Krone des Himmels Krone des Himmels - eBook-Ausgabe
Historischer Roman
— Spannendes Mittelalter-Epos | „Historischer Roman der Extraklasse“ Daniel Wolf„Ihr ist ein Buch gelungen über waghalsige Abenteuer, über Kampf und Liebe, das man nicht mehr aus der Hand legen will.“ - SWR - Kaffee oder Tee
Krone des Himmels — Inhalt
Der Glanz des Mittelalters, die Gewalt der Kreuzzüge, die Macht der Liebe
Im Jahr 1189 wird die Welt vom großen Religionskrieg zwischen Abendland und Orient erschüttert. Das Schicksal führt die Handwerkertochter Aveline und den Wundarzt Étienne auf den Kreuzzug von Frankreich nach Jerusalem. Während der Belagerung der Hafenstadt Akkon wachsen beide über sich hinaus - doch ihre Liebe zueinander wird im großen Kampf um das Heilige Land vor eine schwere Prüfung gestellt ...
„Akribisch recherchiert und packend geschrieben – Juliane Stadlers Mittelalterepos ›Krone des Himmels‹ ist ein historischer Roman der Extraklasse!“ Daniel Wolf
Leseprobe zu „Krone des Himmels“
Prolog
Heiliges Land, Hörner von Hattin, 4. Juli 1187
Godric schob den kleinen Kiesel mit der Zunge von einer Backe in die andere, in der Hoffnung, wenigstens ein bisschen Feuchtigkeit aus seinem ausgedörrten Gaumen zu pressen. Doch Rauch und Staub füllten seinen Mund lediglich mit einer klebrigen Masse. Sonne, Feuer, Tausende schwitzender Leiber von Mensch und Tier verursachten eine unerträgliche Hitze um ihn, einen beißenden Brodem, der nach Asche und Angst stank. Schlimmer konnte selbst das Fegefeuer nicht sein.
Godrics Vorstellung von Glück schrumpfte [...]
Prolog
Heiliges Land, Hörner von Hattin, 4. Juli 1187
Godric schob den kleinen Kiesel mit der Zunge von einer Backe in die andere, in der Hoffnung, wenigstens ein bisschen Feuchtigkeit aus seinem ausgedörrten Gaumen zu pressen. Doch Rauch und Staub füllten seinen Mund lediglich mit einer klebrigen Masse. Sonne, Feuer, Tausende schwitzender Leiber von Mensch und Tier verursachten eine unerträgliche Hitze um ihn, einen beißenden Brodem, der nach Asche und Angst stank. Schlimmer konnte selbst das Fegefeuer nicht sein.
Godrics Vorstellung von Glück schrumpfte auf einen Krug kühlen Wassers. Der Gedanke, wie es frisch und belebend seine Kehle hinunter rann, brachte ihn beinahe um den Verstand. Doch daraus wurde nichts. Zwischen dem verheißungsvoll glitzernden See in der Ebene und dem christlichen Heer standen Abertausende bis an die Zähne bewaffnete sarazenische Krieger.
Godrics Nebenmann lag auf den Knien und hielt ein Holzkreuz so fest umklammert, dass die Fingerknöchel weiß aus seiner staubpanierten Haut hervortraten. Wieder und wieder intonierte er das Pater noster, während ihm Tränen unter den zusammengekniffenen Augenlidern hervorquollen und schmutzige Spuren über seine Wangen zogen.
„Spar dir deinen Atem und die Spucke lieber, wirst sie noch brauchen“, krächzte Godric, doch der Mann gab vor, ihn nicht zu hören.
Meinetwegen. Godric schnaubte und wandte sich wieder dem Szenario zu, das sich ihnen im Tal bot. Graf Raimund hatte recht behalten, sie hätten die fruchtbare und wasserreiche Ebene von Saphorie nie verlassen dürfen. Es hieß, Templergroßmeister De Ridefort, der alte Teufel, habe den König solange bedrängt, bis dieser das Heer auf den beschwerlichen Weg schickte – viele Tausend Fußsoldaten, leichte Reiter und Hilfstruppen, dazu zwölfhundert Ritter, die größte Armee, die das Königreich Jerusalem je hervorgebracht hatte.
Gott allein wusste, ob er damit nicht ihr aller Todesurteil gefällt hatte.
Der lange Marsch über wasserlose Hänge und Hügel hatte Mensch und Tier ausgetrocknet und ihre Kräfte aufgezehrt, Pferde waren verendet, Männer hatten sich in den Staub fallen lassen, um nie wieder aufzustehen, andere ihre Rüstungen und Waffen von sich geschleudert. Die unaufhörlichen Angriffe sarazenischer Bogenschützen und die Feuer, die ihre Feinde legten, um ihnen beißenden Rauch entgegenzutreiben, taten ein Übriges.
