Lichter über Golden Creek (Maple Leaf 2) Lichter über Golden Creek (Maple Leaf 2) - eBook-Ausgabe
Roman
— Enemy-to-Lovers-Liebesgeschichte vor der Kulisse Kanadas„Diese Liebesgeschichte zu Lesen hat mich sehr berührt und es hat viel Spaß gemacht. Von mir gibt es eine unbedingte Leseempfehlung für dieses Buch.“ - wodisoft.ch
Lichter über Golden Creek (Maple Leaf 2) — Inhalt
Wohlfühlroman in einer kanadischen Kleinstadt. Zwei verlorene Seelen und ein Neuanfang.Für Fans von „Virgin River“ und „Northern Love“
„Ich wollte dich niemals wiedersehen, Luke. Du hast keine Ahnung, wie sehr ich mir das gewünscht habe. Und jetzt stehe ich nach fünfzehn Jahren hier und frage mich, wie es nur so lange ohne dich ausgehalten habe.“
Als die Grundschullehrerin Rita Thompson nach ihrer gescheiterten Ehe in ihre Heimatstadt Golden Creek zurückkehrt, rechnet sie nicht damit, ausgerechnet Luke Brandson über den Weg zu laufen, der ihr in der Schule das Leben zur Hölle gemacht hat. Aber Rita merkt schnell, dass Luke sich verändert hat. Aus dem Draufgänger von damals ist ein wortkarger, zurückgezogener Mann geworden. Er betreibt eine abgelegene Hundeschlittenranch umgeben von malerischen Bergen und atemberaubender Natur. Luke zieht seine fünfjährige Tochter Mia alleine groß, die seit dem Tod der Mutter sehr zurückhaltend und still ist. Doch Rita schafft es, Mias Vertrauen zu gewinnen und entgegen ihrem Willen schleicht sich der mürrische Luke immer mehr in ihr Herz und das Leben kann manchmal unberechenbar sein.
Leseprobe zu „Lichter über Golden Creek (Maple Leaf 2)“
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Ein Sprichwort besagt, gäbe es das Dunkel nicht, wüssten wir nicht von den Sternen. Während Rita an Deck der Vancouver-Island-Fähre stand, die gerade auf das kanadische Festland zusteuerte, fragte sie sich, ob es diese Sterne in ihrem Leben überhaupt gab. Wenn man zu lange in der Dunkelheit lebte, war man vielleicht gar nicht mehr in der Lage, sie zu sehen. Oder es war so, dass die Dunkelheit alle Sterne verschluckte und man sie deshalb nicht mehr wahrnahm. Sie hatte sich schon unzählige Male den Kopf deswegen zerbrochen, aber war nie zu einem [...]
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Ein Sprichwort besagt, gäbe es das Dunkel nicht, wüssten wir nicht von den Sternen. Während Rita an Deck der Vancouver-Island-Fähre stand, die gerade auf das kanadische Festland zusteuerte, fragte sie sich, ob es diese Sterne in ihrem Leben überhaupt gab. Wenn man zu lange in der Dunkelheit lebte, war man vielleicht gar nicht mehr in der Lage, sie zu sehen. Oder es war so, dass die Dunkelheit alle Sterne verschluckte und man sie deshalb nicht mehr wahrnahm. Sie hatte sich schon unzählige Male den Kopf deswegen zerbrochen, aber war nie zu einem Ergebnis gekommen.
Vermutlich suchte sie einfach nur nach einer Erklärung, warum sie aus dem Sumpf der schlechten Nachrichten und quälenden Gedanken nicht herauskam.
Rita schloss die Augen und lauschte den Wellen, die zischend gegen den Bug der Fähre prallten und dann still und leise im Meer wieder versanken. Als wären sie nie hier gewesen. Vielleicht war das mit den Sternen auch so. Sie tauchten nur kurz auf, um dann wieder sang- und klanglos zu verschwinden. So still und leise, dass man sie nicht einmal bemerkte.
Rita redete sich gerne ein, dass ihre Schwester Emma der Grund dafür war, dass sie Vancouver Island nun verließ, um für die nächsten drei Wochen in ihre Heimatstadt Golden Creek zurückzukehren. Schließlich hatte Emma sie die letzte Zeit damit genervt, zu ihr zu kommen, um einen freien Kopf zu bekommen.
„Komm schon, Ri. Zwei Wochen, vielleicht auch drei. Lass die Insel hinter dir. Du brauchst eine kleine Auszeit.“
Emma hatte es eine Auszeit genannt, doch für Rita war es eher eine Art Davonlaufen. Auch, wenn sie ihr das nicht auf die Nase binden würde.
Ihre jüngere Schwester war der Meinung, Ritas Scheidung und die Kündigung ihrer Stelle als Grundschullehrerin an der Tofino Elementary School waren der Grund dafür, dass sie momentan so neben sich stand. Deshalb bräuchte sie dringend frischen Wind in ihrem Leben – einen „Tapetenwechsel“, wie sie es genannt hatte.
Aber das stimmte nicht, und Rita hatte es nicht über sich gebracht, ihrer Schwester die Wahrheit für ihre trübe Stimmung zu offenbaren. Denn das hätte alles noch viel realer erscheinen lassen.
Der wahre Grund für ihre Niedergeschlagenheit und der Anlass, der letztendlich dazu geführt hatte, dass sie sich ein Fährticket nach Vancouver gekauft hatte, war das Ultraschallbild, das Ex-Ehemann Paul ihr gezeigt hatte. Darauf war ein Fötus zu sehen, nicht größer als eine Himbeere. Eine kleine Blase, die auf dem grau-weißen Foto im ersten Moment vollkommen unbedeutend wirkte.
