Krähenmutter Krähenmutter - eBook-Ausgabe
Thriller
— Der atemberaubende Auftakt zur Laura Kern-Reihe„Eine gute Story, die einen fesselt und mitreißt.“ - BIZZ!
Krähenmutter — Inhalt
Das Böse lauert immer hinter einer freundlichen Maske. Catherine Shepherds Thriller lässt Sie garantiert nicht mehr schlafen!
Der sechs Monate alte Sohn eines einflussreichen Unternehmers wird aus einem Supermarkt entführt. Spezialermittlerin Laura Kern steht vor einem Rätsel, denn es gibt keine Lösegeldforderung. Kurz darauf verschwinden weitere Babys, ohne jede Spur. Als dann auch noch ein altbekannter Serientäter, der Berliner Pärchenmörder, wieder zuschlägt, spitzt sich die Lage zu. Laura Kern gerät in einen gefährlichen Strudel von Ereignissen, die einen Albtraum aus ihrer Vergangenheit erneut zum Leben erwecken. Ein Wettlauf mit der Zeit beginnt, und niemand vermag zu sagen, ob Laura die vermissten Kinder rechtzeitig finden wird.
Leseprobe zu „Krähenmutter“
I
Laura war wieder gefangen. Dicke Taue schlangen sich um ihre Knöchel und zogen sie unbarmherzig in die Tiefe. Ihre Lungen brannten und sie musste ihre gesamte Kraft aufbringen, um die Luft weiterhin anzuhalten. Sobald sie den Mund öffnete, würde das eiskalte Wasser in ihre Atemwege eindringen und sie ersticken. Laura strampelte panisch mit den Beinen. Tief unter ihr waren die verrosteten Eisengitter noch zu erahnen, die in den Grund des Sees gerammt waren. Sie hatte es die ganze Strecke bis hierher geschafft. Nur noch wenige Meter trennten sie von der [...]
I
Laura war wieder gefangen. Dicke Taue schlangen sich um ihre Knöchel und zogen sie unbarmherzig in die Tiefe. Ihre Lungen brannten und sie musste ihre gesamte Kraft aufbringen, um die Luft weiterhin anzuhalten. Sobald sie den Mund öffnete, würde das eiskalte Wasser in ihre Atemwege eindringen und sie ersticken. Laura strampelte panisch mit den Beinen. Tief unter ihr waren die verrosteten Eisengitter noch zu erahnen, die in den Grund des Sees gerammt waren. Sie hatte es die ganze Strecke bis hierher geschafft. Nur noch wenige Meter trennten sie von der Wasseroberfläche. Sie durfte jetzt nicht aufgeben.
Mit ihrem schmalen Mädchenkörper hatte sie sich durch den engen Kanal aus dem Gefängnis hinausgewunden. Es war ein fast übermenschlicher Akt an Willenskraft gewesen, doch schließlich hatte sie ihre schmächtige Gestalt so sehr zusammengequetscht, dass sie in das Rohr hineinpasste und sich auch noch vorwärtsbewegen konnte. Das Rohr hatte sie verborgen hinter einer Klappe in der oberen Ecke ihres Gefängnisses entdeckt. Am Anfang war es trocken gewesen, doch nach einem Knick, der in die Tiefe führte, füllte es sich mehr und mehr mit Wasser. Irgendwann musste sie die Luft anhalten und untertauchen. Das Rohr wollte einfach kein Ende nehmen. Doch Laura wusste, dass dies ihre einzige Chance auf Freiheit war, und kämpfte tapfer, bis sie eine Öffnung erreichte, die mit einem Eisengitter gesichert war. Durch einen schmalen Spalt hatte sie sich in den kalten See gezwängt.
Laura schwamm nach oben. Trotz der aufgepeitschten Wasseroberfläche konnte sie bereits den blauen Himmel sehen. Ihre Beine strampelten, die Arme ruderten. Der Druck in Lauras Oberkörper schwoll zu einem unerträglichen Schmerz an. Endlich konnte sie die Füße aus den Schlingpflanzen befreien und schoss pfeilschnell nach oben. Ihr Mund öffnete sich kurz vor der Wasseroberfläche. Ein Gemisch aus Luft und Flüssigkeit presste sich in ihre gierigen Lungen. Sie hustete und rang nach Atem.