Frisch und ausgeruht, den See Genezareth im Rücken, musste das sarazenische Heer eigentlich nur abwarten. Wie eine Galgenschlinge zogen die Heiden ihre Reihen enger und enger um die Gegner. Sie hatten alle Zeit der Welt.
Den Christen dagegen kochte nach einer unruhigen Nacht ohne Wasser bereits die Morgensonne den letzten Rest Flüssigkeit aus den Knochen.
„Sieht nicht gut aus“, murmelte Godric und spie seinen Stein in den Staub, wo er mit einem dumpfen Geräusch aufschlug.
„Hör auf, so zu reden!“, fauchte sein Nebenmann und kam mühsam auf die Beine. „Noch nie hat ein christliches Heer eine Schlacht verloren, wenn ihm das Wahre Kreuz vorangetragen wurde.“
„Meinetwegen“, brummte Godric und blickte zum Bischof von Akkon und dem prachtvollen Kreuz, dessen Goldbeschläge in der Sonne gleißten. „Trotzdem sind dabei jedes Mal Männer draufgegangen. Und glaub mir, heute werden’s mehr sein als je zuvor.“
Schluchzend sackte sein Nachbar zurück in die Knie und betete mit ineinandergekrallten Händen, als traue er seinen eigenen Worten nicht.
Ja, flenn nur, wenn’s dir hilft!, dachte Godric und rieb sich mit der Faust über die brennenden Augen. Er selbst übte sein brutales Handwerk schon zu lange aus, um sich irgendwelchen Trugvorstellungen hinzugeben. Allein deshalb war er noch am Leben. Godric war sicher: Noch bevor die Sonne ihren höchsten Stand erreichte, würde das Blut vieler guter Männer die trockene Erde tränken, und nur Gott allein wusste, wer von ihnen das Ende des Tages erlebte.
Irgendwo begann ein Maultier lautstark zu blöken und einen kleinen Tumult auszulösen. In einer der hinteren Schlachtreihen entdeckte Godric das bockende Vieh, das sich aufbäumte und Bündel von Lanzen und Pfeilen abzuschütteln versuchte. Zahlreiche Hände griffen nach ihm, doch keiner wagte sich durch die wirbelnden Hufe nahe genug heran, um das Halfter zu fassen. Schließlich riss sich das Tier endgültig los, sprengte die Reihen der Soldaten und preschte den Hügel hinab, den Feinden und dem verheißungsvollen Wasser entgegen. Selbst seine natürliche Scheu vor Rauch und Feuer schien vergessen, so wahnsinnig war es vor Durst. Wer konnte es ihm verdenken?
Godric fuhr sich mit der Zunge über die rissigen Lippen und ertappte sich bei dem Wunsch, es dem Tier nachzutun. Was machte es schon, wenn ihn die Sarazenenteufel mit Pfeilen spickten? So wäre es wenigstens schnell vorüber. Denn wenn es etwas Schlimmeres gab als die tobende, schreiende, blutige Hölle der Schlacht, dann das Warten darauf.
Und das Alleinsein mit den eigenen Gedanken.
Es war der Befehl von Clement de Gise, der ihm eine Entscheidung ersparte. Sie würden also einen Ausfall versuchen. Was blieb ihnen auch übrig?
„Macht euch bereit, Männer!“, brüllte er, während er sein müdes Reittier in den Trab zwang. „Deus lo vult! Gott will es!“
Godric versuchte auszuspeien, bekam aber nicht genug Spucke zusammen. Stattdessen packte er seinen Speer fester und schlug das Kreuzzeichen vor der Brust. Er entschied sich für einen anderen Schlachtruf: „Gott steh uns allen bei!“
Buch I
Was das Wort nicht heilt, heilt das Kraut.
Was das Kraut nicht heilt, heilt das Messer.
Was das Messer nicht heilt, heilt der Tod.
Hippokrates (~ 460–370 v. Chr.)
Kapitel 1
Grafschaft Tonnerre, Rittergut Arembour, Juni 1189
Der Pfeil bohrte sich zitternd in die strohgeflochtene Scheibe, kaum eine Handbreit vom Mittelpunkt entfernt. Mit überlegenem Grinsen senkte Gérard seinen Bogen und machte einen Schritt zur Seite. „Dein Schuss, Brüderchen.“
Étienne trat vor, nahm Maß und suchte sich einen festen Stand, indem er die Stiefel tief in den aufgeweichten Untergrund des Hofs grub. Er verlagerte sein Gewicht auf den gesunden Fuß und legte einen Pfeil auf. Während er ausatmete, visierte er das Ziel an, spannte die Sehne, bis er sie knarren hörte – und schoss. Der Pfeil jagte davon und bohrte sich mit einem dumpfen Laut geradewegs ins Zentrum der Scheibe.