An den Enden zerknittert, als hätte er es schon ein paarmal aus seiner Hosentasche gezogen. Die Erinnerung daran versetzte ihr einen Stich. Rita hatte das dünne Thermopapier angestarrt, als hätte Paul ihr gerade das Datum ihrer eigenen Beerdigung präsentiert. Vermutlich hätte sie nicht so schockiert sein dürfen, zumal es nicht einmal ihr eigenes war.
Aber genau das war der Punkt.
Es war nicht ihr Ultraschallbild. Und der Mann, der vor ihr stand und dem der Stolz aus jeder Pore quillte, war zwar der Vater des Kindes, aber nicht mehr ihr Ehemann. Der Traum einer eigenen Familie zerplatzte endgültig in genau diesem Moment, und das war Rita schmerzhaft bewusst gewesen.
Paul hatte abends auf der Treppe vor Ritas Wohnung gesessen, als sie von der Arbeit nach Hause gekommen war. Mit einer Rotweinflasche in der Hand und seinem breiten Zahnlückenlächeln hatte er sie empfangen. Sie kannte ihn gut genug, um genau dieses Lächeln richtig einschätzen zu können. So hatte er auch auf ihrem Hochzeitsfoto ausgesehen. Aber Rita musste zugeben, dass sie dieses Lächeln im Laufe ihrer Ehe immer seltener zu sehen bekommen hatte.
Sie wusste nicht, was an seinem Zustand sie mehr kränkte. Dass er so unglaublich glücklich war oder dass dieses Glück absolut nichts mit ihr zu tun hatte.
Paul hatte sich auf das walnussbraune Ledersofa, das sie gemeinsam vor fünf Jahren gekauft und das er ihr nach der Scheidung überlassen hatte, gesetzt und Rita besagtes Ultraschallbild entgegengehalten.
Von seinen Worten wurde ihr immer noch übel.
„Ich werde Vater, Rita. Kannst du dir das vorstellen? Ausgerechnet ich?“ Er hatte gelacht, und sie hatte kaum noch Luft bekommen.
Empathie hatte noch nie zu seinen Stärken gezählt.
Er strahlte über das ganze Gesicht und sah ihr in die Augen, konnte aber den Schmerz darin einfach nicht erkennen. Sonst hätte er sich zurückgehalten. Wie jeder normale Mensch in dieser Situation.
Sie hatten so viele Male versucht, schwanger zu werden. Gemeinsam hatten sie die Tage gezählt, in denen eine Schwangerschaft möglich gewesen wäre, und zusammen hatten sie auf die zwei erlösenden Striche auf dem Schwangerschaftstest gewartet. Als sich auch nach zwei Jahren nichts ergeben hatte, war ihrer beider Welt zusammengebrochen. Sie hatten sich beraten lassen, sich durchchecken lassen, aber kein Arzt konnte einen Grund für das Ausbleiben der Schwangerschaft finden. Es sei Kopfsache, hatte man ihr gesagt. Sie müssten loslassen.
Das hatte Paul wörtlich genommen. Er hatte sie losgelassen. War aus der Wohnung ausgezogen und hatte irgendwann die Scheidung eingereicht. Und jetzt würde er Vater werden. Unzählige Male hatte sie sich dieses Szenario ausgemalt: wie er es stolz wie Oskar seinen Arbeitskollegen davon erzählen würde. Oder sich nachts aus dem Bett quälen, um ihrem Kind die abgepumpte Muttermilch zu geben, damit Rita ein paar Stunden Schlaf bekäme. Oder wie er seinem Kind das Fahrradfahren beibringen würde. Oder …
Ja, das Problem war, sie konnte es sich zu gut vorstellen.
Und genau diese Tatsache machte es noch viel schwieriger für sie. Denn sie beide hatten jahrelang dieselben Träume gehabt, aber jetzt wurde dieser Traum nur für ihn wahr.
Da war ihr Emmas Einladung wie ein Rettungsring erschienen.
Sie musste hier weg, genau! Weg von der Insel. Am liebsten wäre sie vor ihrem eigenen Leben davongelaufen. Denn auf keinen Fall würde sie so die nächsten Monate überstehen. Pauls neue Freundin wohnte nur wenige Straßen entfernt. Rita erinnerte sich nicht einmal an ihren Namen. Bethany? Brittany? Bertha? Vermutlich spielte das auch keine Rolle. Sie wusste nicht, wie Pauls Zukunftsplanung aussah, aber solange sie noch in der Nähe der beiden wohnte, wollte sie sich hier nicht aufhalten. Denn zwangsläufig würde sie ihr wohl über den Weg laufen. Ihr und ihrem immer größer werdenden Babybauch. So masochistisch war sie nicht, dass sie sich diesen Schmerz antat.
Doch dann hatte Emma angerufen.
In den nächsten drei Wochen musste sie sich klar darüber werden, wie ihr Leben weitergehen sollte.
Vielleicht würde sie Vancouver Island für immer verlassen und stattdessen an die Ostküste ziehen. Ihre alte Schulfreundin Uma aus Calgary lebte dort, und Rita hatte sie seit Jahren nicht gesehen. Oder sie könnte nach Europa gehen. Rita hatte schon immer eine Vorliebe für Sprachen gehabt, und ihre Kenntnisse des Französischen wie auch des Italienischen waren gut genug, um nach Paris oder Rom zu ziehen.
Egal, was sie auch vorhatte, sie musste sich langsam entscheiden.
Drei Wochen waren eine absehbare Zeit.
