Lieben. Hoffen. Fürchten (Ein Fall für Isa Winter 2) Lieben. Hoffen. Fürchten (Ein Fall für Isa Winter 2) - eBook-Ausgabe
Kriminalroman
— Besonderer Krimi mit Berlin-Flair„Inken Witt schreibt Krimis mit richtigen Menschen.“ - Badische Zeitung
Lieben. Hoffen. Fürchten (Ein Fall für Isa Winter 2) — Inhalt
Die Uckermark birgt eine gefährliche Wahrheit
Die Berliner Privatdetektivin Isa Winter hat eine neue Klientin: Leonie Gabowski ist auf der Suche nach ihrem Onkel Michael. Nach dem Tod seines Zwillingsbruders ist dieser spurlos verschwunden. Isa stößt über seine Selbsthilfegruppe für Trauernde auf eine „Ganzheitliche Lebensberatungspraxis“ in der Uckermark. Sie begibt sich selbst als Gast auf den umgebauten Vierseithof und erkennt unter den Bewohnern auch Michael. Doch als er plötzlich verschwindet, gerät Isa ins Visier der spirituellen Leiter des Hofes, deren Methoden alles andere als friedlich sind …
„Isa – chaotisch, hartnäckig, furchtlos und liebenswert.“ Saarländischer Rundfunk
„Klasse Krimi!“ Für Sie über Warten. Leben. Sterben
„Ein gelungener Debütroman, durch den ein Hauch von Raymond Chandler weht.“ Die Presse Online über Warten. Leben. Sterben
„Die Geschichte nimmt schnell Fahrt auf, und lässt sich ebenso schnell zu Ende lesen, ohne dass Langeweile aufkommt. Die Protagonistin Isa ist gleichermaßen sympathisch wie empathisch und es macht Spaß ihren Ermittlungen zu folgen.“ Radio Weser TV „WortART“ über Warten. Leben. Sterben
„Sowohl die Protagonistin des Buches als auch der Plot und die Erzähldynamik lassen wenig Wünsche offen.“ Radio Weser TV „WortART“ über Warten. Leben. Sterben
Leseprobe zu „Lieben. Hoffen. Fürchten (Ein Fall für Isa Winter 2)“
TEIL 1
„All is well.“
Henry Scott Holland
Kapitel 1
Im eisigen Licht der Taschenlampe erschien sein Gesicht so weiß, als sei es aus Marmor. Die Wangen eingefallen, die Augen nur halb geöffnet. Durch die dunklen Wimpern hindurch konnte ich Pupillen erkennen, die so weit waren, dass sie alle sie umgebende Farbe verdrängt hatten.
„Mir ist kalt.“ Seine Worte waren mehr zarter Nebel, der zwischen seinen bläulich schimmernden Lippen aufstieg, als klare Laute. Ich zog ihn mit all meiner Kraft noch näher an mich heran. Tiefer in meine Umarmung. Ich wiegte uns leise [...]
TEIL 1
„All is well.“
Henry Scott Holland
Kapitel 1
Im eisigen Licht der Taschenlampe erschien sein Gesicht so weiß, als sei es aus Marmor. Die Wangen eingefallen, die Augen nur halb geöffnet. Durch die dunklen Wimpern hindurch konnte ich Pupillen erkennen, die so weit waren, dass sie alle sie umgebende Farbe verdrängt hatten.
„Mir ist kalt.“ Seine Worte waren mehr zarter Nebel, der zwischen seinen bläulich schimmernden Lippen aufstieg, als klare Laute. Ich zog ihn mit all meiner Kraft noch näher an mich heran. Tiefer in meine Umarmung. Ich wiegte uns leise vor und zurück im Rhythmus, den vielleicht alle Menschen in sich haben für den Fall, dass sie einmal aufhören müssen zu denken, zu handeln. Für den Fall, dass sie nur noch sein können und … beten.
Ich weiß noch genau, wie verwirrt ich war, als ich wach wurde und in Tinas besorgtes Gesicht sah. Ich hatte keine Ahnung, wieso ich im Wohnzimmer auf dem Sofa lag.
So erleichtert ich war, nicht mehr in einer Tropfsteinhöhle verschüttet zu sein, so sehr musste ich zurück. Doch Tina ließ mich nicht umkehren. Sie schaltete die Leselampe neben der Couch ein und nahm meine Hand schneller, als ich sie wegziehen konnte.
„Du hast eiskalte Finger. Ich mach dir einen Tee.“
Ich weiß noch, dass ich widersprochen habe. Dass ich mir meine Bettdecke über den Kopf gezogen und ihr den Rücken zugedreht habe. Natürlich vergebens.
Statt zurück in ihr Zimmer oder in die Küche zu gehen, hörte ich Tina zu dem Biedermeierschrank tapsen, den wir auf eBay gekauft, abgeschliffen und innen und außen golden lackiert hatten, um ihn zu unserer persönlichen Bar umzubauen, kurz nachdem ich Karl abgestillt hatte.
Einige der Cognac-, Rum- und Whiskeyflaschen stehen seitdem unberührt darin herum. Wir haben einen Bilderstrahler eingebaut, der angeht, wenn man die Tür öffnet. Tina hat „wenigstens“ darauf bestanden, nachdem ich mich geweigert hatte, im Badezimmer einen Mirrorball und Discolichter aufzuhängen.