Gérards Grinsen gefror auf seinen Lippen und wich einem ungläubigen, beinahe komischen Staunen.
„Tja, Gérard, ich fürchte, das Messer gehört jetzt mir.“ Étienne versuchte, möglichst gelassen zu klingen, wenngleich ihm nach Jubeln zumute war. „Vielleicht kannst du es beim nächsten Mal ja wieder zurückgewinnen.“
„Dreimal verfluchter Krüppel!“
„In der Tat, besiegt von einem Krüppel. Das muss bitter sein, für einen großen Krieger wie dich“, stimmte Étienne ihm gut gelaunt zu.
Gérards Faust ballte sich um den Bogen, und seine Gesichtszüge verzerrten sich zu einer wütenden Grimasse. Er war so leicht zu provozieren. So leicht, dass es beinahe langweilig war. Doch Étienne hatte nicht oft Gelegenheit, sich in der Rolle des Überlegenen zu finden, im Gegenteil.
Als er zu einer weiteren Spitze ansetzen wollte, wanderte Gérards Blick an ihm vorbei und ein boshaftes Lächeln hob seine Mundwinkel.
Noch bevor Étienne sich umdrehen konnte, packte ihn eine behandschuhte Hand bei der Schulter und zerrte ihn herum.
„Was tust du hier?“, presste sein Vater zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor.
Étienne konnte nicht anders – die Freude über seinen kleinen Triumph machte ihn trunken und übermütig. „Schätze, ich bin dabei, Euren Erstgeborenen im Bogenschießen zu demütigen.“ Er grinste.
Basile d’Arembour packte Étienne so hart am Kragen, dass ihm der Lederriemen mit dem Silberkreuz seiner verstorbenen Mutter die Luft abzuschnüren drohte.
„Du weißt genau, was ich meine, Kerl. Wieso bist du nicht in deiner Kammer? Geoffroi wird jeden Augenblick mit unseren Gästen eintreffen.“
Étienne nickte müde. Der Triumph verflog wie Rauch im Wind und wich einem dumpfen Zorn. „Verzeiht, Vater, wie konnte ich es vergessen, die Missgeburt muss verschwinden, damit sie Euch vor den werten Herrschaften nicht in Verlegenheit bringt.“ Das war nur die halbe Wahrheit. Auch wenn keine Gäste auf Arembour weilten, mied Basile seinen Drittgeborenen wie einen Aussätzigen.
„Pass auf, was du sagst, Bürschchen!“ Beinahe angewidert stieß er Étienne von sich, woraufhin dieser rückwärts in den Dreck stolperte.
Mühsam kam er wieder auf die Füße und sah seinem Vater herausfordernd in die Augen. „Ihr bedauert, dass Ihr mich nach der Geburt nicht ersäuft habt wie einen verkrüppelten Welpen, hab ich recht?“
Basile funkelte ihn wütend an und spuckte aus. „Scher dich in deine Kammer!“ Seine Stimme klang gefährlich leise.
Étienne wusste nicht, welcher Dämon ihn trieb, die nächsten Worte auszusprechen. „Ihr wart zu feige, ist es nicht so?“
Mit ungehemmter Kraft traf ihn Basiles Faust zwischen Wange und Unterkiefer und schickte ihn zurück auf den Boden. Er schmeckte Blut auf der Zunge, und sein Schädel dröhnte wie eine Glocke.
„Geh mir aus den Augen, undankbarer Wicht, bevor ich nachhole, was ich damals versäumt habe“, zischte sein Vater. „Und mit dem Bogenschießen ist ein für alle Mal Schluss!“
Ein dumpfes Bersten erklang, als Basile Étiennes auf der Erde liegenden Bogen mit einem Schwertstreich in zwei Hälften teilte.
Étienne schluckte hart und blieb liegen, bis sein Vater sich entfernte. Sein Blick hing an der zersplitterten Waffe. Ein wenig fühlte es sich an, als wäre nicht nur der Bogen in zwei Teile gegangen.
Étienne saß auf seinem Bett und blickte aus dem kleinen Fenster. Unbeeindruckt von seiner düsteren Stimmung blinzelte die Sonne durch die Wolken, und Schwalben jagten mit schrillem Zwitschern über den Hof. Im Schmutz suchten Schweine und Hühner nach Fressbarem, während eine Magd vor der Küche eine Gans rupfte – ein Braten für die abendliche Gasttafel. Er würde davon freilich nichts abbekommen.