Sie hatte vorerst niemandem von ihrer Fahrt nach Golden Creek erzählt. Nachdem ihr Vertrag als Aushilfslehrerin gekündigt worden war, hatten sie derzeit keine neue Anstellung. Was ihr einerseits schlaflose Nächte bescherte, weil sie ständig über ihre finanzielle Situation nachdachte, hatte andererseits auch Vorteile, denn so musste sie niemanden bei ihrem Entschluss, die Insel zu verlassen, berücksichtigen.
Nur ihrer besten Freundin Jessy hatte sie davon erzählt, und im ersten Moment war Rita sich nicht sicher gewesen, ob dies wirklich eine gute Idee gewesen war.
„Du hast was vor?“, hatte Jessy gerufen und dabei geklungen, als hätte Rita ihr gerade den Plan für einen Banküberfall mitgeteilt.
Rita seufzte und lehnte sich gegen die Arbeitsplatte, während ihre Freundin am Küchentisch saß, sie stumm musterte und dabei mit ihren rot lackierten Fingernägeln ungeduldig auf die Tischplatte tippte.
„Ich muss hier weg, Jess. Ich weiß, es ist total irrational, was ich mache, aber ich habe das Gefühl, zu ersticken.“
Sie hatte Jess alles erzählt, und obwohl es immer hieß, Reden befreie die Seele, spürte sie in diesem Moment nichts davon. Im Gegenteil, Rita fühlte sich, als wäre ein Teil von ihr eingesperrt und jemand hätte den Schlüssel weggeworfen.
Jess sah sie einen Moment stumm an, dann stand sie auf, der Stuhl kratzte über den Fußboden, und zog Rita in eine Umarmung. Mit warmen Händen strich sie ihr über den Rücken, und nun spürte Rita nichts als Erleichterung.
„Du hast keine Ahnung, wie froh ich bin, dass du endlich einmal unvernünftig bist.“
Verwirrt trat Rita einen Schritt zurück. „Tatsächlich?“
Einen Moment lang sah ihre Freundin ganz zerknirscht aus, und Rita fragte sich unwillkürlich nach dem Grund dafür. „Jetzt kann ich es dir ja sagen. Ich habe Emma schon vor einer Weile gebeten, dich dazu zu bringen, nach Golden Creek zurückzufahren. Schon als Paul ausgezogen ist.“
Damit hatte sie nicht gerechnet. „Warum?“
„Ist das nicht offensichtlich? Es geht dir nicht gut. Du musst hier weg und mal alles hinter dir lassen.“
Das hatte sie schon einmal getan. Zwar damals unfreiwillig, aber trotzdem. Davonlaufen schien in ihrer Familie ein großes Thema zu sein.
Rita lachte laut auf. „Und du hast gedacht, in Golden Creek würde es mir besser gehen? Die Leute dort sind wie Haie. Sobald sie merken, dass du angeschlagen bist, beißen sie zu und lassen dich nicht mehr in Ruhe.“
Jessy verschränkte die Arme vor der Brust. „Deine Schwester hat den Eindruck hinterlassen, dass es ihr dort sehr gut geht.“ Dann senkte sie die Stimme. „Das wünsche ich mir auch für dich.“
Rita presste die Lippen zusammen, aber sie musste zugeben, dass Jess recht hatte. Vor ein paar Wochen hatte Emma sie beide bei einem gemeinsamen Mädelsabend per Videocall förmlich überfallen und dabei so glücklich gewirkt, dass Rita ganz warm ums Herz geworden war. Niemand hatte es mehr als ihre kleine Schwester verdient, endlich anzukommen. Rita erinnerte sich nur zu gut, wie die Creeks mit ihr umgegangen waren.
Nach dem Tod ihrer Mutter hatte Rita deren Stelle eingenommen und sich um die Familie gekümmert. Ihre Schwester Lou hatte nur Cooper Pullman im Kopf gehabt, und Emma war so sehr in ihrer Trauer versunken, dass sie ihrem Teenager-Ich alle Ehre gemacht und sie an allen Fronten rebelliert hatte: hatte die Schule geschwänzt, sich auf Partys herumgetrieben und war letztendlich auch noch von einem Urlaubsflirt schwanger geworden. Ihrem Vater war das irgendwann alles zu viel gewesen geworden, obwohl Rita zugegeben musste, dass sie ihm oftmals ungerechtfertigt die Schuld an allem gegeben hatte. Natürlich hatte er unter dem Tod seiner Frau gelitten, aber die Mädchen hatten ihre Mutter verloren. Er hätte für sie da sein müssen, anstatt sich in seinem Schmerz zu suhlen.
Jetzt aber war Emma nach Golden Creek zurückkehrt, hatte sich ihrer Vergangenheit gestellt und hatte sich mit den Creeks auseinandergesetzt. Zwar hatte sie auch zu kämpfen gehabt, aber mittlerweile schien sie dort glücklich zu sein.
In ihrem tiefsten Inneren hoffte Rita, dass auch sie dort Ruhe finden würde. Die Hoffnung starb ja bekanntlich zuletzt.
Als Jess zurückgetreten war, hatte sie ihre Hände nicht losgelassen. „Fahr nach Golden Creek, und hör auf, über die Vergangenheit nachzudenken. Und damit meine ich deine gescheiterte Ehe und deine Erfahrungen mit diesen Creeks. Wer weiß, was dort alles auf dich zukommt.“
Genau davor hatte Rita am meisten Angst.
Mit einer Hand umklammerte Rita die Reling, während sie an ihrem Pappbecher nippte, der mit mittlerweile kaltem Minztee gefüllt war. Angewidert verzog sie das Gesicht. Sie hatte ihn sich vor über einer Stunde aus einem der Automaten im Unterdeck geholt, um sich ein wenig aufzuwärmen, aber jetzt schmeckte er nur noch wie schales Wasser mit einem ausgelutschten Kaugummi darin.