Laura schreckte hoch und riss die Augen auf. Verwirrt starrte sie in die Dunkelheit ihres Schlafzimmers und tastete nach der Lampe auf dem Nachttisch. Der Lichtschein verjagte die Schatten ihres Albtraums. Laura war jetzt fast dreißig Jahre alt und noch immer verfolgten sie die Dämonen aus ihrer Kindheit. Mit elf Jahren war sie entführt und mehrere Tage in einem Pumpwerk gefangen gehalten worden, bevor ihr die Flucht gelang. Der Täter hatte sowohl die Gelenkigkeit als auch die Willenskraft seiner zierlichen Geisel unterschätzt. Soweit bekannt war, hatte er vor ihr schon mehrere Mädchen entführt, die jedoch nicht so viel Glück hatten wie Laura. Keine von ihnen war lebend wieder aufgetaucht. Mit zitternden Händen griff Laura unter das Kopfkissen. Das kühle Metall ihrer Dienstwaffe ließ sie erleichtert aufatmen. Mit der Waffe in der Nähe fühlte sie sich sicher. Sie zog die Hand zurück und ließ sich ins Kissen sinken. Dann tastete sie nach ihrem Schlüsselbein und ihre Finger verharrten auf den schwieligen Narben, die nach all den Jahren zu einem Netz aus unebenen Linien verwachsen waren. Bei ihrer Flucht hatte sich Laura in den Eisengittern, die die Rohranlage des Pumpwerks vor Verschmutzung schützen sollten, verfangen. Die verrosteten Metallstangen zerfetzten ihre Haut und das darunterliegende Gewebe. Laura spürte die Wunden erst, als sie das sichere Ufer erreicht hatte. Mit mehreren Operationen hatten die Ärzte versucht, ihre Haut zu retten. Doch eine Infektion machte den ersten Erfolg der Behandlung zunichte. Ein Teil der Haut musste durch ein Transplantat ersetzt werden, das von ihrem Oberschenkel entnommen wurde. Die OP-Narben waren der Grund, warum Laura nur lange Hosen und hochgeschlossene Blusen oder T-Shirts trug.
Auch wenn Laura selbst es nicht wahrnahm – sie war eine Schönheit. Ausdrucksstarke braune Augen in einem feinen Gesicht, gerahmt von blonden Locken und eine sportliche Figur. Nicht wenige Männer drehten sich auf der Straße nach ihr um. Doch Laura bemerkte von all dem nichts. Ihre Selbstwahrnehmung wurde von ihren körperlichen und seelischen Narben überschattet. Sie erlaubte sich lediglich ein bisschen Stolz auf ihren Intellekt und ihren Ehrgeiz. Immerhin hatte sie vor ein paar Jahren die Aufnahme ins Landeskriminalamt Berlin geschafft. Lauras Dezernat war für Entführungen, erpresserischen Menschenraub und Tötungsdelikte zuständig. Ihre traumatische Kindheitserfahrung machte Laura zu einer äußerst erfolgreichen Ermittlerin. Sie war außergewöhnlich einfühlsam und hatte sich durch ihre eigene Entführung eine Intuition erworben, die sie auch bei kritischen Fällen nicht im Stich ließ.
Laura fuhr mit der Zunge über die trockenen Lippen. Ihre Hände zitterten noch immer. Sie griff nach der Wasserflasche, die sie jede Nacht neben dem Kopfende ihres Bettes bereitstellte, und ließ die kühle Flüssigkeit in ihre Kehle laufen. Der Albtraum hatte ihre Schleimhäute ausgetrocknet. Sie schloss die Augen und atmete so lange tief durch, bis sie das Gefühl hatte, im Hier und Jetzt angekommen zu sein. Dann warf sie einen Blick auf den Wecker, dessen rot leuchtende Anzeige ein unförmiges Muster auf ihre Schlafzimmerdecke zeichnete. Es war kurz nach drei, also noch mitten in der Nacht. Laura ahnte, was nun kam. Sobald sie die Augen erneut schloss, würden die schrecklichen Bilder zurückkommen. Seufzend griff sie nach ihrem Diensthandy, ein Smartphone mit riesigem Display, und öffnete den Kalender. Die dicken roten Balken für den kommenden Tag verhießen nichts Gutes. Sie entdeckte einen neuen Termin, der für acht Uhr morgens angesetzt war. „Einsatzbesprechung“ stand in fetten Buchstaben in der obersten Zeile. Verdammt, dachte Laura und überlegte, was sie jetzt tun sollte. Wenn sie den Albtraum loswerden wollte, musste sie die nächsten sechzig Minuten wach bleiben. Das bedeutete allerdings, dass sie am Morgen wie ein Schluck Wasser in der Kurve