Étienne ließ sich auf sein Lager zurücksinken und starrte an die Decke. Seine Wange fühlte sich geschwollen an, und im Kiefer pochte es unablässig. Doch mehr als alles andere schmerzte die Erkenntnis, dass sein Vater ihn verabscheute – weiß Gott keine neue Erkenntnis, doch darum nicht weniger bitter. Er hob den nackten linken Fuß, der den Namen nicht verdiente, und betrachtete ihn angewidert. Abscheuliches Ding! Verworfen und nach innen verdreht wie ein Stück Treibholz, machte er es Étienne unmöglich, normal zu laufen. Durch die angeborene Missbildung war sein Bein verkürzt, sodass sich sein Oberkörper immer ein wenig zur linken Seite neigte und er die rechte Schulter etwas höher trug. Nicht einmal als Hinken ließ sich sein Gang bezeichnen, vielmehr wankte er vorwärts wie ein Tanzbär.
Im Laufe seiner neunzehn Lebensjahre hatte er gelernt, damit umzugehen. Mit dem Eifer eines Kindes, das seinem Vater gefallen will, hatte er sich auf die Beine gekämpft, Reiten gelernt und sich zu einem passablen Bogenschützen gemausert. Für das Kriegshandwerk war und blieb er freilich ungeeignet, stattdessen hatte er sich dem Studium der lateinischen und griechischen Sprache gewidmet und konnte gut mit Zahlen umgehen.
Aber wozu? Nichts davon hatte ihm das Wohlwollen oder gar die Achtung seines Vaters eingebracht. Im Gegenteil, Basile mied den Anblick und die Gegenwart seines verkrüppelten Sohnes, wann immer möglich.
Die Kammertür knarrte, und ein Blondschopf spähte durch die Öffnung.
„Komm herein, Phil.“ Étienne winkte den Knaben zu sich.
Philippe grinste und schlüpfte ins Zimmer. Er zog eine getrocknete Blutwurst und Brot unter seinem Hemd hervor und hielt beides triumphierend in die Höhe.
„Brüderchen, dich schickt der Himmel!“, seufzte Étienne. „Setz dich!“
„Mit besten Grüßen von Margot“, erklärte der Knabe und hüpfte schwungvoll neben ihm aufs Bett.
Étienne nahm den Leckerbissen entgegen und nagte vorsichtig daran herum, um seinen malträtierten Kiefer zu schonen.
„Margot hat mir auch das hier gegeben.“ Philippe holte einen Tiegel aus seiner Kitteltasche. „Sie sagte, du könntest es gebrauchen. Wer war das?“ Er deutete auf Étiennes geschwollene Backe. „Gérard?“
„Vater.“
„Verstehe.“ Der Jüngere öffnete das Gefäß mit der Salbe aus Wundkraut, mit der die Köchin Margot kleinere und größere Blessuren zu versorgen pflegte. Seit dem Tod der Mutter hatte sie es sich zur Aufgabe gemacht, die beiden jüngeren Söhne Arembours zu beglucken und ihnen ein wenig Wärme und Fürsorge angedeihen zu lassen.
Philippe nahm einen Finger voll von dem Balsam und begann geschickt, Étiennes linke Gesichtshälfte damit zu betupfen.
„Morgen wird es blau sein und sicher höllisch wehtun“, prophezeite er. „War es das wert?“
„Himmel, ja! Du hättest Gérards dummes Gesicht sehen sollen! Besiegt von einem Krüppel, was für eine Schmach!“ Étienne tauschte ein Lausbubengrinsen mit seinem Bruder. Doch Philippe wurde gleich wieder ernst. „Wenn Vater dich so sehr hasst, warum schickt er dich nicht ins Kloster?“
„An deiner Stelle?“, erkundigte sich Étienne schmunzelnd.
Philippe zog eine Grimasse. „So schlimm finde ich die Vorstellung nicht, bald Novize zu sein. Mit Waffen kann ich nicht umgehen, und Pferde haben es auf mich abgesehen. Außerdem haben wir mit Gérard und Geoffroi schon zwei Schwertschwinger in der Familie. Unsere Schwester ist verheiratet und weit weg, Mutter ist tot. Ich glaube nicht, dass mich hier jemand vermissen wird – ausgenommen du vielleicht.“ Er lächelte schief.
Étienne musterte seinen kleinen Bruder von der Seite. Es war ihm nie in den Sinn gekommen, dass er selbst nicht der Einzige war, der unter den Umständen litt.
