Knochen im Kehricht (Eifel-Krimis 4) - eBook-Ausgabe
Ein Eifel-Krimi
„Martina Kempff gelingt es, ihre spannende Handlung geographisch-historisch zu verorten und trotzdem zum allgemeingültigen Gleichnis zu machen.“ - Westfalenpost
Knochen im Kehricht (Eifel-Krimis 4) — Inhalt
In der Feuerstelle wird bei der Sanierung von Katja Kleins Bruchsteinhaus auf der Kehr eine Leiche gefunden – oder vielmehr das, was von ihr übrig blieb: Knochen. Wer war dieser geheimnisvolle Mann, der schon in den Fünfzigerjahren dort eingemauert wurde? Ein Schmuggler? Ein Zöllner? Ist er etwa von Katjas Vater ermordet worden? Während Polizeiinspektor Marcel Langer diesen Fragen nachgeht, gibt es eine weitere Leiche. Diesmal aber eine ganz frische.
Leseprobe zu „Knochen im Kehricht (Eifel-Krimis 4)“
Ernst Moritz Arndt über die Eifel:
Vergangen ist nicht manches Jahr,
Da Eif’ler sein, nicht ruhmvoll war;
Sein Land, wie Petrus einst den Herrn,
Verleugnete der Eif’ler gern.
Denn Eifel hieß, was rauh und kalt,
Was öd und arm, von Sitten alt,
Was nicht geweckt, und was nicht fein;
Drum wollte niemand Eif’ler sein.
Die Zeiten haben sich geändert. Im Zeichen der Regionalmarke Eifel nennen sich heute selbst Zugezogene schnell Eifeler. Dennoch verleugnet eine Person in dieser Geschichte ihre Eifeler Herkunft …
Für Alfred Heintges, den Freund für alle Fälle,
ins [...]
Ernst Moritz Arndt über die Eifel:
Vergangen ist nicht manches Jahr,
Da Eif’ler sein, nicht ruhmvoll war;
Sein Land, wie Petrus einst den Herrn,
Verleugnete der Eif’ler gern.
Denn Eifel hieß, was rauh und kalt,
Was öd und arm, von Sitten alt,
Was nicht geweckt, und was nicht fein;
Drum wollte niemand Eif’ler sein.
Die Zeiten haben sich geändert. Im Zeichen der Regionalmarke Eifel nennen sich heute selbst Zugezogene schnell Eifeler. Dennoch verleugnet eine Person in dieser Geschichte ihre Eifeler Herkunft …
Für Alfred Heintges, den Freund für alle Fälle,
insbesondere für die schrägen
PROLOG oder DER ANFANG VOM ENDE
Der Dezembernebel hat die Grenze zwischen Deutschland und Belgien verwischt. Dennoch kann ich in der diffusen Beleuchtung vor der Einkehr drei fremde Fahrzeuge ausmachen. Ich widerstehe der Versuchung, mich mit dem geliehenen Allradmonster an diesem frühen Abend meines freien Tages danebenzustellen. Was mir sehr schwerfällt. Nicht, weil ich nachsehen will, ob Gudrun, David und Regine tatsächlich drei Wagenladungen voller Gäste bedienen, was bei solch garstigem Wetter zu so früher Stunde gar nicht schlecht wäre, sondern weil ich ganz gern die Stimmung zwischen ihnen peilen würde. Die war in den vergangenen Wochen nämlich ziemlich angespannt. Irgendetwas ist zwischen diesem Trio vorgefallen, das mehr als zwei Jahre lang reibungslos und freundschaftlich mit mir in meinem Laden zusammengearbeitet hat.