hängen würde. Laura war eine echte Eule. Nichts konnte ihr den Tag mehr vermiesen als frühes Aufstehen oder zu wenig Schlaf. Andererseits brachte eine von Albträumen durchzogene Nacht auch keine Erholung. Sie zögerte kurz und traf eine Entscheidung. Sie wollte die Bilder abschütteln. Laura zog die Dienstwaffe unter dem Kopfkissen hervor, schlüpfte aus ihrem Schlafanzug und lief nackt zum Kleiderschrank. Aus der mittleren Schublade kramte sie ihre Joggingklamotten hervor und zog sie rasch an. Dann tappte sie im Halbdunkel über den schmalen Flur und stieg in ihre Joggingschuhe. Laufen war Lauras Allheilmittel. Sie war mit ihren eins fünfundsiebzig und dem schlanken Körperbau die geborene Läuferin. Sobald sie in Bewegung kam, schaltete ihr Gehirn in einen Erholungsmodus um, der alle negativen Gedanken wegfegte. Laura nannte es den Laufrausch. Durch die Konzentration auf die eigenen Schritte und eine gleichmäßige Atmung gelangte sie tatsächlich in eine Art Trance, die sich fast wie Meditation anfühlte. Leichtfüßig stieg Laura die knarrenden Holzstufen hinunter. Sie wohnte in einem typischen Berliner Altbau. Ihr Penthouse besaß eine großzügige Dachterrasse mit fantastischem Ausblick. Dies entschädigte für das teilweise heruntergekommene Gebäude, das sich im Besitz eines Immobilienfonds befand. Die getätigte Investition musste sich langfristig rechnen. Modernisierungsarbeiten waren kostspielig und wurden so lange wie möglich hinausgezögert.
Laura hatte sich trotzdem auf den ersten Blick in das Gebäude und die Wohnung verliebt. Ihr machte es nichts aus, dass es keinen Fahrstuhl gab. Sie wollte sowieso fit bleiben und lief die vielen Stufen gerne zu Fuß.
Unten angekommen warf sie einen Blick auf die Uhr. Sie schob die schwere Holztür auf, die schon seit der Errichtung des Gebäudes in den Fünfzigerjahren den Eingang des Hauses verschloss. Neben der Tür prangte eine ganze Armada von Klingelschildern. Das Gebäude beherbergte über zwanzig Parteien, deren Bewohner sich untereinander kaum kannten. Laura genoss diese Anonymität und die damit verbundenen Freiheiten. Sie konnte unbehelligt ein- und ausgehen, ohne dass sie von neugierigen Blicken verfolgt wurde.
Vor der Haustür drehte sie sich noch einmal um. Das diffuse Licht der Straßenlaternen ließ die Schatten der zahlreichen Linden auf dem porösen Putz des Gebäudes tanzen. Um diese Uhrzeit war die Straße menschenleer. Die nächste Kneipe lag mehr als drei Straßenzüge entfernt, sodass sich auch keine betrunkenen Teenager oder andere Nachtschwärmer bis hierher verirrten. Laura steckte sich die Kopfhörer ihres iPods in die Ohren und lief los. Sie nahm die Route, die direkt unter den Laternen entlangführte. Doch der Bürgersteig war uneben und Laura fürchtete umzuknicken. Deshalb bog sie an der nächsten Straßenecke ab und lief in den Park, der unmittelbar an das Wohnviertel grenzte. Der Weg war nicht gepflastert, er bestand lediglich aus festem Sand. Trotzdem kam er Laura ebener vor als der Bürgersteig vor ihrem Haus. Sie zog das Tempo leicht an. Die Strecke kannte sie bis ins kleinste Detail. Sie wusste genau, wie viel Zeit sie bis zum nächsten Meilenstein benötigte. Ihre Schritte, der stoßweise Atem und Lauras Herzschlag vereinigten sich zu einem einzigen dumpfen Klopfen und trugen die schrecklichen Bilder ihres Albtraumes davon.
Ihr letzter Gedanke galt der Einsatzbesprechung, die sie am nächsten Morgen um acht Uhr erwartete. Diese Termine wurden immer dann so kurzfristig angesetzt, wenn es einen ernsten Fall gab. Und wenn Laura hinzugezogen wurde, handelte es sich in jedem Fall um eine Entführung oder Geiselnahme.
Laura drehte die Lautstärke weiter auf. Später war noch genug Zeit zum Grübeln, jetzt wollte sie einfach nur den Kopf frei kriegen und danach noch ein paar Stunden Schlaf genießen. Die Musik vertrieb die Gedanken an den nächsten Morgen und Laura lief weiter in die dunkle Nacht hinein.
II
Achtzehn Stunden zuvor
Das sirenenartige Brüllen schwoll zu einem nervenzerfetzenden Kreischen an und bohrte sich gnadenlos in Sophie Nussbaums Gehirn. Ihre Hände umklammerten das Lenkrad und mit dem Fuß trat sie das Gaspedal durch, als könne sie dadurch die Geräuschkulisse lahmlegen. Sie war schon im Morgengrauen aufgebrochen. Normalerweise schläferten Autofahrten ihr Baby innerhalb weniger Minuten ein, doch heute konnte sich Henri einfach nicht beruhigen. Sie betrachtete das Bündel mit dem hochroten Kopf durch den Rückspiegel. Der Kleine holte Luft und setzte zu einem erneuten Schrei an. Sophie zog unwillkürlich die Schultern hoch, als könnte sie sich dadurch schützen. Sie verstand die Welt nicht mehr. Henri fehlte es an nichts. Er war gefüttert und gewickelt, selbst Fieber war gemessen worden – ohne Ergebnis. Eigentlich hatte sie heute eine Shoppingtour geplant, aber Henri schien ihr einen Strich durch die Rechnung zu machen. Und jetzt hatte sie sich auch noch verfahren! Sich neu zu orientieren war quasi unmöglich bei diesem Gezeter. Sie gab Gas und blickte abermals in den Rückspiegel. Ihr Sohn gab einfach nicht auf. Sophie schaute wieder nach vorne. Verdammt, fluchte sie und trat heftig auf die Bremse. Der Wagen vor ihr hielt an einer roten Ampel, die ihr in der Hektik entgangen war. Ihre Handtasche rutschte vom Vordersitz, landete im Fußraum und kippte um. Der Inhalt verteilte sich auf dem Boden. Sophie war den Tränen nahe. Sie schluckte heftig und bemerkte, dass ihr Baby plötzlich still geworden war. Die Ampel zeigte immer noch Rot. Ungläubig drehte sie sich um. Henri schlief im Autositz, friedlich wie ein Engel, als wäre nichts gewesen. Erleichtert atmete sie auf und konzentrierte sich auf den Verkehr.
Henri war ihr erstes Kind. Schon mit zweiundzwanzig Jahren hatte Sophie den deutschen Unternehmer Matthias Nussbaum kennengelernt. Er lockte sie vor allem mit seinen Erzählungen über das aufregende Berliner Nachtleben nach Deutschland. Sophie war ein Mädchen vom Land. Sie stammte aus einem kleinen, französischen Ort in der Provence, der nicht viel Unterhaltung bot. Matthias Nussbaum war eigentlich auf der Suche nach neuen Schätzen für seinen Weinkeller gewesen, als er Sophie traf, die in diesem Sommer auf dem Weingut ihres Onkels arbeitete. Matthias Nussbaum ließ den Wein links liegen und machte stattdessen Sophie einen Heiratsantrag. Keine drei Monate später war diese schwanger. Die nächtelangen Ausflüge durch das Berliner Klubleben waren auf einen Schlag vorbei. Ihr Baby hielt sie Tag und Nacht auf Trab. Trotzdem bemühte sich Sophie, ihre Figur so schnell wie möglich wiederzuerlangen. Außerdem achtete sie peinlich genau auf ein gepflegtes Äußeres. Bequeme Klamotten, verschmierte Wimperntusche und T-Shirts voller Babybrei waren ihr ein Graus. Wenn sie schon auf das Berliner Nachtleben verzichten musste, gönnte sie sich wenigstens tagsüber umfangreiche Shoppingausflüge, während Henri friedlich in seinem Kinderwagen schlief. Das Einkommen ihres Mannes war mehr als üppig und so kam Sophie mindestens einmal wöchentlich mit prall gefüllten Einkaufstaschen nach Hause.
Die Ampel schaltete auf Grün um und sie gab Gas, um gleich darauf erneut auf die Bremse zu treten. Die großen Schilder eines Supermarktes leuchteten ihr verheißungsvoll entgegen. Kurzerhand bog sie ab und fuhr auf den Parkplatz.