„Ich hab mich das schon öfter gefragt. Warum hat Vater dich nicht Gott versprochen, wenn er dich ohnehin den ganzen Tag wegzusperren versucht?“
Étienne schnaubte freudlos. „Er wollte ja, aber Pater Boniface hat ihm eindringlich davon abgeraten.“
„Wieso das denn?“
„Weil mir die Aufgabe zufällt, Vaters wandelndes – Verzeihung – hinkendes schlechtes Gewissen zu sein.“
„Versteh ich nicht“, gab Philippe zu und runzelte die Stirn.
Wie auch? Étienne hatte es lange selbst nicht begriffen. Es war absurd. Er war mit dem verkrüppelten Fuß geboren worden, in eine Welt, in der Missbildung in aller Augen als Zeichen von Schuld betrachtet wurde. Aber wie hätte ein Neugeborenes sich versündigen können? Man hatte ihn auf den Namen des Heiligen Étienne, dem auch die Kirche in Épineuil geweiht war, taufen lassen, um den Makel abzumildern. Und auch wenn sich zumindest seine Mutter, Bedienstete und Hörige bemühten, ihn zu behandeln wie die übrigen Familienmitglieder, hatte er seine Andersartigkeit immer gespürt – und sich dafür geschämt.
Erst nach und nach hatte sich alles zu einem Bild gefügt. Auch wenn das die Scham kaum linderte. Er war unschuldig schuldig geworden, wie eine Figur aus den griechischen Tragödien, die Pater Boniface ihn immer hatte übersetzen lassen.
„Man könnte sagen, ich bin die Ausgeburt von Vaters Sünden“, erklärte er dem Jüngeren schließlich.
„Du meinst, die Sache mit deinem Fuß soll eine Strafe dafür sein, dass Vater gesündigt hat? Dass er sich … fremde Weiber ins Bett geholt hat und all das?“
„Was weißt du davon?“
Der Knabe zuckte mit den Schultern. „Margot hat’s erzählt.“
„Die gute Margot hat ein loses Mundwerk“, tadelte Étienne, unterdrückte aber ein Grinsen. „Und überaus feine Ohren noch dazu.“ Als er weitererzählte, wurde er wieder ernst. „Zuerst hat Vater unserer Mutter die Schuld zugeschoben und behauptet, ich sei ein Bastard.“
„Wer sollte das glauben?“, fragte Philippe entrüstet. „Du bist sein Ebenbild.“
Étienne brummte unwillig. „Ich fürchte, das lässt sich nicht abstreiten.“ Das kastanienfarbene Haar, die Bernsteinaugen, das Grübchen im Kinn – ihre Verwandtschaft war schon im Kindesalter für jedermann unübersehbar gewesen.
„Mach dir nichts draus“, sein Bruder knuffte ihn aufmunternd in die Seite, „dafür teilst du Mutters gutes Herz!“
Und ihre Verzagtheit, ergänzte Étienne in Gedanken, lächelte aber. „Jedenfalls hat die Ähnlichkeit Vater zu der Einsicht gebracht, dass meine … Missbildung tatsächlich Gottes Strafe für die eigene Unzucht sein muss. Und Pater Boniface hat ihn überzeugt, dass der Allmächtige ihm den verkrüppelten Sohn als ständige Mahnung zu einem gottesfürchtigen und bußfertigen Lebenswandel geschickt hat und er ihn keinesfalls in ein Kloster stecken kann, ohne weiteren Zorn auf sich zu ziehen.“ Étienne atmete tief durch. „Jedes Mal, wenn Vater mich sieht, erinnert ihn das an die eigenen Sünden und Verfehlungen. Du kannst dir vorstellen, dass das nicht gerade seine Zuneigung für mich weckt und er auf meine Gesellschaft lieber verzichtet.“
„Aber das ist himmelschreiend ungerecht!“, empörte sich Philippe. „Warum sollst du für Vaters Sünden büßen? Und das gleich mehrfach.“
Das hatte sich Étienne so oft gefragt – und keine befriedigende Antwort gefunden. „Weil es Gottes Wille ist?“
Philippe schnaubte. „Der verkrüppelte Fuß, meinetwegen. Aber dass Vater dich behandelt wie einen Aussätzigen, damit hat Gott nichts zu schaffen!“
Étienne ließ sich mit dem Rücken gegen die kühle Wand sinken. „Mag sein, dass du recht hast, Brüderchen. Aber es ändert nichts. Ich bin und bleibe der Sündenbock, und damit der Prügelknabe unseres Vaters.“
„Dann musst du eben von hier fliehen!“, forderte ihn Philippe mit der Unerschütterlichkeit eines Zehnjährigen auf.