Aus den Lautsprechern dröhnte die Stimme des Kapitäns, der den Passagieren mitteilte, dass sie in fünfzehn Minuten anlegen würden.
Eisiger Wind blies Rita ins Gesicht, gepaart mit ein paar vereinzelten Regentropfen. Sie hatte Mühe, ihre Haare im Zaun zu halten, ganz zu schweigen von der Kapuze, die der Wind ihr ständig vom Kopf wehte.
Das Dröhnen der Maschinen wurde immer lauter, während sich die Fähre bereits in die richtige Position drehte, um am Hafen von Vancouver einzulaufen. Ihr Wagen hatte vor ein paar Wochen den Geist aufgegeben, deswegen hatte Emma ihr angeboten, sie vom Hafen abzuholen. Ihr Magen knurrte, und kurz zuckte sie vor Schmerz zusammen. Sie hoffte, Emma hatte genügend Zeit eingeplant, dass sie sich am Hafen noch eine Kleinigkeit zu essen kaufen konnte. Sie starb fast vor Hunger.
Rita schmeckte Salz auf den Lippen, und der Geruch von Stockfisch stieg ihr in die Nase. Vor fünfzig Minuten hatte sie die Insel verlassen, und der Gedanke daran, bald auf dem Festland anzukommen, verursachte ihr Übelkeit.
Mühsam versuchte sie die Geräusche um sich herum so gut wie möglich auszublenden: die Unterhaltungen der anderen Passagiere; das Kreischen der Möwen; das Pfeifen des Windes. Rita konzentrierte sich voll und ganz auf die Erinnerungen, die für sie nach den Ereignissen der vergangenen Wochen wie ein Rettungsring waren. Sie verhinderten, dass sie ertrank.
Ihr letzter Besuch in der Kleinstadt Golden Creek war über fünfzehn Jahre her. Rita, ihre Schwestern Emma und Louisa und ihr Vater hatten den Ort damals in einer Nacht-und-Nebel-Aktion verlassen und waren nie wieder zurückgekehrt – bis natürlich auf Emma vor Kurzem.
So verrückt es sich anhörte, sie hatten Golden Creek damals verlassen, weil Emma schwanger geworden war … und jetzt kehrte Rita zurück, weil sie nicht schwanger war.
Wehmütig erinnerte sie sich an Golden Creek. An das Rascheln der Blätter, den Fluss, der sich am Ortsende durch die Rockys schlängelte und dem die Stadt ihren Namen verdankte, den Geruch von Speck und Ofenkartoffeln, die Blockhäuser und das Heulen der Kojoten.
Sie umklammerte die Reling ein wenig fester.
Wieder dröhnte die raue Stimme des Kapitäns über das Deck, der die Passagiere darum bat, sich für die Ankunft und das Verlassen des Schiffs fertig zu machen.
Nervosität drang in jeden Winkel von Ritas Körper. Sie war sich nur nicht sicher, wovor sie soeben davonlief: vor ihrer Vergangenheit oder ihrer Zukunft.
2
Das durfte doch nicht wahr sein.
Emma war weit und breit nirgends zu sehen. Seit zwanzig Minuten stand Rita bereits am Hafen und wartete, aber ihre Schwester war immer noch nicht aufgetaucht. Nach und nach hatten die anderen Gäste die Fähre verlassen, und es standen bereits einige Autos bereit, die die Überfahrt zurück auf die Insel gebucht hatten.
Ihre Finger wanderten zu ihrem Handy, das sich in der Manteltasche befand, zog es heraus und bemerkte, dass ihr Akku den Geist aufgegeben hatte.
Mist! Sie hatte vergessen, das Smartphone auf der Fähre zu laden.
Rita hatte gehofft, dass Emma wie vereinbart am Hafen stehen würde, wenn die Fähre anlegte. Aber irgendwie wurde sie das Gefühl nicht los, dass Emma sie vergessen hatte. Was sollte sie denn machen, wenn dem so war? Ein Schauer jagte Rita über den Rücken. Sie konnte die Strecke ja schlecht zu Fuß zurücklegen.
Nach Golden Creek waren es von hier gut und gerne zwei Stunden Autofahrt. Sie könnte versuchen, bei jemandem per Anhalter mitzufahren, verwarf den Gedanken aber sofort wieder. Emma würde schon noch kommen. Irgendwann. Bestimmt.
Ritas Blick wanderte durch die Autoschlange. Gerade einmal fünf Autos reihten sich ein, um das Festland wieder verlassen zu können. Sie konnte nicht erkennen, ob es sich hier um Einheimische oder Touristen handelte, aber letztendlich spielte es auch keine Rolle. Sie würde sich um ein Taxi bemühen müssen, wenn sie hier nicht Wurzeln schlagen wollte. Rita packte ihren Koffer, griff nach der Regenjacke, die sie sich um die Hüfte gebunden hatte, und zog sie über ihre Daunenjacke. Dem grauen Himmel nach zu urteilen, würden sich die vereinzelten Tropfen bald zu einem richtigen Regenguss entwickeln.
Vielleicht war ihre Flucht doch keine gute Idee gewesen.
Als hätte der Himmel ihre Gedanken gehört, begann es plötzlich, in Strömen zu regnen. Rita zog sich die Kapuze über den Kopf und hielt sie mit der einen Hand fest, während sie mit der anderen nach dem Koffer griff und den Fußweg überquerte. Vielleicht fand sie ja eine Möglichkeit, sich irgendwo unterzustellen, bis die Sturzflut nachgelassen hatte.
In diesem Moment sah sie ihn. Den Pick-up. Sie hätte ihn unter Tausenden wiedererkannt. Der rostrote Lack ähnelte der Haarfarbe aller Thompson-Mädchen, und die große Delle auf der Motorhaube, die Cooper Pullman als Teenager mit seinem Baseball dort hinterlassen hatte, als er ihn eines Nachts aus dem Fenster ihrer Schwester Lou geworfen und versehentlich den Wagen getroffen hatte, war ein eindeutiger Beweis dafür, dass es sich um den ehemaligen Pick-up ihres Dads handelte.
Emma benutzte ihn, seit sie letztes Jahr von Calgary nach Golden Creek gezogen war.
Der Pick-up stand ein paar Meter von ihr entfernt am Straßenrand. Rita griff nach ihrem Koffer, hielt dann allerdings inne, als sie einen Mann hinter dem Steuer erkannte. Sie runzelte die Stirn und fragte sich, wer er wohl war. Trotz der Entfernung konnte Rita aus dem Inneren des Wagens verschiedene Stimmen hören. Entweder hatte er eine ganze Fußballmannschaft darin verstaut, oder aber er telefonierte über die Freisprechanlage. Seinen wilden Gesten nach zu urteilen, schien es sich um kein angenehmes Gespräch zu handeln. Neugierig ging sie auf den Wagen zu, blieb neben dem Kotflügel stehen und warf einen Blick durch das Beifahrerfenster. Er war so sehr in das Gespräch vertieft, dass er sie gar nicht bemerkte.
Vielleicht hatte Emma diesen Mann ja gebeten, sie abzuholen, weil sie selbst verhindert war. Was durchaus möglich war, schließlich arbeitete Emma als Sozialarbeiterin in Golden Creek, ihr Beruf kam ihrem Privatleben öfter in die Quere. Vielleicht war ihr also einfach etwas dazwischengekommen, und Emma hatte vergessen, ihr Bescheid zu geben. Oder sie hatte es versucht, Rita jedoch einfach nicht erreicht.
Gerade, als die Stimmen verstummten und er im Begriff war, den Motor anzulassen, erwachte Rita aus ihren Gedanken und klopfte wild gegen die Fensterscheibe. Mittlerweile war sie nass bis auf die Haut. Der Regen lief ihr sogar über den Nacken den Rücken hinunter, sodass sie vor Kälte zitterte. Als der Fahrer ihr den Blick zuwandte, sah sie das als stille Aufforderung, riss die Wagentür auf und ließ sich keuchend auf den Beifahrersitz fallen. Zu spät bemerkte Rita, dass der Sitz dadurch nass wurde, aber in diesem Moment war es ihr egal. Wenn sie die nächste Woche nicht mit einer Erkältung im Bett verbringen wollte, musste sie ins Warme und sich umziehen.
Den Koffer klemmte sie zwischen ihre Beine und wischte sich ein paar nasse Haarsträhnen aus dem Gesicht, die auf ihrer Wange klebten.
Ihr Blick wanderte zu dem Fahrer, der zwar in ihre Richtung blickte, aber Rita war sich nicht sicher, ob er sie wirklich ansah. Sein Baseballcap der Toronto Blue Jays hatte er sich so tief in die Stirn gezogen, sodass sie nur einen Teil seines Gesichts sehen konnte. Dazu trug er auch noch einen Vollbart. Lediglich das Brummen, das er ausstieß, zeigte ihr, dass er von ihrem Erscheinen nicht sonderlich begeistert zu sein schien. Aber das spielte keine Rolle. Sie war schließlich hier, um ein wenig zur Ruhe zu kommen und viel Zeit mit ihrer Schwester zu verbringen. Mit brummigen Einheimischen würde sie schon klarkommen. Das war früher so gewesen, und daran hatte sich mit Sicherheit nichts geändert.
„Hey, ich bin Rita. Meine Fähre ist gerade angekommen.“ Sie deutete mit dem Daumen über ihre Schulter in die Richtung, aus der sie gekommen war. Sie musste sicherlich nicht mehr erklären, Emma hatte ihn bestimmt eingeweiht.
„Das freut mich für Sie“, sagte er in einem mürrischen Ton, der Rita einen Schauer über den Rücken laufen lief. Seine Stimme klang tief. Richtig tief. Ozeanmäßig tief. Und ein wenig rau.
Als hätte er schon einige Nächte keinen Schlaf mehr bekommen. Wenn sie ihn so betrachtete, sah er auch ein wenig so aus. Zumindest das, was von ihm zu erkennen war. Seine breiten Schultern hingen ein wenig herab. Irgendwie wirkte er müde, fast schon niedergeschlagen. Soweit ich es beurteilen konnte, war er ein gut aussehender Mann. Allerdings wäre er mit einem Lächeln im Gesicht noch ein klein wenig attraktiver.
Warum wurde sie das Gefühl nicht los, dass sie diesen Mann kannte? Eigentlich konnte sie ja kaum etwas von ihm erkennen, trotzdem wurde sie das Gefühl nicht los, ihm schon mal begegnet zu sein. Was irgendwie albern klang, denn schließlich war sie in den letzten fünfzehn Jahren nicht mehr hier gewesen. Und hatte sie da Sarkasmus aus seiner Stimme herausgehört? Nein, bestimmt täuschte sie sich. Sein Blick wanderte an ihrer nassen Kleidung entlang, und sie folgte ihm. Sie war nass bis auf die Haut und konnte gar nicht mehr aufhören zu zittern.