Drinnen angekommen spazierte sie schnurstracks in die Kosmetikabteilung. Es handelte sich um einen großen Berliner Supermarkt, der besser ausgestattet war als so manche Drogerie. Die neueste Kollektion von Lippenstiften erstreckte sich in leuchtenden Farben vor Sophie. Sie warf einen prüfenden Blick auf Henri, der immer noch entspannt in seinem Kinderwagen schlummerte. Erleichtert atmete sie auf und betrachtete die unterschiedlichen Farben, die von hauchzartem Rosa bis hin zu dunklem Braun reichten. Sie wählte ein warmes Orange, positionierte sich vor einem kleinen Spiegel am Ende der Regalwand, trug die cremige Farbe auf und hauchte ihrem Spiegelbild einen verheißungsvollen Kuss zu. In Gedanken war sie bei ihrem Ehemann, der am Abend von einer einwöchigen Geschäftsreise zurückkehren würde. Sie blickte auf die Uhr und stellte zufrieden fest, dass ihr noch genug Zeit blieb, um weitere Farben auszuprobieren. Matthias würde erst am späten Abend eintreffen, was bedeutete, dass Henri dann bereits schlief. Sophie lächelte. Sie würde ihr hauchdünnes neues Kleid tragen und gemeinsam mit Matthias eine wundervolle Nacht verbringen. Abermals warf sie einen prüfenden Blick in Richtung des himmelblauen Kinderwagens. Die Kosmetikabteilung war fast leer. Die meisten Kunden tummelten sich bei den Lebensmitteln. In den hinteren Teil des Supermarktes, in dem Sophie sich befand, verirrte sich nur ab und zu ein Angestellter mit Kartons auf dem Arm und noch viel seltener ein Kunde. Aus dem Augenwinkel bemerkte sie lediglich eine einzelne Frau, die sich dem Regal mit den Duschgels näherte.
Sophie betrachtete ihr Gesicht im Spiegel. Der warme Braunton, den sie nach dem Orange aufgetragen hatte, gefiel ihr gut. Er betonte ihre dunkelbraunen Augen und bildete einen interessanten Kontrast zu ihren langen blonden Haaren. Doch sie fand die Farbe nicht sexy genug. Schließlich hatte sie Matthias seit einer Woche nicht gesehen. Sie brauchte etwas Aufregendes, das ihn nicht weiter als bis in den Flur kommen ließ, bevor er über sie herfiel. Sie griff nach einem kräftigen Rot. Es war gewagt, vielleicht eine Spur zu aufdringlich. Aber Sophie wollte den Farbton unbedingt ausprobieren. Sie zerrte ein Papiertaschentuch aus ihrer Handtasche und wischte sich den Braunton von den Lippen, bevor sie die neue Farbe auftrug. Perfekt. Sophie sah Matthias’ Blick geradezu vor sich. In Gedanken öffnete sie ihm die Haustür. Ein Luftzug fuhr unter ihr Kleid und gab einen betörenden Blick auf ihre Oberschenkel preis. Sie hauchte Matthias ein verführerisches „Hallo“ zu. Sophies Haut prickelte, als sie in Gedanken die starken Hände ihres Mannes auf ihrem Hals spürte. Er zog sie wortlos zu sich heran und küsste sie leidenschaftlich. Sophie stöhnte leise auf, die Augen immer noch auf den Spiegel geheftet. Ein Lächeln stahl sich auf ihr Gesicht und erstarb wenige Sekunden später, als ihr Blick zu der Stelle hinüberwanderte, an der eben noch Henris Kinderwagen gestanden hatte. Sophie blinzelte, spürte, wie eine Schockwelle ihren Körper durchfuhr, und erstarrte. Kälte breitete sich in ihren Adern aus, während ihr Gehirn versuchte, ein Bild des Kinderwagens an genau jene Stelle zu projizieren, an der er eigentlich hätte stehen müssen. Sie hatte Henri keine dreißig Sekunden aus den Augen gelassen. Die leere Stelle, die sie sah, musste ein Trugbild sein. Eine Sinnestäuschung. Der Kinderwagen konnte sich doch nicht in Luft aufgelöst haben. Plötzlich ließ die Starre in ihrem Körper nach und Sophie stolperte am Regal entlang zu der Stelle, wo Henri eben noch gelegen hatte. Ihre Hände bewegten sich durch die Luft, als suchten sie einen unsichtbaren Gegenstand. Sie drehte sich wieder und wieder um ihre eigene Achse, bis sie begriff, dass dort nichts mehr war, und sank kraftlos zu Boden. Ein heiseres Krächzen presste sich durch ihre Kehle: „Henri.“ Dann ein verzweifeltes Kreischen: „Henri? Wo bist du? … Hat jemand meinen Kinderwagen gesehen? Bitte helfen Sie mir! Ich kann mein Baby nicht finden.“
III
„Darf ich Ihnen meine Mitarbeiterin vorstellen?“ Joachim Beckstein deutete auf Laura, die mit glühenden Wangen im Türrahmen stand. „Laura Kern, eine unserer erfahrensten Ermittlerinnen auf dem Gebiet der Geiselnahmen und Entführungen. Sie hat hervorragende Referenzen …“
In Lauras Kopf rauschte es so stark, dass sie den Worten ihres Vorgesetzten nicht folgen konnte. Völlig außer Puste ließ sie sich auf den ersten freien Stuhl des Raumes fallen, in dem die kurzfristig angesetzte Einsatzbesprechung stattfand. Laura hatte verschlafen.