Étienne lachte leise und verstrubbelte dem Knaben das Haar. „Brüderchen, Brüderchen, so ein kleiner Kopf und schon voll mit rebellischen Gedanken. Die Mönche werden ihre helle Freude an dir haben.“
Brüsk schob Philippe seine Hand beiseite. „Ich meine es ernst, Étienne. Wenn es stimmt, was du sagst, schlägt Vater dich vielleicht eines Tages tot oder lässt dich verhungern oder wer weiß was. Besser, du verschwindest.“
„Nett, dass du dich um mich sorgst, Philippe. Aber wie stellst du dir das vor? Ich bin in meinem Leben nie über Auxerre hinausgelangt. Davon abgesehen würde ich hiermit“, er wies auf seinen Fuß, „kaum weit kommen.“
„Schon mal was von Reiten gehört? Himmel, Étienne, fast könnte man meinen, du suchst einen Vorwand.“
„Ich hab mir nicht ausgesucht, ein Krüppel zu sein“, entgegnete er kühl.
„Aber dein Selbstmitleid schon.“
Étienne schnaubte. „Ha, muss ich mich jetzt von einem Knaben belehren lassen?“
„Wenn der Knabe klüger ist als du.“ Philippe sprang vom Bett. „Überleg’s dir. Ich werde dir helfen, wenn ich kann.“ Ohne ein weiteres Wort schlüpfte er aus der Kammer und schloss die Tür hinter sich.
Stumm blickte Étienne ihm nach. Gut möglich, dass Philippe mit seiner Annahme richtiglag. Diese Erkenntnis beschämte ihn.
Er wandte sich wieder dem Fenster zu. Die Wolken hatten sich vollständig verzogen und einem kornblumenblauen Himmel Platz gemacht. Sein Blick folgte den Schwalben, die immer noch kreuz und quer über den Hof und die Mauern schossen – und darüber hinweg, dem Horizont entgegen.
Er zählte gerade einmal neunzehn Sommer. So Gott wollte, lagen noch viele Jahre vor ihm. Was für eine Zukunft würde ihn in diesen Mauern erwarten? Auf ein Erbe brauchte er nicht zu hoffen, selbst wenn er all seine Geschwister überleben sollte. Als geborener Krüppel blieb ihm jeder Anspruch auf einen Erbteil schon von Gesetz wegen verwehrt. Er würde immer auf die Barmherzigkeit anderer angewiesen sein, auf die Barmherzigkeit von Menschen, die ihn verachteten. Sollte seine Bestimmung tatsächlich darin liegen, als Spiegel für seines Vaters Schuld zu dienen? Konnte das alles sein, was er vom Leben zu erwarten hatte?
Wie Tinte in einer Wasserschale breiteten sich purpurne Schlieren über den Himmel aus und kündigten die heraufziehende Nacht an.
Étienne stand fröstelnd vor der schweren Eichentür, die in den Palas führte. Aus der großen Halle dahinter klangen Stimmen und das glockenhelle Lachen einer Frau an sein Ohr. Sein Herzschlag beschleunigte sich, und nur mit Mühe konnte er den Drang niederkämpfen, auf der Stelle kehrtzumachen. Fest umfasste er den Kreuzanhänger an seinem Hals, bis sich das Schmuckstück in seine Handfläche bohrte.
Ich habe ein Recht, hier zu sein. Ich bin ein Arembour, genau wie meine Brüder. Wie mein Vater. Ob es ihm passt oder nicht.
Es war an der Zeit, diesen Platz einzufordern, nein, es war lange überfällig – das hatte ihm das Gespräch mit Philippe bewusst gemacht. Étienne holte tief Luft und schloss kurz die Augen. Dann stieß er die Eichentür auf.
Die Gespräche an der Tafel verstummten. Blicke hefteten sich auf ihn.
Neben seinem Vater saßen zwei Ritter aus Épineuil mit ihren Gattinnen, die ihn fragend musterten. Außerdem sein Bruder Gérard mit seinem blutjungen Weib Isabelle, Geoffroi und schließlich Philippe, dessen Blick zwischen Étienne und dem Vater hin und her flog und dem das Entsetzen ins Gesicht geschrieben stand – vermutlich nicht allein wegen des Affronts, den Étienne gerade zu begehen im Begriff war, sondern der Konsequenzen wegen, die seinen Bruder erwarteten. Denn dass diese Missachtung seiner Anweisungen nicht folgenlos bleiben würde, daran ließ Basile d’Arembours Gesichtsausdruck nicht den geringsten Zweifel. Es lagen eine Kälte und Feindseligkeit darin, die Étienne schaudern machten. Er schluckte, spürte dann aber den altbekannten dumpfen Zorn und eine gute Portion Trotz in sich aufsteigen. Er hielt sich so aufrecht wie möglich, bemühte sich jedoch nicht, sein scheußliches Hinken zu verbergen. Sollte es ruhig jeder sehen. Ein anderer trug die Schuld an diesem Makel.