Nicht, dass plötzlich Streit ausgebrochen wäre, ganz im Gegenteil. Man geht ausgesucht höflich miteinander um, ein sehr bedenkliches Zeichen. Die üblichen Sticheleien bleiben aus. Ich vernehme keine dem Stress geschuldeten Bissigkeiten mehr, niemand knallt dem anderen irgendetwas hin oder vor, keiner tobt in der Küche, nicht einmal über Gäste wird gelästert, und alle tischen kommentarlos auf, was ich komponiere. Gerade das beunruhigt mich außerordentlich. Also ließ ich bei der letzten Menübesprechung einen Versuchsballon steigen und wurde sehr nachdenklich, als nicht ein Einziger Zeter und Mordio schrie. Ich hatte vorgeschlagen, unser – man beachte das beschwörende Gemeinschaftswort – Formenkünstler David solle ein Stück Schweinefleisch in Form eines erlegten Mannes mit Hut als Jägerschnitzel zurechtschnippeln, das man hübsch angerichtet mit Pilz-Ketchup-Soße und einem Karottengewehr an Petersilienmoos servieren könne.
David hat deutsch-englisch herumgestottert und Gudrun mir allen Ernstes erläutert, dass die Fasern des Fleisches keine Möglichkeiten zu solch künstlerischer Entfaltung böten. Regine merkte entschuldigend an, wenn ein totes Tier auf dem Teller wie ein toter Mensch aussähe, würde niemand einen Bissen runterkriegen, und dann müssten wir alles wegwerfen, was doch unserer Philosophie der Bewahrung entgegenstünde. Das letzte Fünkchen Humor ist wie weggefegt und das Lächeln meiner Bedienung so künstlich wie überall dort, wo ich nicht sein mag.
Alarmstufe Rot also. Was nur hat mein Dreierteam so aus der Fassung gebracht? Es gelingt mir nicht einmal, von der treuen Gudrun, die ansonsten nie etwas für sich behalten kann, ins Vertrauen gezogen zu werden. „Alles okay“, antwortet sie ständig; ein deutlicher Hinweis, dass überhaupt nichts okay ist. Meine Versuche, das vermutlich finstere Geheimnis dieser angespannten Freundlichkeit zu lüften, prallen an einer Wand des Entgegenkommens ab.
Die Atmosphäre in meinem kleinen Eifeler Gasthof an der Grenze zu Belgien erinnert mich an das Berlin, in das ich hineingeboren worden bin: Es herrscht Kalter Krieg, und zwischen den Menschen ist eine Mauer errichtet worden. Jeder geht seinen alltäglichen Verrichtungen nach, aber keiner scheint sich in seiner Haut wohl und sicher zu fühlen. Man belauert sich gegenseitig; fragt sich, ob man einfach abhauen kann oder ob der andere einen etwa im Stich lassen wird, weil er nicht auf neue Rosinenbomber vertrauen mag, die, wie man ja heute weiß, auch Napalm abwerfen könnten. Aber immerhin ist der Ami noch da, nämlich David. Der wird schon nicht zulassen, dass das Böse das neu Zusammengewachsene entzweit; er ist das Bindeglied zwischen den beiden Frauen, was eine vielleicht unglückliche, aber dadurch nicht weniger zutreffende Formulierung ist.
Da in meiner Gegenwart nichts ausgesprochen wird, bastele ich mir eine eigene Erklärung zurecht: David erwägt die Flucht aus einem Eifeler Leben, das er sich anfangs wohl angenehmer vorgestellt hat, Regine neidet ihm diese Freiheit und hat vielleicht gar Ansprüche angemeldet, während sich Gudrun vermeintlich behaglich eingerichtet hat, die Bedürfnisse der beiden anderen ignoriert und betet, dass sich bloß nichts ändern möge.