Ein nächtlicher Stromausfall musste den Wecker lahmgelegt haben. Als sie am Morgen die Augen geöffnet hatte, waren die rote Leuchtanzeige und das Muster, das der Wecker normalerweise an die Schlafzimmerdecke warf, verschwunden. Stattdessen kitzelten Sonnenstrahlen ihre Nasenspitze und versetzten sie nach einem ersten genüsslichen Gähnen in Panik. Ihr Diensthandy zeigte sieben Uhr dreißig an. Wie von einer Hornisse gestochen sprang sie auf und stürmte ins Bad. Die notdürftige Katzenwäsche ließ ihre Haare unberücksichtigt. Der frische Wind, der in den Morgenstunden durch die Straßen Berlins fegte, tat sein Übriges und verwandelte die restlichen Konturen ihrer Frisur in ein wildes Durcheinander.
Erst als sich ihr Atem langsam beruhigte, stellte sie fest, dass der Besprechungsraum zur Hälfte mit unbekannten Gesichtern besetzt war, die sie nach der Vorstellung durch Beckstein neugierig beäugten. Mit immer noch erhitzten Wangen nickte Laura unsicher in die Runde und versuchte, während sich die Köpfe wieder in Richtung Leinwand bewegten, ihre Haare mit den Fingern zu ordnen. Schnell erkannte sie, dass der Versuch sinnlos war. Nach Lauras Auftritt war es offensichtlich, dass sie verschlafen hatte – das dürfte niemandem entgangen sein. Eine ältere Frau, die Laura unbekannt war, starrte sie immer noch missbilligend an. Laura warf ihr einen unterkühlten Blick zu und drehte sich demonstrativ zur Leinwand.
Das große Foto eines vielleicht sechs Monate alten Babys nahm ihre Gedanken auf der Stelle gefangen. Obwohl Joachim Beckstein seinen Vortrag bereits vor ihrer Ankunft begonnen hatte, setzte Lauras Gehirn die noch fehlenden Bruchstücke mühelos zusammen. Der Sohn eines angesehenen Großunternehmers war vierundzwanzig Stunden zuvor spurlos verschwunden. Da die Eltern sehr wohlhabend waren, ging die Berliner Polizei von einem Erpressungsfall aus. Jederzeit wurde mit einer Geldforderung der Täter gerechnet. Die Polizeibeamten, die unmittelbar nach dem Verschwinden des Jungen involviert worden waren, hatten bereits erste Befragungen durchgeführt und Beweise sichergestellt. Anschließend wurde der Fall an das zuständige Landeskriminalamt und dessen Entführungsspezialisten übergeben.
Matthias Nussbaum war ein bekannter Unternehmer, der auch in politischen Kreisen hohes Ansehen genoss und darüber hinaus mit dem Leiter des Landeskriminalamtes eng befreundet war. Zudem besaß die Mutter des Kindes die französische Staatsangehörigkeit, was dem Vorfall einen länderübergreifenden Charakter gab.
Laura ging im Geist die Fakten durch, die ihr Vorgesetzter auf die Leinwand projizierte. Ein mulmiges Gefühl machte sich breit.
„Vierundzwanzig Stunden ohne Lösegeldforderung sind ein ungewöhnlich langer Zeitraum für einen Erpressungsversuch“, unterbrach Laura den Vortrag. Alle Augen richteten sich auf sie.
„Normalerweise versuchen die Entführer, so schnell wie möglich, in der Regel innerhalb der ersten zwei oder drei Stunden, Kontakt zur Familie aufzunehmen. Sie haben kein Interesse an einer langen und möglicherweise aufwendigen Geiselhaft, sondern wollen die Geldübergabe möglichst rasch hinter sich bringen. Je länger die entführte Person in ihren Händen ist, desto größer ist das Risiko, entdeckt zu werden“, ergänzte Laura ihre Wortmeldung.