„Basile“, wandte einer der Ritter sich mit irritiertem Lächeln an Étiennes Vater, „wer ist das? Willst du uns den jungen Mann nicht vorstellen?“ Ihm konnte die Ähnlichkeit zwischen Étienne und seinem Gastgeber nicht entgangen sein.
„Ich bin Étienne d’Arembour, sein Sohn“, stieß Étienne hervor, ehe sein Vater antworten konnte.
Der Ritter kniff die Augen zusammen und musterte ihn genauer. „Ich … ich wusste nicht, dass du noch einen weiteren Sohn …“ Er verstummte. Die Angelegenheit war ihm sichtlich unangenehm.
„Nur ein Bastard“, erklärte Basile schneidend. Seine Oberlippe bebte in mühsam unterdrückter Wut. „Und als solcher hat er an dieser Tafel nichts zu suchen.“
„Aber …“ Étiennes Mund klappte auf, doch der eisige Blick seines Vaters ließ ihm jedes Wort auf der Zunge erfrieren. Aus dem Augenwinkel erkannte er Philippe, der empört aufgesprungen war, aber von Gérard sogleich auf seinen Stuhl zurückgezwungen wurde.
Étienne holte tief Luft und hob trotzig das Kinn. „Das ist nicht wahr, ich bin sein rechtmäßiger Sohn. Es steht mir zu …“
Basile schnitt ihm mit einer herrischen Geste das Wort ab. „Was dir zusteht, bestimme in diesem Haus immer noch ich! Hier!“
Etwas landete vor ihm auf dem Boden. Durch einen Schleier aus Tränen sah Étienne ein fetttriefendes gebratenes Hühnerbein vor sich in den Binsen liegen. „Bediene dich und dann verschwinde!“
Étienne konnte sich nicht bewegen. Scham ließ ihn vollständig erstarren. Einer der Hunde erhob sich und kam schnüffelnd näher. Vorsichtig zu ihm hochschielend schnappte er nach der Keule zu Étiennes Füßen, um anschließend damit unter dem Tisch zu verschwinden und den Brocken geräuschvoll zu zerkauen.
„Jeder in diesem Haushalt muss wissen, wo sein Platz ist“, setzte Basile nach. Sein Gesichtsausdruck war voller Abscheu. „Gérard, bring ihn zurück in seine Kammer.“ Étienne konnte dem Blick, den Vater und Bruder tauschten, entnehmen, dass es nicht dabei bleiben würde. Aber es war ihm seltsam egal. Keine Tracht Prügel konnte demütigender oder erniedrigender sein als das scheußliche Schauspiel, dessen Hauptdarsteller er gerade war.
Sein Vater würde ihm niemals einen Platz einräumen. Nicht an seiner Tafel, nicht in seinem Leben und schon gar nicht in seinem Herzen. Womöglich hatte es dieser hässlichen Szene bedurft, um ihm das ein für alle Mal klarzumachen. Étienne kam sich unglaublich dumm vor.
Juliane Stadler nimmt uns in ihrem Debüt mit ins 12. Jahrhundert in eine Zeit, zu der sich Europa im Griff der Kreuzzüge befindet. Dort begegnen wir den Helden des Romans, der Handwerkstochter Aveline und Étienne, einem jungen Adeligen. Aveline, die ein finsteres Geheimnis mit sich trägt, schließt sich als Bogenschütze verkleidet dem dritten Kreuzzug an, um in Jerusalem Erlösung zu finden.
Étienne hingegen wird, nachdem er bei einem Überfall fast den Tod findet, von einem Medicus gesund gepflegt. Das Schicksal wird Aveline und Étienne zusammenführen - doch ihre Liebe wird im großen Kampf um das Heilige Land vor eine schwere Probe gestellt ... Neben ihrem außergewöhnlichen Erzähltalent und den authentisch gezeichneten Figuren sind es vor allem die Detailfülle sowie die akribisch recherchierten historischen Fakten, mit denen Juliane Stadler die Welt des Mittelalters zum Leben erweckt.
Frau Stadler, können Sie uns in drei Sätzen sagen, worum es in „Krone des Himmels“ geht?
Um zwei Menschen, die währende der Kreuzzüge Erlösung suchen und Liebe finden. Um Feinde, die zu Freunden, und Kameraden, die zu erbitterten Gegnern werden. Und darum, sich in Zeiten des Krieges die Menschlichkeit zu bewahren.
Wie kamen Sie auf die Idee, einen historischen Roman zu schreiben?