Ich erinnere mich daran, dass der schottische Whisky mich gegen meinen Willen wärmte. Er und Tinas stetes Geplapper über ihr nächstes Vorsprechen zwangen mich in mein Leben in Berlin-Kreuzberg zurück und hielten mich dort fest.
Es wurde bald schwer, meine Augen offen zu halten. Ich stellte das leere Glas auf den Dielenboden und sank wieder auf die alte Ledercouch, die als mein Bett diente, seit ich Eugen einige Wochen zuvor aus der Rehaklinik abgeholt und in meinem Zimmer untergebracht hatte.
„Okay. Schlaf gut.“ Ich bin sicher, Tina hauchte mir noch einen Kuss zu, stand dann auf, schaltete das Licht aus und schlich aus dem Zimmer.
Bevor es wieder still wurde in unserer Wohnung, flüsterte sie noch: „Und morgen erzählst du mir, was das für Träume sind, Isa. Ich hab mir das jetzt lange genug angesehen.“
Hab ich nicht. Und als ich es dann doch getan habe, war es zu spät.
Kapitel 2
Die Wimpern von Leonie Gabowski sind lang und dick und wunderbar gebogen, als seien sie aufwendig geschminkt. Sind sie aber nicht. Sie sind das einzig Auffällige an der Endzwanzigerin. Sie haben die Angst in ihren Augen betont, als sie mich damit beauftragte, ihren „einzigen lebenden Verwandten“ zu suchen.
Ich frage mich immer noch, wovor genau sie Angst hatte. Davor, allein zu sein? Davor, Verlustschmerz zu empfinden? Verantwortung zu übernehmen? Arbeit zu haben mit allem, was Menschen so hinterlassen, wenn sie verschwinden – sei es durch Tod oder Trennung?
Ich kann nicht mehr sagen, ob ich sie mochte, als sie mir am Morgen nach dem Traum in meinem Büro gegenübersaß. Ich musste mich auf jeden Fall zwingen, ihr zuzuhören. Und ich fragte mich, ob das an ihr lag. An der Art, wie sie sprach. Leise und zaghaft, so, als bitte sie mich für jedes Wort um Erlaubnis.
Oder daran, dass ich wieder einmal zu wenig geschlafen hatte. Ich war wütend auf mich selbst, weil ich entweder besser schlafen oder besser damit umgehen können wollte, dass ich es eben nicht tat. So wie damals, als Karl ein Baby gewesen war. Da habe ich mich schnell und kampflos in den Schlafmangel ergeben und mich nicht einmal darüber geärgert. Natürlich weiß ich, dass das nicht dasselbe war. Damals war ich von einem glücklich vor sich hin glucksenden Bilderbuchbaby geweckt und wach gehalten worden, nun von Albträumen, an die ich mich, mit einer Ausnahme, nicht einmal erinnern konnte. Nur an mein rasendes Herz und das Gefühl, um ein Leben rennen oder kämpfen zu müssen. Nicht meins, eines, das mir wichtiger war.
Möglicherweise lag meine mangelnde Aufmerksamkeit aber auch daran, dass ich um sechs Uhr früh wieder geweckt worden war. Von meinen Nachbarn, die direkt unter meinem Fenster ihren VW-Bus mit allem bepackt hatten, was das Gartencenter hergab, dazu ihren zwei kleinen Söhnen und dem dreibeinigen Hund aus dem Tierheim, den sie seit Neuestem haben. Die Jungs haben Angst vor ihm, oder vielleicht hat der Hund Angst vor den Kindern … eine Partei ist jedenfalls immer am Schreien oder Quietschen.
Bei gutem Wetterbericht ist das hier jedes Wochenende so. Am Morgen verwandelt sich der Graefekiez in ein buntes Durcheinander aus Plastikgartenstühlen, Rindenmulchsäcken und vegan befüllten Picknickkörben, bis die Karawane aus stinkenden Dieselkombis, glänzenden Mercedes-Campern und Carsharing-Cabrios abgezogen ist. Dann herrscht ein bis zwei Stunden Ruhe, bevor die Touristen aus Spanien, Schweden und den USA kommen und sich mit Bier und veganen Snacks in den Händen durch die Straßen treiben lassen und sie bestaunen, als seien sie besonders.
Ich hab nichts gegen die Familie oder alle anderen Nachbarn, die ihre Datschen in Brandenburg oder ihre Schrebergärten im Stadtgebiet für das neue Gartenjahr startklar machen. Ich war schon bei ihnen und einigen anderen eingeladen oder besser, Karl und Tina waren eingeladen und ich damit auch. Ich liege dann gerne in einer Hängematte oder im Gras – so weit von den anderen entfernt, wie das Grundstück es eben zulässt –, schaue in den Himmel und atme ein und aus.
Nein, wogegen ich wirklich etwas habe, ist: Frühling.
Gegen jeden Frühling, aber gegen den Berliner Frühling ganz besonders, und gegen diesen – nach diesem Winter, nach den vergangenen Wochen – hatte ich so viel, dass ich fast sagen würde, ich habe ihn gehasst, wenn das nicht eine Wucht an Gefühl erfordert hätte, die ich nicht aufbringen konnte.
Ich lebe davon, