonst war auf dem Friedhof, [...]
PROLOG
Waldfriedhof Zehlendorf, 02:09 Uhr MEZ
Wiebke Meinert redete mit sich selbst. Wahrscheinlich häufiger als andere Menschen, was möglicherweise daran lag, dass es keine anderen Menschen in ihrem Leben gab. Jedenfalls keine wichtigen. Nicht mehr. Das war nicht immer ihre Entscheidung, denn manchmal wurden ihr die wichtigen Menschen einfach genommen. Wiebkes Hand zitterte, als sie das Herbstlaub vom Grabstein wischte. Saskia war ihr genommen worden. Sie hatte das Grab ihrer Zwillingsschwester noch nie besucht.
Niemand sonst war auf dem Friedhof, abgesehen von streunenden Katzen, die wie halb vergessene Erinnerungen zwischen den Grabsteinen umherschlichen. Manchmal fragte Wiebke sich, wessen Erinnerungen auf Friedhöfen spukten. Die der Toten oder die der Lebenden. Doch Wiebke wollte sich nicht erinnern, denn die Erinnerungen waren zu schmerzhaft. Saskia. Die Gute, die alles erreicht hatte. Der Liebling der Eltern. Mit einer steilen Karriere. Wiebke hingegen hatte gar nichts erreicht. Fast nichts. Unbemerkt von den Eltern, die nur auf Saskia und ihr strahlendes Leben fixiert waren, hatte Wiebke sich von ihrer Familie entfernt. Und als sie hätte für ihre Schwester da sein müssen, war sie es nicht gewesen. Wiebke schloss die Augen. Ihr Puls hatte sich beruhigt, die Atmung normalisiert. Sie war gerannt, so wie sie ihr halbes Leben gerannt war. Immer vergebens, aber vielleicht hatte es dieses Mal gereicht. War sie den Verfolgern entkommen?
„Weißt du, Saskia?“ Wiebke schloss kurz die Augen und rief sich ins Gedächtnis, wie lächerlich Saskia das Selbstgespräch gefunden hätte. „Du warst der wichtigste Mensch in meinem Leben, auch wenn ich es nicht zugeben wollte. Du fehlst mir, und ich vermisse dich so sehr, dass es wehtut.“
In solchen Momenten wünschte Wiebke, sie würde anstatt Saskia in der Erde liegen. Sie spürte die Kälte, die vom Rücken aus bis in den letzten Winkel ihres Körpers kroch. Sie betäubte den Schmerz, denn etwas anderes als Schmerz spürte Wiebke schon lange nicht mehr. Was anderes wollte sie auch nicht spüren, denn nur durch den Schmerz wurde ihr bewusst, dass sie noch lebte. Sie ertastete die Inschrift des Grabsteins. Das Schicksal nennt keine Gründe.
Es gab keinen Grund für den Mord an Saskia, jedenfalls keinen erkennbaren. Offiziell war sie im Auftrag des Entwicklungsministeriums bei einer Veranstaltung in Offenbach. Am nächsten Morgen explodierte ihr Auto in einer Tiefgarage in Hamburg. Dass es sich bei dem verbrannten Leichnam um Wiebkes Schwester handelte, wurde durch eine DNA-Analyse bestätigt. Der Fall wurde zu den Akten gelegt. Keine Hinweise auf mögliche Täter. Angeblich trotz intensiver Ermittlungsarbeit. Dabei lag der erste Hinweis klar auf der Hand: Warum starb Saskia in Hamburg, wenn sie doch angeblich in Offenbach ein Meeting hatte? Zwischen Hamburg und Offenbach lagen über fünfhundert Kilometer Wegstrecke. Laut Polizeiangaben fehlte das Motiv. Natürlich gab es das nicht. Jedenfalls kein offensichtliches. Saskia hatte in Kreisen gearbeitet, wo Schwarz und Weiß immer zu Grau verschwammen. Wo es so viele Gründe dafür gab, Menschen zu ermorden, dass niemand den wirklichen Grund im Geflecht aus geopolitischen, wirtschaftlichen, ideologischen und religiösen Interessen erkennen konnte. Wiebke kannte sich damit aus. Sie war selbst ein Teil dieses Spiels gewesen. Nicht wie Saskia als Agentin, sondern als Soldatin, die deutsche Interessen auch ohne Mandat oder politische Entscheidung hinter feindlichen Linien durchsetzte, nötigenfalls mit Gewalt. Doch sie hatte dieses Spiel satt, wollte nicht mehr Teil davon sein. Nachdem Saskia ermordet worden war, musste Wiebke nun aber wieder in das Leben zurückkehren, das sie so sehr hasste. Sie wollte ihre Schwester rächen.
Und Rache bedeutet Einsamkeit.
Man ist, was man ist. Davor kann niemand flüchten. Saskia hatte das immer gesagt und sanft gelächelt. Ganz im Stil der großen Schwester, die sie gewesen war. Auch wenn es nur drei Minuten waren, die Saskia und Wiebke trennten. Drei Minuten können manchmal ein ganzes Universum sein.
Wiebke zuckte zusammen. War da ein Knacken? Sie verharrte bewegungslos, zwang sich, keine hektischen Bewegungen zu machen, atmete flach und horchte in die wieder eingekehrte Stille hinein. Doch der Friedhof schwieg. Wiebke spannte jeden Muskel an, konzentrierte sich. Wie hatten ihre Verfolger sie finden können? Sie hatte alles getan, um sie abzuschütteln. Normalerweise war sie gut darin, unsichtbar zu werden, um dann wie ein Geist ihre Gegner auszuschalten. Aber jetzt wurde sie von Geistern heimgesucht. Ihre Verfolger schlichen sich an. Das bedeutete nichts Gutes. Das bedeutete es nie.
Ihre Sinne schärften sich. Der Geruch feuchter Erde stieg ihr in die Nase. Die Kälte wurde noch intensiver.
Der Lichtstrahl einer Taschenlampe durchschnitt das Nachtgrau, strich über Grabsteine und verharrte schließlich auf ihrem Oberkörper. Das Licht blendete sie.
Die Verfolger hatten sie gefunden.
Das Ende war unvermeidlich.
„Wir sehen uns, große Schwester. Gleich bin ich bei dir.“
Vier Tage vorher
Die erbarmungsloseste Waffe ist die gelassene
Darlegung der Fakten.
Raymond Barre,
französischer Politiker
1
Monchique, 21:05 Uhr MEZ
Sie war alt und gebrechlich, gehörte noch nie zu den Lautesten. Ihr Auftreten war eher unscheinbar. Trotzdem hörte man ihr zu. Anfangs waren es nur wenige gewesen. Vielleicht eine Handvoll. Doch dann hatte es sich entwickelt. Wenn sie sprach, blieben immer mehr Menschen stehen. Je mehr es wurden, desto schlimmer wurde die Furcht, die sie manchmal die Worte vergessen ließ. Es waren wichtige Worte, deswegen unterdrückte sie das Gefühl. Erst zu Hause, wenn sie alleine war, explodierte die Angst, zerriss förmlich ihre zarte Seele. Unzählige Schnitte an den Unterarmen zeugten davon. Aber irgendwann musste sie sich eingestehen, dass sie süchtig geworden war. Süchtig, im Rampenlicht zu stehen, ein Bad in der Menge zu nehmen. All die Schilder zu lesen, die ihr entgegengestreckt wurden. Angst zu tanken und diese später gegen sich selbst zu richten. Ihr war bewusst, dass sie irgendwann den letzten Schnitt machen würde. Weil der Schmerz schon jetzt nicht mehr ausreichte, musste sie tiefer schneiden.
„Bist du bereit, Jara?“ Der Mann mit den Kopfhörern um den Hals stand in der halb geöffneten Tür des Wohntrailers, der schon einige Zeit ihr Zuhause war. Hier zog sie sich um, bereitete die Reden vor, während jemand anders sie von Ort zu Ort fuhr, damit sich ihr Wort in Europa verbreitete. Die Menschen pilgerten schon zu den Veranstaltungen. Es hatte sich ein regelrechter Demonstrationskult entwickelt, und Jara stand in seinem Zentrum. Vielleicht deshalb, weil sie wusste, wovon sie sprach. Sie hatte die Schrecken des Krieges in Bosnien miterlebt. Sie hatte gesehen, wie Soldaten ins Dorf marschiert waren und jeden Muslim erschossen. Jara hatte hilflos mitansehen müssen, wie Soldaten ihr die Waisenkinder wegnahmen, die zu schützen sie geschworen hatte. Was dann passierte …
Es gab auch die kritischen Stimmen. Manche zweifelten ihre Geschichte an. So wie immer. Die graue Masse an machtgeilen Arschlöchern behauptete, dass sie gesteuert wurde, dass jede Demonstration inszeniert war, dass hinter ihr jemand stand, der kräftig an ihren Worten verdiente.
Jara blickte in den Spiegel über dem Schminktisch. Der Wohntrailer war klein, aber recht luxuriös. War das falsch? Offensichtlich. Jedenfalls wenn man den Schlagzeilen bedeutender Zeitungen wie Le Monde, Frankfurter Allgemeine, El Pais oder Guardian glaubte.
Jara wurde dort eine Lügnerin genannt. Sie wäre die Marionette eines Magnaten, der durch ihre Worte unfassbar reich wurde. Man machte sich Sorgen. Wenn sie mal schlecht geschlafen hatte, was nebenbei bemerkt jeder Mensch ab und an tat, und deswegen die Augenringe deutlicher zu sehen waren, hieß es, die ganze Sache fräße sie auf. Sie wäre austauschbar. Ein Kaugummi, der weggeworfen würde, wenn er keinen Geschmack mehr hatte.
Aber das war sie nicht. Austauschbar. Auch wenn es niemand glaubte. Es waren ihre Worte, die sie der Masse entgegenschleuderte. Es waren ihre Worte, die sich am Anfang im Wind verloren hatten, nun aber selbst wie ein Wind waren. Wie ein Orkan, der die Menschen aufwachen ließ. Sie ängstigte. Und ja, das war ihr Ziel. War es von Anfang an gewesen. Sie wollte, dass die Menschen Angst hatten. So viel Angst, dass sie begriffen, dass verkriechen keine Lösung war. Niemand sollte das erleben müssen, was sie erlebt hatte. Die Menschen mussten aufstehen und für die Zukunft kämpfen. Und die Alten mussten Buße tun für das, was sie in der Vergangenheit versäumt hatten. Es hätte niemals so weit kommen dürfen. Jaras Generation hatte die Augen verschlossen und nach Entschuldigungen gesucht, nichts tun zu müssen. Erst war es das Studium, dann der Beruf, später die Kinder, die großgezogen werden mussten. Irgendwas fand sich immer. Bloß nicht aufstehen und gegen die bestehende Gesellschaftsordnung rebellieren. Ihrer Generation war es gut gegangen. Warum das also ändern? Manchmal überlegte Jara, ob sie auch so geworden wäre, hätte sie woanders gelebt, hätte sie nicht diese Erfahrungen gemacht, die ihr heute noch den Schlaf raubten. Noch heute hörte sie manchmal das Geschrei der Kinder. Das Lachen der Soldaten.
Die Schüsse.
„Bist du so weit?“
Sie legte die Bürste hin und drehte sich zur Tür. Der Mann mit den Kopfhörern stand immer noch da.
Sie nickte stumm und stand auf. Ein Gefühl der Schwäche benetzte ihren Körper. Unbemerkt von dem Mann mit den Kopfhörern taumelte sie, hielt sich fest und fand so etwas wie Sicherheit. Dann trat sie aus dem Trailer in den lauen Herbstabend. Sofort flackerte Blitzlichtgewitter. Die Presse hatte sich gut positioniert. Direkt am Eingang, aber noch hinter dem Absperrgitter, das Jara einen Weg zur Bühne freihielt. Etwas abseits stand ihr älterer Bruder im Gespräch mit anderen Anzugträgern. Er bemerkte nicht einmal, dass sie den Trailer verlassen hatte. Zu vertieft schien er in die Geschäfte, die er offensichtlich machte. Irgendjemand verdiente immer. Warum also nicht ihr Bruder? Er organisierte die Auftritte. Er verhandelte das Honorar.
Jara brauchte die Öffentlichkeit. Deswegen die verhassten Auftritte. Und egal, wie häufig sie vor einer Menge sprach, eins änderte sich nie: der schwere Gang über die Treppe zum Rednerpult. Dorthin, wo unzählige Mikrofone waren, die ihre Worte in die Welt hinaustrugen, dafür sorgten, dass die Botschaft nicht wieder ungehört vom Wind weggetragen wurde. Jara hatte das Gefühl, dass die Blitzlichter mehr wurden, als sie am Rednerpult stand. Die Menschen vor ihr hielten Transparente oder Schilder in die Höhe.
Soldaten sind Mörder, war auf ihnen zu lesen. Nie wieder Krieg, Waffenexporte sind Völkermord, Politiker sind Mörder, Stoppt Waffenlieferungen.
Und genau das war die Botschaft.
Sie atmete ein und spürte die Angst.
„Ich will, dass ihr euch fürchtet.“ Jaras Stimme wurde von den Mikrofonen aufgenommen und über Lautsprecher über den Platz getragen. Sie wartete, bis ihre eigenen Worte verhallt waren. „Wir sind nicht zufällig hier. Heute wollen wir trauern. Um einen Vater, der in einem Krieg gestorben ist, den die portugiesische Regierung zu verantworten hat, den Menschen zu verantworten haben, die Geld mit dem Tod verdienen. Die Waffen in Länder liefern, die im Chaos versinken. Die Politiker behaupten, im Sinne des Volkes zu handeln. Aber tun sie das wirklich? Ist es euer Wille, dass Unschuldige sterben? Durch Gewehre und Granaten? Nein!“
Berauschender Applaus. Sie riefen ihren Namen.
Jara nahm die Szene wie in Zeitlupe wahr. Deswegen erblickte sie auch den Mann in der ersten Reihe sofort, der eine Maschinenpistole unter seiner Jacke hervorzog. Sie wusste, dass sie keine Chance hatte. Welch eine Ironie. Sie hatte niemals geglaubt, durch ein Projektil zu sterben. Aber vielleicht war es gut, dachte sie. So werden die Menschen erst recht aufgerüttelt.
Sie wachen endlich auf.
Während ich für immer schlafen werde.
Und ewige Ruhe finde.
2
Bonn, 07:13 Uhr MEZ
Auf dem Bildschirm waren die verwackelten Aufnahmen einer Kleinstadt zu sehen. Weiß getünchte Häuser mit bunten Türen, Wäsche, die zum Trocknen aufgehängt worden war. Die Sonne stand tief am Horizont. Eine romantische Szene, die auf eine Postkarte gehörte. Wären da nicht die vielen Polizeifahrzeuge gewesen, die Rettungswagen, die schreienden Menschen. Das viele Blut.
Brigitta Wittlich löste den Blick vom Bildschirm und wandte sich zur Studiokamera. „Gestern wurde wieder einmal ein Paradies vom islamistischen Terrorismus getroffen. Ich begrüße Sie, liebe Zuschauerinnen und Zuschauer, zu unserer Sondersendung im WDR. Und ich möchte Professor Liebknecht hier im Studio willkommen heißen.“
Sie blickte ihrem Studiogast ins Gesicht. Wenn der Professor Emotionen hatte, so zeigte er sie nicht, aber als er Brigitta ansah, erkannte sie die Erschütterung tief in seinen Augen. Liebknechts Lippen waren so fest aufeinandergepresst, dass sie nicht mehr als ein dünner Strich waren. Er nickte der Journalistin zu.
„Professor Carl Liebknecht gehört unbestritten zu den renommiertesten Terrorismusexperten unserer Zeit. Danke, dass Sie so kurzfristig kommen konnten.“
Liebknecht faltete die Hände. „Ich danke Ihnen.“
Brigitta blickte wieder in die Kamera. „Monchique, eine portugiesische Kleinstadt in der Algarve mit gerade mal fünftausend Einwohnern, wurde gestern Abend grausam erschüttert, als ein vermummter und bewaffneter Mann eine friedliche Demonstration stürmte. Die Menschen lauschten den Worten der Rüstungsgegnerin Jara Van Dyk, als der Vermummte gnadenlos das Feuer eröffnete. Zeugen zufolge soll er dabei Allahu Akbar geschrien haben. Die Anzahl der zivilen Opfer ist bisher nicht bestätigt, aber es ist sicher, dass im Kugelhagel unschuldige Kinder starben, ebenso wie Jara Van Dyk. Nach bisherigen Informationen ist der Täter auf der Flucht. Was ist das für ein Monster, das eine solche Tat begeht, Herr Liebknecht?“
„Zwei Dinge, Frau Wittlich. Erstens ist bisher nicht offiziell bestätigt, dass es sich bei dem Angriff tatsächlich um einen terroristischen Akt handelt. Und zweitens …“ Liebknecht räusperte sich. „Zweitens ist es ein Mensch, der das getan hat. Wir neigen immer dazu, Täter, die Grausames getan haben, als Monster oder Bestien zu bezeichnen. Warum tun wir das? Weil wir nicht begreifen, wozu unsere Spezies fähig ist, welche Grausamkeit in jedem von uns steckt. Bei dem einen bricht es aus, während der andere es im Zaum halten kann. Deswegen dehumanisieren wir die Täter und setzen sie mit wilden Tieren gleich.“
„Was wollen Sie mir damit sagen, Professor?“
„Dass der Täter menschlich war. Und dass mutmaßlich sein Glaube an eine höhere Macht ihn zu dieser Tat getrieben hat. Im Übrigen ist die Religion auch eine Erfindung der Menschheit.“
„Aber eine friedliche Demonstration gegen europäische Waffenexporte als Angriffsziel?“
„Was soll ich sagen? Wenn Sie die Internetpropaganda islamistischer Organisationen verfolgen, werden Sie feststellen, dass die Tat in Portugal die logische Konsequenz des entschlossenen Krieges gegen solche Organisationen ist.“
„Sie meinen, dass wir daran schuld sind?“
„Mitnichten. Ich befürworte schon lange ein noch entschlosseneres Vorgehen gegen Islamisten. Was ich damit sagen will, ist, dass Terrorismus Theater ist. Ein Heischen nach größtmöglicher Aufmerksamkeit, um das Ziel, Angst und Schrecken zu verbreiten, zu erreichen. Groß müssen die Anschläge sein. Spektakulär wie der 11. September. Aber das erfordert einen unermesslichen logistischen Aufwand. So etwas kann eine Terrororganisation nur leisten, wenn sie in der Blüte ihrer Macht steht. Geht ihr Stern unter, müssen andere Ideen her, wie man Terror verbreiten kann. Das kann man gut an der Propaganda des sogenannten Islamischen Staats erkennen. Zuerst protzig mit einem mehr oder minder bekannten Rapper, der Naschids in deutscher Sprache machte. Aber dann, immer kleiner werdend, wurden Lone-Wolf-Anschläge auf weiche Ziele propagiert.“
„Lone-Wolf-Anschläge? Weiche Ziele?“ Brigitta runzelte die Stirn.
„Der Terrorist als einsamer Wolf. Radikalisiert im Internet. Ohne direkten Kontakt zu anderen Mitgliedern der Gruppe. Für Sicherheitsbehörden absolut nicht kontrollierbar. Es grenzt an ein Wunder, wenn diese Männer und Frauen vor ihrer Tat enttarnt werden können. Aufzuhalten sind sie nicht. Eine unglaublich simple, aber effektive Idee. Und solche Menschen greifen zivile Ziele an. Sie sind dort, wo es keine wirksamen Sicherheitsvorkehrungen gibt. Wo es für unser Verständnis auch keine geben sollte. Kindergärten oder Schulen, Volksfeste, Sportveranstaltungen oder Einkaufszentren. Überall dort, wo sich die Kuffar sicher fühlen. Mit dem Ziel, dass wir uns nirgends mehr sicher fühlen können.“
Brigitta wollte etwas sagen, aber die Regie gab Anweisung über ihren In-Ear-Kopfhörer. „Ich höre gerade, dass wir eine Liveschaltung haben.“
Sie blickte wieder zu dem kleinen Bildschirm vor sich. Auf diesem war Juan da Silva zu sehen, der ein betroffenes Gesicht machte. Zu betroffen, als dass es echt sein könnte, fand Brigitta. Außerdem kannte sie Juan. Ein arrogantes und karrieregeiles Arschloch, das für eine Story seine eigene Oma umbringen würde.
„Bin ich auf Sendung?“ Juan blickte in die Kamera.
„Sie sind live im Studio. Können Sie uns etwas über die aktuelle Lage in Monchique sagen?“
„Das kann ich.“ Juan nickte. „Unsere schlimmsten Befürchtungen sind wahr geworden. Vor wenigen Minuten erreichte ein Bekennervideo das portugiesische Innenministerium. Die Terrororganisation LFOS reklamiert den Anschlag für sich. Details sind nicht bekannt, aber es wird gemunkelt, dass die Terroristen Bezug auf das militärische Engagement der portugiesischen Regierung im Sudan nehmen. Es wird wohl auch mit weiteren Anschlägen in europäischen Ländern gedroht.“
„Die LFOS? Darunter kann ich mir nichts vorstellen.“ Brigitta blickte Professor Liebknecht an.
„Die Liberation Fighters of Sudan. Im internationalen Kontext bisher eine eher unbedeutende Terrororganisation, deren Ziel die Errichtung eines islamischen Staats im Sudan ist.“ Liebknecht wischte sich über die Stirn.
„Also eine eher territorial ausgerichtete Organisation. Dann stellt sich die Frage, warum sie einen Anschlag in Europa verübt hat.“
„Schauen Sie sich die politische Lage im Sudan an. Vor fast einem Jahr wurde Präsident Yayah al-Salhi durch seine eigenen Militärs gestürzt. Eine Folge der anhaltenden Bürgerproteste in der Hauptstadt Khartum. Aber dadurch änderte sich für die Menschen nichts. Der aktuelle Machthaber, General Salim Nasir, ist ein noch schlimmerer Despot. Er führt die Politik der letzten dreißig Jahre mit eiserner Hand fort. Rufe nach einer zivilen Regierung werden mit Waffengewalt zum Schweigen gebracht. Und was machen die Vereinten Nationen? Sie schicken Blauhelme und humanitäre Hilfe. Ich will das nicht kleinreden, aber das sind nur Tropfen, die verdampfen, bevor sie überhaupt auf dem heißen Stein ankommen.“
„Und Sie glauben, islamistische Organisationen nutzen die Zeit der Schwäche aus, um an die Macht zu kommen?“
So etwas wie ein Lächeln huschte über Liebknechts Lippen. „Würden Sie das nicht tun? Ich würde, wenn ich könnte. Das ist die Chance, die politische Landschaft eines Landes zu meinen Gunsten zu ändern. Ich muss nur unliebsame Mitspieler ausschalten. Solche Terrorakte, wie wir sie gestern Abend in Portugal erleben mussten, sind sehr gut dazu geeignet.“
„Erklären Sie mir das bitte.“
„Der Sudan ist weit weg. Europa kämpft mit sich selbst. Wir haben genug eigene Probleme. Der Brexit war nur der Anfang. Wir haben einen erstarkenden Rechtspopulismus. Politiker, die bereit sind, für den eigenen Profit ihr Land zu verraten, um es dann regieren zu können. Denken Sie an die Ibiza-Affäre. Russland und China erstarken weiter auf dem wirtschaftlichen Sektor. Die USA werden von einem Narzissten regiert, der Anfang des letzten Jahrhunderts gut zu den Diktatoren aus Deutschland, Italien oder Russland gepasst hätte. Diese Probleme sind es, die uns Europäer umtreiben. Was interessiert uns eine humanitäre Krise im Sudan? Wir wollen, dass unsere Geldbeutel voll sind, genauso wie unsere Kühlschränke. Und jetzt sterben Kinder für einen sich anbahnenden Bürgerkrieg, der uns nicht interessiert. Was glauben Sie, wie wird sich jetzt die öffentliche Meinung in Bezug auf ein Engagement im Sudan verändern?“
„Aber es kann doch niemandem egal sein, wenn ein neues Kalifat entsteht. Der Sudan ist reich an Bodenschätzen, von denen auch wir Europäer profitieren.“
„Tun wir das wirklich? Und selbst wenn, die meisten Menschen haben heutzutage eine Aufmerksamkeitsspanne, die kaum die Länge eines YouTube-Videoclips hat. Schauen Sie mal rein. Da gibt es Menschen, die ihre Einkäufe filmisch festhalten. Solche Beiträge werden tausendfach angeklickt. Was erwarten Sie denn von dieser Generation, in der ›YouTuber‹ und ›Influencer‹ die Berufswünsche junger Menschen sind? Dass sich diese Jugendlichen mit geopolitischen Zusammenhängen auseinandersetzen? Dass sie verstehen, dass ein neuerliches Kalifat, wie immer es auch benannt wird oder welche Islamisten es führen, eine akute Bedrohung für unsere Demokratie ist?“
„Ich habe mal gelesen, dass in der islamischen Vorstellung die Welt in drei Bereiche unterteilt ist. Ist das richtig?“
Liebknecht nickte. „Grundsätzlich ja, aber der Salafismus zum Beispiel lehnt diese Dreiteilung ab, denn im Frühislam, auf den sich der Salafismus per Definition stützt, gab es nur zwei sogenannte Häuser: das Dar al-Islam, das Haus des Islam, in dem die Muslime die Herrscher sind und das es immer weiter auszubreiten galt, und das Dar al-Harb, das Haus des Krieges, der Herrschaftsbereich der Nicht-Muslime, den es zu bekämpfen galt, um das Dar al-Islam weiter auszubreiten. Im Laufe der Zeit konstruierten Islamgelehrte das Dar al-Ahd, das Haus des Vertrages. Nur durch dieses Konstrukt war es möglich, dass Muslime und Anhänger anderer Glaubensrichtungen friedlich nebeneinander leben konnten. Islamisten lehnen das Dar al-Ahd ab, denn der Islam ist eine Religion mit Weltherrschaftsanspruch.“
„Also sind alle Muslime Terroristen?“
Liebknecht schüttelte den Kopf. „Ich glaube, ich habe das schon einmal gesagt, aber ich sage es gerne wieder. Was für eine Welt wäre das, in der fast zwei Milliarden potenzielle Terroristen leben? So viele Muslime gibt es nämlich auf der Welt. Und bei den zwei Milliarden wären Ökoterroristen, Nazis, Anarchisten, Separatisten, christliche Spinner und sonstige Terroristen noch gar nicht mit eingerechnet.“
„Aber Sie sagten doch, dass der Islam einen Weltherrschaftsanspruch …“
„Das sagte ich, ja. Das muss man wissen, um die extremen Islamisten zu verstehen. Es ist wichtig zu wissen, in welcher Vorstellungswelt diese Menschen leben, damit sie wirksam bekämpft werden können. Und der Großteil der Muslime lebt einfach nur seinen Glauben aus. Sie sind keinesfalls extremistisch. Islam und Islamismus sind zwei grundlegend unterschiedliche Dinge.“
Brigitta bekam eine Regieanweisung. Ihre Sendezeit war um. „Eine letzte Frage noch. Übermorgen findet in Dortmund das Fußball-Länderspiel zwischen Deutschland und England statt. Müssen wir uns Sorgen machen?“
„Wie ich gesagt habe: Terrorismus ist Theater. Die Augen der Welt sind auf das Spiel gerichtet.“
„Ich danke Ihnen für das Gespräch, Professor Liebknecht.“ In die Kamera gewandt sagte sie: „Herzlichen Dank fürs Zuschauen und für Ihr Interesse. Trotz der schrecklichen Ereignisse in Portugal wünsche ich Ihnen einen schönen Tag.“
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