Während meiner Arbeit als Archäologin hat mich immer am meisten fasziniert, die Geschichten in der Geschichte zu finden, die individuellen Schicksale zu rekonstruieren. Doch die Wissenschaft setzt hier, auch in Ermangelung von Schriftquellen, Grenzen. Beim Schreiben eines historischen Romans darf ich dagegen die Leerstellen mit meiner Fantasie
füllen und kann die Vergangenheit in allen Facetten zum Leben erwecken.
Was fasziniert Sie an den Kreuzzügen?
Die Dynamik, die sie über Kontinente hinweg in Form gewaltiger Wanderbewegungen entfaltet haben, das Aufeinandertreffen von Orient und Okzident mit Kulturaustausch und Kulturkonflikt und die zahlreichen kleinen und großen Dramen, die sich in ihrem Schatten abspielten.
In Ihrem Buch schließt sich der junge Adelige Étienne einem reisenden Medicus an. Wie würden Sie die Profession eines Medicus, also eines Wundarztes beschreiben?Knochenbrüche, Kampfwunden, Geschwüre und Krankheiten – der Wundarzt, wie in meinem Fall, arbeitete dort, wo es blutig und schmutzig war. Er renkte Glieder ein, versorgte Verletzungen oder führte den Aderlass aus.
Die Wundärzte waren die Handwerker unter den mittelalterlichen Heilkundigen. Das unterschied sie von den studierten Ärzten, die die Medizin häufig eher theoretisch betrieben und die Diagnostik in den Mittelpunkt stellten.
Ihre andere Hauptperson Aveline muss sich als Frau in der Welt der Kreuzzüge behaupten. Gibt es ein Vorbild für diese Figur?
Ein konkretes Vorbild gibt es nicht, aber zahlreiche Frauen schlossen sich als Pilgerinnen den
Kreuzzügen an. Aus den Quellen weiß man, dass sie auch mitkämpften und gelegentlich als
Männer auftraten, wenngleich beides seltene Ausnahmeerscheinung bleibt.
So wird für die Zeit der Belagerung von Akkon beispielsweise eine Bogenschützin erwähnt,
die zahlreiche Gegner tötete und durch ihr Können sogar Saladins Aufmerksamkeit erlangte.
Muslimische Chronisten berichten außerdem von berittenen und mit Schwert und Rüstung
ausgestatteten Kämpfern, die erst nach ihrem Tod als Frauen erkannt wurden.
In Ihrem Roman geht es auch um den Konflikt zwischen Abendland und Morgenland.
Warum beleuchten Sie beide Seiten?
Es war mir wichtig zu zeigen, dass sich hier nicht Gut und Böse gegenüberstehen, sondern
dass auf beiden Seiten Menschen mit all ihren Schwächen und Stärken, mit sehr individuellen
Interessen und Motiven agierten, und dass Glaubensfragen in diesem Konflikt gar nicht
selten eine untergeordnete Rolle spielten.
Außerdem wollte ich deutlich machen, dass die Bereitschaft zur friedlichen Begegnung und zum Austausch mit dem vermeintlich Fremden damals wie heute zu Verständnis, Respekt oder sogar Freundschaft führte und zu der Einsicht, dass es oft mehr Verbindendes als Trennendes gibt. Eine Lehre die für alle Zeiten gilt.
Wie haben Sie recherchiert?
Ausgangspunkt waren die Zeugnisse christlicher und muslimischer Chronisten und
stapelweise Fachbücher, außerdem diverse Museumsausstellungen. Über die Beschäftigung
mit Kunst, Musik oder Lyrik des Mittelalters habe ich versucht, einen intimeren Zugang zur
Denkweise und Gefühlswelt der Menschen finden.
Aber am intensivsten und mit allen Sinnen lässt sich natürlich bei der Recherche vor Ort in die Geschichte eintauchen. Während einer Reise über Land zu einer Ausgrabung in der Türkei konnte ich auf den Spuren des Barbarossaheeres wandeln, denn noch heute gleicht sich die Route nach Kleinasien in weiten Teilen.
Nachhaltig beeindruckt haben mich Akkon, Jerusalem und die Schauplätze im Heiligen Land, die ich während einer Israelreise besuchte.
Wenn „Krone des Himmels“ verfilmt würde – wer wäre Ihre Traumbesetzung für Aveline und Étienne?
Tatsächlich habe ich da ziemlich konkrete Vorstellungen, allerdings will ich meinen
Leser*innen keine Bilder in den Kopf pflanzen, das überlasse ich lieber ihrer Fantasie. Sollte
tatsächlich mal eine Verfilmung geplant werden, stehe ich aber selbstverständlich gerne für
Castingvorschläge zur Verfügung.
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