Mit Engelszungen habe ich vor zwei Jahren auf die drei eingesäuselt, um ihnen das Zusammenziehen auszureden. Es schaffe doch nur Unfrieden, Berufliches und Privates derart zu vermischen, hatte ich gesagt und musste mir dann gefallen lassen, ausgelacht zu werden. Was sie bei mir verdienten, reichte selbst in diesem abgelegenen kostengünstigen Teil der Schnee-Eifel, kurz Schneifel genannt, nicht für eigene Wohnungen. Warum sollte man sich den Kopf über ein anderes Dach machen, wenn man ein geräumiges leer stehendes Haus zur Verfügung habe – zugegeben, ein Haus mit einer sehr bösen Geschichte. Aber Gudrun ist darin aufgewachsen, und ihr Lebensgefährte David hat es geerbt. Regine, die Mutter seines Sohnes, der gerade in den USA das Studium der Tiermedizin aufgenommen hat – oder aufgeholt, wie sie als Eifelerin sagt –, kann darin auch noch ihren neuen Freund unterbringen; falls sich dieser je dazu aufraffen könnte, die Wohngemeinschaft mit seiner resoluten älteren Schwester Frieda in Buchet aufzugeben. Die im Übrigen darin auch noch Platz finden könnte, aber dann bestimmt das Kommando übernehmen würde. Schwer vorstellbar, dass sich Gudrun sagen lassen würde, wann die Fenster geputzt werden sollten.
Das Haus sei groß genug, um sich darin aus dem Weg gehen zu können, hatte David gesagt, als sie noch zu dritt waren. Und Regine hatte darauf hingewiesen, dass sie nur so ihr Geld zusammenhalten könnten. Unvorsichtigkeit bei privaten Ausgaben kann zu Mord und Totschlag führen. Das haben wir alle vor zwei Jahren hautnah miterlebt, vor allem Hein und Jupp. Die beiden sind erst heute Mittag von ihrem langen Mykonosaufenthalt zurückgekehrt und werden über den allgemeinen Stimmungsumschwung bestimmt genauso erschrocken sein.
Womöglich haben sie den sogar schon mitbekommen, als sie heute Mittag vor der Einkehr Heins Rote Zora abgeholt haben. Der Sportwagen, den sie mir während ihres Urlaubs wegen der Unzuverlässigkeit meines eigenen Uraltgefährts zur Verfügung gestellt haben, eignet sich allerdings nicht zum Transport von Weinkartons aus Cochem. Deshalb war ich zwar durchaus dankbar, als mir Karl-Heinz Jenniges gestern das Ungetüm zum mehrtägigen Probefahren vor die Tür gestellt hat, aber ich sagte ihm gleich, dass ich dieses Angeberauto nie im Leben kaufen würde. Karl-Heinz blieb unbeeindruckt. Vierradantrieb brauche man in diesem Teil der Eifel nicht zum Angeben, beteuerte er, sondern zum Durchkommen. Ich würde schon sehen. Für die nächsten Tage seien schließlich heftige Schneefälle angekündigt. Er könne es nicht mehr mit seinem Gewissen vereinbaren, meinem dem Tod geweihten alten Auto mit ständig neuen Ersatzteilen künstlich das Leben zu verlängern.
Zugegeben, in diesem Wagen ist die Fahrt nach Cochem so komfortabel gewesen, dass ich meinen Plan, dort zu übernachten, spontan über den Haufen geworfen habe. Auch weil Marcel nicht mitgekommen und Herbert in seinem Hotel mit einer Hochzeitsfeier zu beschäftigt gewesen ist, um Zeit für ein Schwätzchen zu haben. Ich lenkte also gleich nach meiner Einkaufstour das Monster wieder heimwärts.
Und biege jetzt links von der B 265 auf belgisches Hoheitsgebiet ein. Vor meinem alten Bruchsteinhaus stelle ich den Motor ab; immer noch unschlüssig, ob ich nicht doch die Bundesstraße überqueren und in Deutschland nach dem Rechten sehen sollte.
Dann fällt mir wieder ein, was mir Marcel gestern gesagt hat, als ich Zweifel äußerte, ob ich mir angesichts des unerfreulichen Betriebsklimas heute wirklich freinehmen sollte: „Du musst mal lernen, nicht immer alles kontrollieren zu wollen.“
Er hat recht. Den Wein aus Cochem kann ich auch morgen im Restaurant abladen; er braucht nach der langen Fahrt vermutlich genauso viel Ruhe wie Linus Auslauf. Der schwarze Riesenhund beginnt schon ungeduldig zu bellen. Während der ganzen Fahrt hat der Labrador mit den zusätzlichen Staffordshireterrier-Genen höchstens fröhlich gefiept, weil er neben mir sitzen durfte, womit ich fünfzig Euro Bußgeld und drei Punkte in der Verkehrssünderkartei Flensburg riskiert habe, dafür aber im Kofferraum mehr Weinkartons unterbringen und Linus beglücken konnte.
Während ich für den Privatgebrauch eine Flasche aus einem Karton ziehe, hebt der Hund kurz das Bein an meiner neu eingepflanzten Birke. Dann rennt er mir voraus, stößt mit der Schnauze die Tür auf und verschwindet im Haus. Ich schicke einen wütenden Blick über die Straße. Wer hat da wieder einmal nicht abgeschlossen? Und schlimmer noch, die Tür nicht einmal richtig zugezogen! Das ist ja wohl das Mindeste, was ich verlangen kann, wenn jemand in meiner Abwesenheit mein Haus betritt! Oder sollte der Ofenbauer doch gekommen sein und am Kamin arbeiten? Aber wo hat er sein Auto gelassen? Außerdem müsste dann im Haus Licht brennen.
Laut bellend stürmt Linus wieder hinaus. Er stößt mich fast um, als er wie vom Teufel gejagt über die Bundesstraße zur Einkehr hetzt. Was ist mit dem Tier los? Seit wann stürzt es sich nach einer Fahrt des Darbens nicht als Erstes auf die in der Küche bereitstehenden Leckerlis?
Noch beschleicht mich keine böse Ahnung. Die kommt erst auf, als ich sehe, dass die Wohnzimmertür sperrangelweit offen steht. Wegen der staubigen kleinen Baustelle halte ich sie jetzt immer verschlossen.
Ungehalten knipse ich das Licht an.
Schock überwältigt mich. Die Flasche rutscht mir aus der Hand und schlägt polternd auf die Holzdielen auf. Ich sinke ebenfalls zu Boden. Meine zitternden Knie können den Doppelzentner meines Leibes nicht mehr tragen. Ich versuche, mich aufzurichten, schaffe es aber nur auf alle viere, recke den Kopf weit vor und schnappe nach Luft.
Diese Schuhe, denke ich nur, warum müssen es ausgerechnet diese Schuhe sein?
Ich kann meinen Blick nicht von diesen Schuhen lösen. Sie lugen unter meiner großen weißen Mohairdecke hervor. Diese ist um einen menschlichen Körper gewickelt, mit Paketband fest verklebt und am Kopfende blutrot eingefärbt. Darunter gibt es kein Leben mehr.
Das tote Bündel liegt transportbereit vor dem Loch in der Wand. Da, wo mein Kamin hinkommen soll, da, wo wir vor vielen Wochen einen grausigen Fund gemacht, die Überreste eines Menschen entdeckt haben, der vor über einem halben Jahrhundert nach seiner Ermordung dort eingemauert worden ist.
Ich starre auf die Schuhe. Die hat kein fremder Unbekannter getragen. Einer von uns ist ermordet worden, einer aus meinem engsten Kreis. Ich kenne diese Schuhe.
Wie auch die Stimme aus dem Flur, die durch die Stille des Hauses peitscht: „Katja! Nicht in Cochem? Was machst du denn schon hier?“
Ich will schreien, aber ich bringe keinen Ton hervor.
BUCH 1_ VORHER
KAPITEL 1
Hühnersuppe
mit Karotten, feinen Lauchringen, Ingwer, Zitronengras, klein gehackten Zwiebeln, Koriander, Chilischoten, einem Hauch Knoblauch, braunem Zucker, Sherry, Kokosmilch, einer Prise Kreuzkümmel, Kurkuma und frischen Orangen
Oktober
Niemand weiß, wo die Gans hergekommen ist. Sie ist einfach da, steht frühmorgens keck erhobenen Hauptes auf den Stufen meines Restaurants und schnappt nach jedem, der sich der Tür nähert. Linus hat schon beim ersten Zischlaut seine Kampfhundgene vergessen und das Weite gesucht.
„Freches Biest“, beschimpft Gudrun den Entenvogel und wagt beherzt einen weiteren Vorstoß. Doch auch die landwirtschaftlich Geschickteste unter uns muss sich wieder zurückziehen. Unter dem Triumphgeschnatter einer Gans, die weiß ist und viel wilder als all ihre grauen Artgenossen, die uns Konrad Lorenz nahegebracht hat.
„Wir sollten den Jäger anrufen“, schlägt Hein vor, was Jupp zum Glück nicht hört, da er mit dem Handy am Ohr zur Seite getreten ist, um sich bei den Bauern der Nachbarschaft nach einer abgängigen Gans zu erkundigen.
„Hol lieber einen Besen!“, schnauzt ihn Gudrun an.
„In zwei Monaten ist Weihnachten“, fährt Hein fort. „Wir könnten sie einfrieren …“
„Mit einer Kugel im Kopf?“, fragt Regine empört. „Wir müssen geduldig sein. Die Gans kann nichts dafür, dass sie eine Gans ist. Sie glaubt, dass sie dieses Haus bewachen muss.“
„Wir sind hier doch nicht im alten Rom“, werfe ich ein.
„Was hat das damit zu tun?“, fragt Regine.
„Da haben Gänse das Kapitol bewacht.“ Meine Allgemeinbildung trägt zwar nicht dazu bei, unser praktisches Problem zu lösen, untermauert aber hoffentlich meine Autorität. Diese wird von dem Federvieh vor dem Eingang auf eine harte Probe gestellt. Also setze ich noch einen drauf: „Und für die alten Ägypter war die Gans ein Bote, der zwischen Himmel und Erde vermittelte.“
„Was du alles weißt.“ Gudrun erbleicht. „Vielleicht will uns Heins Vater aus dem Jenseits etwas ausrichten lassen?“, flüstert sie erschauernd. „Dass hier wieder was Schlimmes passieren wird? Vielleicht ist die Gans ein schlechtes Zeichen?“
„Wir sind hier nicht im alten Ägypten“, sagt David und legt ihr schützend einen Arm um die Schulter.
„Die Zeiten sind zum Glück vorbei“, erkläre ich und meine damit nicht das alte Ägypten. „Heute steht die Gans für Harmonie; sie symbolisiert friedliches Zusammenleben unter Freunden.“
Das habe ich zwar gerade erst erfunden, aber Zeichen entstehen bekanntlich durch ihre Deutung. Es kann nicht schaden, meinen Mitarbeiterfreunden ein friedliches Zusammenleben zu prophezeien.
„Ganz lieb sein“, säuselt Regine plötzlich. Sie hat sich in respektvollem Abstand vor die drei Stufen hingehockt und leise zu singen begonnen. „Schöne Nicolina, feine Nicolina, brave Nicolina.“
„Die spinnt, die Regine!“, bemerkt Hein anerkennend, als die Frau mit dem feurigen Haar immer weiter singend näher an die Gans heranrückt. Wir sind alle ganz still.
„Keine Gans bei niemand weg!“, ruft Jupp uns plötzlich laut zu.
„Psscht!“, fahren wir ihn an. Regine befindet sich jetzt auf gefährlicher Augenhöhe mit der Gans. Die hat das Schnattern eingestellt, sieht Regine aus ihren Knopfaugen geradezu treuherzig an und beginnt sich leicht im Takt zu wiegen.
„Schöne Nicolina, süße Nicolina, weiße Nicolina, treue Nicolina …“
Regine streckt die Arme langsam aus. In der Hocke nimmt sie erst die drei Stufen und dann sehr behutsam die Gans auf den Arm.
„… meine Nicolina!“, beendet sie ihr Lied und streichelt das weiße Tier. Es sieht jetzt so harmlos aus, dass wir uns alle in Grund und Boden schämen.