„Tut mir leid, es ist furchtbar kalt draußen. Wenn ich gewusst hätte, dass hier arktische Temperaturen herrschen, wäre ich auf der Insel geblieben. Dabei haben wir gerade mal September.“ Dass es auf Vancouver Island ähnlich kalt gewesen war, verschwieg sie, sonst wäre sie sich noch dämlicher vorgekommen.
Schweigen. Er sagte nichts weiter dazu, starrte sie nur unverwandt an. Dann aber startete er den Motor, beugte sich vor und drückte ein paar Knöpfe, die sich auf dem Armaturenbrett befanden. Sofort blies ihr die Wärme ins Gesicht, und nach wenigen Sekunden bemerkte sie, wie ihr Sitz warm wurde. Dankbar für diese aufmerksame Geste, lächelte sie ihn an. Nur leider erwiderte er dieses Lächeln nicht.
Er machte leider keinerlei Anstalten, loszufahren. Stattdessen lehnte er sich wieder zurück und verschränkte die Arme vor der Brust. Fragend warf Rita einen flüchtigen Blick aus dem Fenster und wandte sich wieder ihm zu.
„Warten wir noch auf jemanden?“ Rita rieb sich die Hände. Zum einen vor Kälte, zum anderen vor Nervosität. Normalerweise konnte sie nichts so leicht aus der Ruhe bringen, aber diese Situation überforderte sie ein wenig.
Hatte Emma ihm vielleicht aufgetragen, noch weitere Gäste mitzubringen? Konnte das sein? Sie fragte sich, wo diese wohl sitzen sollten. Die Rückbank war umgeklappt, und Rita bezweifelte, dass sie von der Idee begeistert wären, auf der Ladefläche des Pick-ups Platz zu nehmen. Als Kinder hatte ihr Dad sie immer dort sitzen lassen, wenn sie gemeinsam in die Nachbarstadt Squamish gefahren waren oder wenn er sie zum Angeln mitgenommen hatte, aber sie glaubte nicht daran, dass die Cops heutzutage noch ein Auge zudrücken würden. Rita warf ihm einen fragenden Blick zu, auf den er nicht reagierte.
Sein Gesichtsausdruck ließ nicht erkennen, was er dachte. Am liebsten hätte sie ihm das Cap vom Kopf gerissen, um seine Augen sehen zu können. Irgendwie machte sie das noch nervöser. Was, wenn er ein Serienkiller war? Würde dann jemand nach ihr suchen? Vielleicht gehörte das zu seinem Plan, und er wartete deshalb am Hafen, damit er ihre Leiche ins Meer werfen konnte. Rita schloss kurz die Augen, um einen klaren Gedanken fassen zu können. Sie hatte zu viele Thriller gesehen. Reiß dich zusammen, ermahnte sie sich. Als sie die Augen wieder öffnete, entdeckte sie eine kleine Stoffpuppe, die sich auf dem Armaturenbrett befand. Bisher war sie ihr gar nicht aufgefallen.
„Wir?“
Rita riss die Augen auf und starrte ihn an. Ihre Verwirrung wurde immer größer.
„Warum fahren Sie denn nicht los?“
Wieder Schweigen.
Dann drehte er den Zündschlüssel um, sodass das Dröhnen des Motors und auch die warme Luft aus der Heizung erstarben. Die Stille, die einsetzte, war ein wenig unheimlich.
Er verschränkte die Arme vor der Brust und lehnte sich in seinem Sitz nach hinten.
„Das liegt vermutlich daran, dass Sie in meinem Wagen sitzen und ich keine Ahnung habe, was Sie eigentlich hier wollen“, sagte er trocken.
Ihre Unsicherheit wurde immer größer, aber sie reckte das Kinn und ließ sich nichts anmerken. Rita dachte kurz darüber nach, ihn zu informieren, dass der Wagen ihrer Schwester Emma gehörte, verwarf ihn aber sofort wieder. Das spielte jetzt keine Rolle.
„Kommen Sie nicht aus Golden Creek?“
Er nickte. Kurz und energisch. „Doch.“
Erleichterung machte sich in ihr breit. „Gott sei Dank! Für einen Moment dachte ich schon, Sie wären ein Serienkiller.“ Das Kichern, das ihr entkam, klang ein wenig hysterisch.
„Durchaus möglich.“
Okay, der Typ war definitiv ein wenig unheimlich. Auch wegen der Art, wie er sie musterte. Als würde er jeden Zentimeter von ihr sich genau einprägen. Was würde sie darum geben, in seine Augen sehen zu können. Er hatte eine kräftige Statur und war so groß, dass sein Kopf fast den Himmel des Pick-ups berührte.
„Ich gebe es nur ungern zu, aber sie machen mir ein wenig Angst.“
„Tja, dann sollten Sie nicht zu Fremden ins Auto steigen. So was wird bereits Kindern beigebracht. Aber anscheinend ist dieser Selbstschutzmechanismus noch nicht auf der Vancouver Island angekommen.“
„Hat Ihnen schon mal jemand gesagt, dass Sie ziemlich unverschämt sind?“
„Ständig. Und wissen Sie was? Es ist mir scheißegal.“
Jetzt war sie es, die ihn stirnrunzelnd ansah und dabei die Stimme ihrer Mutter hörte, die ihr tadelnd mitteilte, dass sie davon eine Menge Falten bekäme.
„Sie sollten an ihrer Ausdrucksweise arbeiten. Das ist unhöflich. Erst recht, wenn sich Kinder in Ihrer Nähe aufhalten.“
Langsam zog er eine Augenbraue nach oben. „Wer sind Sie, meine Mutter?“
Rita biss sich auf die Unterlippe. In solchen Momenten kam die Lehrerin in ihr durch und sie schloss einen Augenblick die Augen. Er hatte recht, sie hatte kein Recht einen wildfremden Mann zu sagen, wie er sich benehmen sollte. Sie wollte endlich nach Hause. Zumindest, wenn man Golden Creek noch so nennen konnte.