Die ältere Frau, die sie so missbilligend angestarrt hatte, runzelte die Stirn. „Was wollen Sie damit andeuten, Frau Kern?“ Ihre Stimme klang scharf. „Soll das etwa heißen, dass wir es hier nicht mit einer Kindesentführung zu tun haben?“
Laura blieb ungerührt. „Ich habe nur gesagt, dass für einen Erpressungsfall schon ungewöhnlich viel Zeit vergangen ist.“
Beckstein unterbrach Laura mit einer bloßen Geste. „Frau Schnitzer, was meine Mitarbeiterin damit andeuten möchte, ist, dass wir die Umstände der Entführung erst genauer untersuchen müssen, bevor wir voreilige Schlüsse ziehen. Selbstverständlich werden wir alle Spuren verfolgen.“
Schnitzer. Der Name kam Laura irgendwie bekannt vor. Aus welcher Abteilung kam diese Schreckschraube nur?
„Hören Sie, ich möchte, dass dieser Fall so schnell wie möglich aufgeklärt wird. Wir können es uns nicht leisten, dass die Kinder solch einflussreicher Unternehmer wie Nussbaum für Erpressungszwecke missbraucht werden. Das schadet dem Ruf unserer Stadt.“
Laura verkniff sich einen spitzen Kommentar. Warum sollten die Kinder reicher Eltern mehr wert sein als andere? Sie fragte sich, ob diese Frau auch dann in der Einsatzbesprechung aufgetaucht wäre, wenn es sich um das Kind eines Elektrikers oder eines Malers gehandelt hätte.
Die Frau erhob sich. „Ich vertraue auf Ihre Personalentscheidungen, Herr Beckstein.“ Dabei warf sie Laura einen eisigen Blick zu. „Enttäuschen Sie mich nicht.“ Nach diesen Worten verließ sie, ohne sich noch einmal umzudrehen, den Raum. Die anderen Teilnehmer der Besprechung, die Laura ebenfalls nicht hatte zuordnen können, erhoben sich wie auf ein geheimes Zeichen und folgten Frau Schnitzer nach draußen. Zurück blieben Lauras Kollegen und ein blasser Joachim Beckstein, der sich schlaff auf einen der leer gewordenen Stühle sinken ließ.
„Wer war das?“ Laura stieß ihren Partner Max an, der das Geschehen mit ausdrucksloser Miene verfolgt hatte.
„Du kennst sie nicht?“, flüsterte er fassungslos.
Laura zog die Augenbrauen zusammen.
„Nein. Du etwa?“
„Jetzt erzähl mir nicht, dass dir der Name Marion Schnitzer nichts sagt.“ Max’ Augen fixierten sie, als wollten sie die Antwort per Telepathie in Lauras Gehirn funken.
In ihrem Kopf überschlugen sich die Gedanken. Bis es ihr schließlich einfiel. Vor Schreck ließ Laura ihren Kugelschreiber fallen. Marion Schnitzer. Natürlich, wieso war sie nicht gleich darauf gekommen? Marion Schnitzer war seit Kurzem die Berliner Senatorin für Inneres. Wenn sie sich zu einem so frühen Zeitpunkt in den Fall einmischte, dann musste Nussbaum eine wirklich große Nummer sein. Laura hatte die Senatorin noch nie getroffen, sie kannte lediglich ihr Foto aus der Zeitung.
„Innensenatorin?“, zischte sie Max ins Ohr.
Ihr Partner nickte und seine Lippen formten tonlos: „Na endlich!“
„Kern. Hartung.“ Joachim Becksteins Gesicht hatte wieder Farbe angenommen. „Ich möchte, dass Sie beide die Sache übernehmen. Da Sie Marion Schnitzer soeben persönlich kennengelernt haben, können Sie sich denken, dass sie schnelle Ergebnisse erwartet. Ich gebe Ihnen bis heute Abend Zeit, dann will ich den ersten Bericht haben.“ Er stoppte kurz und rieb sich das Kinn. „Am besten, Sie nehmen erst einmal den Supermarkt unter die Lupe, in dem Henri Nussbaum verschwunden ist.“
Woher stammte die Idee zu „Krähenmutter“?
Auf die Idee zur Geschichte der „Krähenmutter“ bin ich durch eine sehr gute Freundin gekommen. Sie war vor vielen Jahren mit ihrer kleinen Tochter einkaufen und plötzlich war, nur für ein paar Minuten, ihr Kind verschwunden. Das Erlebnis war für sie so schrecklich, dass sie noch zehn Jahre später davon erzählte, als wäre es erst gestern gewesen. Das ist genau die Grundidee der „Krähenmutter“: Dass man nur eine Sekunde lang nicht aufpasst und in dieser Sekunde passiert etwas ganz Schreckliches.
Die Spannung im Roman entsteht auf ganz unblutige Weise. Was ist Ihr Geheimnis?
„Krähenmutter“ ist ein sehr unblutiger Thriller vor allem wegen der Thematik. Kindesentführung ist ein sehr hartes Thema, weshalb ich besonders durch den Schmerz des Verlustes Spannung aufbauen wollte und nicht durch körperliche Verletzungen.