„Du hast ihr einen Namen gegeben“, bemerkt Hein vorwurfsvoll. „Jetzt können wir sie nicht mehr essen. Warum Nicolina?“
„Klingt nach Gans.“
„Vielleicht ist es ja ein Ganter?“
„Schau doch nach.“
Regine hält ihm die Gans hin.
Hein lehnt dankend ab.
„Was machen wir jetzt mit ihr?“, frage ich und deute auf die Straße. „Wir können sie nicht frei rumlaufen lassen, sonst wird sie von rasenden Belgiern plattgemacht.“
Jupp bietet sich an, in dem abgezäunten Teil hinter meinem Haus einen kleinen Unterstand für Nicolina zu bauen und eine Zinkwanne herbeizuschaffen.
„Gänse brauchen Wasser. Lass jetzt bloß immer den Deckel auf deinem Whirlpool.“
„Gänse sind wie Schwäne“, sagt Gudrun später in der Küche. „Sie bleiben einander bis zum Tode treu.“
„Und die einsam Hinterbliebene sucht sich ausgerechnet mein Restaurant aus, um ihr Klagelied anzustimmen.“
„Es ist schlimm, wenn der Partner stirbt.“ Gudrun drückt bedeutungsvoll die Finger in den Teig für die Dattel-Roquefort-Pizza mit Speck. „Wahrscheinlich ist sie vor Kummer fortgeflogen. Sonst hätten wir ja zwei Gänse. Aber es ist schon ein großes Glück, überhaupt einen Mann gehabt zu haben, Regine.“
„Unsinn“, widerspricht die. „Ich zum Beispiel brauche keinen Mann.“
„Doch. Du willst es nur nicht zugeben. Es ist nicht gut, wenn der Mensch allein ist. Das gilt auch für dich, Regine. Du musst deinem Glück auf die Sprünge helfen. Manchmal kommt es nicht von allein.“
Sie nickt beseligt zum Küchenfenster hinüber, vor dem sich David immer noch vergeblich müht, meinem uralten Wagen auf die Sprünge zu helfen. Mit dem wage ich mich schon gar nicht mehr in die Werkstatt von Karl-Heinz, weil er mir inzwischen jedes Mal zu einem Allradmonster rät, das mich garantiert nicht im Stich lassen, sondern zuverlässig durch den kommenden Eifelwinter schleusen würde. Aber so ein Ding kommt mir nicht vors Haus.
„Der Richtige“, fährt Gudrun fort, „schneit eben nicht jedem so wie mir einfach ins Haus.“
Sie klatscht den Teig auf die Anrichte, greift zur Nudelrolle und walkt die Masse, was das Zeug hält.
Gefährliches Terrain, denke ich, schließlich muss Regine David einst auch für den Richtigen gehalten haben. Bis er sich vor sehr vielen Jahren aus dem Eifeler Staub wieder nach Texas aufgemacht hat, allerdings ohne zu wissen, dass Regine sein Kind erwartete, den inzwischen erwachsenen Daniel.
Als die feuerhaarige Regine vor mehr als zwei Jahren bei uns auf der Kehr auftauchte, war allerdings schon viel Wasser die Kyll hinuntergeflossen. Sie stellte David seinen Sohn vor und weiter keinerlei Ansprüche an den Mann, der damals mit Gudrun in einer Hinterkammer meines Restaurants lebte. Er übernahm Verantwortung für Daniel und schickte ihn nach den fürchterlichen Ereignissen rund um den einstigen Gnadenhof auf der Kehr zur Großmutter nach Texas. Dort hat der Junge auf dem College seinen Schulabschluss gemacht und widmet sich jetzt dem Studium der Tiermedizin, um aus seiner Leidenschaft irgendwann einen Beruf zu machen.
Jene dramatischen Ereignisse haben Regine, David, Gudrun, Hein, Jupp und mich damals zusammengeschweißt. Die Arbeit in meinem Restaurant verschaffte uns allen ein bescheidenes Auskommen, und alles war gut. So gut, dass sich Gudrun, David und Regine in dem frei gewordenen Hof von Davids Vorfahren, der übrigens auch einmal Gudruns Vater gehört hatte, zu einer Wohngemeinschaft zusammenschlossen.