„Tut mir leid, Sie haben recht. Es geht mich nichts an.“
„Wie kommen Sie überhaupt darauf, dass ich ein Kind habe?“
Mit einem Lächeln deutete sie auf die Puppe vor ihr. „Ist das denn Ihr Spielzeug?“
Er folgte ihren Blick. Einen Moment sagte er nichts, dann zog er sich das Cap vom Kopf und rieb sich den Nacken. Ihr stockte der Atem, denn irgendwie kam er ihr bekannt vor. Aber sie konnte nicht ihn so recht einordnen. Wie gebannt starrte sie ihn an und stellte fasziniert fest, wie seine Miene weicher wurde und Ritas Herz setzte einen Moment aus.
„Nein, sie gehört meiner Tochter.“ Rita wurde ganz anders zumute als sie ihn ansah. Da war dieser Blick, den nur ein Vater hatte, der sein Kind abgöttisch liebte. Dieser Blick voll mit Wärme und Zuneigung. Wieder einmal wurde es Rita schwer ums Herz. Sie musste endlich lernen mit dem Schmerz umzugehen.
Der Fremde drehte sich ein wenig zu ihr herum und sah sie an. „Sie ist fünf und spricht kaum, aber manchmal plappert sie ein paar Wörter nach, die sie von mir aufschnappt. Auch die richtig schlimmen Wörter. Es gibt nur noch uns zwei, ich sollte ihr Vorbild sein. Also haben Sie recht, ich muss wohl mehr darauf achten, was ich sage.“
Bedauern und Mitgefühl machten sich in ihr breit. Dass er auch noch ein alleinerziehender Vater war, machte das alles noch viel schlimmer für sie. Sie wollte nicht anmaßend sein und ihn über die Mutter des Kindes ausfragen. Das stand ihr nicht zu, schließlich kannten sie sich gar nicht. Deshalb schenkte ihm Rita ein mitfühlendes Lächeln. Am liebsten hätte sie sich in Luft aufgelöst. Sie wollte nur noch hier weg.
Und dann kam die Frage, die ihr den Boden unter den Füßen wegriss. Wieder einmal.
„Haben Sie auch Kinder?“
Ihr Magen zog sich vor Schmerz zusammen. Langsam schüttelte sie langsam den Kopf und hoffte, dass sie die nächsten Worte aussprechen konnte.
„Nein, habe ich nicht. Aber ich bin Lehrerin und lege bei meinen Schülern großen Wert auf eine ordentliche Ausdrucksweise.“
Jetzt bitte fahr los, flehte Rita stumm und blickte aus dem Fenster. Bitte.
Aber der Mann machte keinerlei Anstalten. Rita verlor langsam die Geduld.
„Hören Sie. Sagt Ihnen der Name Rita Lincoln gar nichts?“
„Nein.“ Er nahm kein Blatt vor den Mund. Auf seltsame Weise machte ihr ihn das sogar sympathisch.
„Niemand hat Sie geschickt, um mich abzuholen?“
„Nope.“
„Sie kommen nicht von Emma Thompson?“ Langsam kam sie sich ziemlich dumm vor, aber diesmal merkte sie, wie er kurz erstarrte. Alles an ihm wirkte angespannt.
Ah, er kannte Emma also. Das waren schon mal gute Nachrichten. Aber er reagierte nicht weiter darauf. Vielleicht hatte sie es sich nur eingebildet …?
„Nein.“
„Okay“, sagte sie gedehnt, und schlagartig wurden ihr die Ausmaße ihres Irrtums bewusst. Emma hatte sie tatsächlich vergessen. Verdammt! Und sie saß mit einem wildfremden Kerl im Wagen. Gott, hatte sie sich lächerlich gemacht! Der Typ musste sie ja für vollkommen durchgeknallt halten.
Rita schossen Tränen in die Augen. Vor Wut und auch vor Erschöpfung. Sie hatte seit Tagen nicht mehr geschlafen.
„So ein Mist!“, fluchte sie, fischte ihr Handy aus der Manteltasche, nur um sogleich daran erinnert zu werden, dass dessen Akku leer war. Konnte der Tag noch schlimmer werden?
„Woher kennen Sie Emma?“
Rita überlegte fieberhaft, wie sie jetzt nach Golden Creek kommen sollte. Ein Taxi würde ein Vermögen kosten, und eine Busverbindung zwischen Vancouver und Golden Creek gab es immer noch nicht.
Vielleicht konnte sie Jamie kontaktieren, Emmas besten Freund, der auch der Bürgermeister von Golden Creek war. Er wüsste bestimmt, wo Emma sich gerade aufhielt, oder vielleicht jemanden schicken, der sie abholen konnte.
Ein tiefes Räuspern riss sie aus ihren Gedanken. Verwirrt sah sie ihn an. „Ja?“
„Ich habe Sie gefragt, woher Sie Emma kennen.“
Rita hob fragend eine Augenbraue. „Ich wüsste nicht, was Sie das angeht.“
„Sie sitzen in meinem Wagen, wenn ich Sie daran erinnern darf. Mein Wagen – meine Regeln.“
Rita verschränkte die Arme vor der Brust und funkelte ihn an. „Wenn man es genau nimmt, dann ist das Emmas Wagen, oder nicht?“
„Nicht mehr.“
Verblüfft starrte Rita ihn an. „Sie hat Ihnen den Wagen verkauft?“
Einen Moment stockte er, dann begann er langsam zu nicken.