Wie sind Sie auf die Ermittlerin Laura Kern gekommen?
Laura Kern ist eine Figur die schon lange bevor ich „Krähenmutter“ geschrieben habe zu mir gekommen ist. Sie ist eine sehr spannende Persönlichkeit. Ich wusste, dass ich unbedingt etwas mit ihr als Ermittlerin schreiben muss und als ich die Grundidee für „Krähenmutter“ hatte, war klar, dass Laura dafür die perfekte Ermittlerin ist. Was Laura als Charakter ausmacht, ist ihre zwiespältige Persönlichkeit. Sie hat mit elf Jahren eine schreckliche Lebenserfahrung gemacht. Sie wurde entführt und kämpft noch heute gegen ihre Albträume an. Die Entführung hat zudem sichtbare Narben hinterlassen. Trotzdem ist sie eine sehr starke Frau, auch wenn man es ihr nach außen gar nicht so sehr anmerkt.
„Eine gute Story, die einen fesselt und mitreißt.“
„Nehmen Sie sich nichts anderes vor, Sie werden das Buch am Stück verschlingen wollen!“
„Mit Krähenmutter hat Catherina Shepherd einen genial aufgebauten Thriller mit sympathischen Ermittlern erschaffen, der durch seine unerwarteten Wendungen für viel Spannung sorgt.“
»Ich war sehr gespannt auf Krähenmutter, weil ich ein großer Fan der Zons-Krimi´s bin und ich wurde nicht enttäuscht. Mir hat der neue Thriller von Catherine Shepherd sehr gut gefallen. Eine gute Story, die einen fesselt und mitreißt.«
»›Krähenmutter‹ brilliert mit seinen charismatischen Protagonisten, die den Leser von der ersten Minute an in ihren Bann ziehen. Ein starker Plot und die typisch düstere ›Shepherd‹ Atmosphäre machen diesen Thriller zu einem Erlebnis!
„Das Buch hat mir sehr gut gefallen und ich hatte es sehr schnell durch. Das Thema Kindesentführung wird hier ganz anders in Szene gesetzt, als man es sonst so liest und es vermuten könnte. Auch gelingt es der Autorin den Spannungsbogen immer hoch zu halten. Selbst wenn die Lösung zum Greifen nah scheint, kommt eine Wendung und schon fängt man bei Null wieder an. Man muss einfach immer weiter lesen, man will einfach erfahren was nun mit den Kindern geschieht.“
„Für mich ein wirklich toller Thriller der ohne Blutspur auskommt. Sehr spannend, fesselnd und ich habe kaum gemerkt, wie die Seiten verflogen, bis ich am Ende war. Die Ermittlerin Laura hat mir sehr gut gefallen und ich hoffe, noch weitere Fälle von ihr lesen zu können!“
Als Mutter habe ich von Anfang an mitgefiebert und gelitten. Laura Kern, die selbst in ihrer Kindheit Opfer einer Entführung wurde, ist eine exzellente Ermittlerin. Sie hat ein tolles Gespür für das Böse. Als ein Kind aus einem Berliner Supermarkt verschwindet, zögert sie nicht lange und gibt alles für die Lösung des Falls. Auch als sie selbst in Gefahr gerät, gibt sie nicht auf. Ich habe bis zum Schluss nicht gewusst, wer die Krähenmutter ist. Ich bin großer Fan der Autorin und wurde auch diesmal von der Geschichte regelrecht mitgerissen. Fantastisch. Mitreißend. Spannend. Absolute Leseempfehlung!
Catherine Shepherd hat es wieder einmal geschafft, mich bis zur letzten Sekunde im Dunkeln zu lassen. Ihre Bücher sind Spannung pur. Krähenmutter zeichnet sich durch eine sehr dichte Darstellung der Atmosphäre und plastisch dargestellte Charaktere der Protagonisten aus. Die verschiedenen Handlungsstränge machen das Buch zu einem komplexen Thriller, der die Spannung immer wieder aufbaut und den Bogen bis zum Schluss hält. Ich war wirklich atemlos und habe das Buch fast an einem Stück gelesen. Der Charakter Laura Kern hat es wirklich in sich. Eine absolut fantastische Romanfigur, die sofort sympathisch ist. Was für eine kluge Powerfrau, die dennoch viel Herz besitzt. Taylor Field ist ihr passender Gegenspieler. Ich bin gespannt wie die Geschichte mit den beiden weitergeht. Absolutes Lesevergnügen!
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