Zwei Frauen und ein Mann. Der sich mit der einen ein Kind und mit der anderen das Bett teilt. Bei aller Freundschaft hielt ich das für eine bedenkliche Konstellation und mit meiner Meinung nicht hinter dem Berg.
„So kleinkariert sind wir nicht“, zwitscherte Gudrun unter dem Beifall der beiden anderen. Die zwei Frauen, die nie aus der Schneifel herausgekommen waren, und der Mann aus dem Herzen von Texas musterten mich wie das konservierte Relikt einer versunkenen Werterepublik und versicherten, keiner von ihnen hätte mit dieser Situation auch nur das geringste Problem. Also wurde, wie in solchen Fällen üblich, ein gewichtiges hervorgerufen: Für Regine musste ein Mann her, fand Gudrun, und zwar schnell.
Aus Gründen des Proporzes oder der Prophylaxe? Das frage ich mich, aber natürlich nicht sie. Gudrun würde niemals zugeben, sich ihres Texaners so lange nicht sicher zu sein, wie sich das Wörtchen Heirat seinem Deutsch verweigert. Da es Regine aber ablehnt, Trierer, Prümer oder Bitburger Discos sowie Floh-, Wochen- und Mittelaltermärkte abzugrasen, hat Gudrun eine eigene Frau-sucht-Bauern-Castingshow eröffnet. Seitdem scheucht sie alle willigen Junggesellen im näheren Umkreis in die Einkehr. Was den Umsatz kaum mehr steigert als Regines Lust. Keiner der Kandidaten – ganz gleich, wie groß Hof, Mann oder Begeisterung für das Projekt – hat ihr bislang ein Lächeln ins Gesicht zu zaubern vermocht. Ihre Widerborstigkeit verschlägt jedem den Appetit, und so bleibt es bei einem hastig heruntergestürzten Bier und einer in ihrer Mission gescheiterten Gudrun.
„Wenn ein Mann Glückssache ist, bleibe ich doch lieber solo“, spricht mir jetzt Regine aus dem Herzen. Ich selbst bin zwar nur eingeschränkt solo, aber mit der Massenware, zu der die Sache Glück inzwischen am Bahnhofsbuchständer verkommen ist, hat meine Beziehung zu Marcel nichts zu tun.
„Keine Männer mehr, Gudrun!“, schnaubt Regine. „Den nächsten jage ich gleich vom Hof!“ Drohend hebt sie das Messer, mit dem sie gerade Kalbsleber in Streifen schneidet. Ein blutiger Schnitz fällt ab, als sie zum Fenster blickt und überrascht ruft: „Nanu, wer ist das denn?“
Wir folgen ihrem Blick. Ein fremder grauhaariger Mann redet neben der offenen Motorhaube eindringlich auf David ein.
„Viel zu alt für dich“, antwortet Gudrun automatisch.
„Aber nicht für unseren Mittagstisch.“ Regine wirft das Messer auf die Anrichte und rückt näher ans Fenster heran. „Schaut mal, er hat sogar eine ganze Reisegruppe mitgebracht! Ist wohl der Fahrer und will was mit David aushandeln.“
„Ein aberwitziger Plot, sprachlich sehr witzig.“
„Martina Kempff gelingt es, ihre spannende Handlung geographisch-historisch zu verorten und trotzdem zum allgemeingültigen Gleichnis zu machen.“
„Mit Sinn für Humor, gewürzt mit einer nicht geringen Prise Ironie.“
„Stimmiges Lokalkolorit und sehr viel Spannung.“
„Ein liebenswertes regionales Ermittlergespann.“
„Martina Kempff schafft es (...), den Spannungsbogen bis zum Ende aufrecht zu erhalten, während sie mit Humor und Charme dem Leser die Charaktere der Eifel und ihre Schicksale im Dreiländereck näher bringt.“
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