Rita wusste nicht, ob er die Wahrheit sagte, und eigentlich spielte es auch keine Rolle.
„Na schön. Ich bin ihre Schwester. Nehmen Sie mich jetzt mit nach Golden Creek?“
Wieder erstarrte er, aber seine Reaktion war noch ein wenig heftiger als zuvor. Rita fragte sich, ob sie etwas Falsches gesagt hatte. Aber sie konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, was. Einen Moment lang starrte er sie einfach nur an.
„Haben Sie nicht gesagt, Sie heißen Lincoln?“
„Ich habe geheiratet und … wobei, eigentlich bin ich geschieden. Na ja, spielt auch keine Rolle. Mein Mädchenname ist Thompson. Rita Thompson.“ Dann runzelte sie die Stirn. „Wo wir uns gerade so schön vorstellen, wie ist denn eigentlich Ihr Name?“
Ein seltsamer Ausdruck huschte über sein Gesicht, aber dann verschwand er wieder, es wirkte, als hätte er einen Vorhang fallen lassen. Er schien ihre Frage komplett überhört zu haben, denn er schüttelte den Kopf. „Nein.“
Verwirrt sah sie ihn an. „Nein? Sie haben also keinen Namen?“
„Nein, ich nehme Sie nicht mit nach Golden Creek.“
Unglaube machte sich in ihr breit. Das konnte er doch nicht ernst meinen.
„Sie wollen mich hier zurücklassen? Im Ernst?“
„Ich sage es gerne noch mal: mein Wagen, meine Regeln. Außerdem kommen Sie sicherlich alleine zurecht. Wenn Sie jetzt bitte aussteigen? Ich habe zu tun.“
Das konnte er doch nicht ernst meinen. Und was meinte er damit: Sie kommen sicherlich alleine zurecht? Dieser Satz rührte an etwas in ihr, das sie nicht zuordnen konnte. Was hatte das zu bedeuten?
Mit weit aufgerissenen Augen sah Rita sich um. „Tatsächlich? Für mich sieht es so aus, als würden Sie planlos in der Gegend herumstehen.“
Wieder dieser mürrische Gesichtsausdruck. Himmel, der Kerl würde ihr jeden Moment ins Gesicht springen, aber das war ihr egal. Wie konnte er nur so unhöflich sein!
Rita konnte es immer noch nicht fassen. Was war das nur für ein Mistkerl? Er konnte sie doch nicht einfach hier im Regen stehen lassen. Aber sie würde ihn auch nicht noch mal bitten.
„Wissen Sie was? Ich will gar nicht mit Ihnen mitfahren. Lieber gehe ich zu Fuß nach Golden Creek, als nur noch eine Minute mit Ihnen hier in dem Wagen zu verbringen.“
Sie griff nach ihrem Koffer und stieß die Fahrertür auf. Noch bevor sie ausstieg, hörte sie seine Stimme. Leiser und ein klein bisschen wütender. Aber immer noch so unglaublich tief. Felsschluchtentief. Und irgendwas löste das in ihr aus.
„Du hast wirklich keine Ahnung, wer ich bin, oder?“
Fragend drehte sie sich zu ihm um. Ihr Gefühl hatte sie also nicht getäuscht. Anscheinend kannten sie sich wirklich, und Rita wurde mulmig zumute.
Er umklammerte das Lenkrad noch einen Tick fester, und Rita spürte, wie unangenehm ihr das Gespräch war. Eigentlich besaß sie ein gutes Namensgedächtnis, und Gesichter vergaß sie sowieso so gut wie nie. Warum hatte sie dann keine Ahnung, wer dieser Mann war?
Er fuhr sich durch das sonnenblonde Haar, das im Nacken ein wenig zu lang war. Einige Strähnen fielen ihm ins Gesicht. Nur seine stechend blauen Augen wirkten eiskalt. Und da wurde es ihr schlagartig bewusst. Wie hatte sie ihn nicht wiedererkennen können? Diese Augen. Wasserblaue Augen, die sie schon mal gesehen hatte. Augen, in denen sie sich einmal verloren hatte. Für eine einzige Nacht.
O Gott!
Und plötzlich wusste sie, wer er war. Das konnte nicht sein. Warum, zur Hölle, war es ihr nicht sofort aufgefallen?
Nach all den Jahren konnte es doch kein verdammter Zufall sein, dass sie ausgerechnet in seinem Wagen gelandet war.
„Luke“, flüsterte sie. Und schlagartig fielen ihr die vielen Dinge wieder ein, die sie in den letzten Jahren verdrängt hatte.
Dinge, an die sie nie wieder hatte denken wollen.
Dinge, die sie mehr verletzt hatten als alles andere in ihrem Leben.
Das, was Luke ihr angetan hatte, war so viel schmerzhafter gewesen als das zerknitterte Ultraschallbild.
Ohne ihn noch eines Blickes zu würdigen, stieg sie aus dem Wagen.
Eiskalter Wind blies ihr ins Gesicht, als sie sich die Kapuze über den Kopf zog, dann drehte sie sich doch noch einmal zu ihm um. Ihre Blicke trafen sich für eine Sekunde, aber sein Gesicht verriet nichts. Dann schlug Rita die Tür mit einem lauten Knall zu, drehte sich um und machte sich auf die Suche nach einer Möglichkeit, zu telefonieren. Sie würde schon etwas finden.
Sie war von der Insel geflohen, um etwas Ruhe zu finden, und ausgerechnet Luke Brandson in die Arme gelaufen.
Wenn das mal keine Verarsche des Schicksals war.
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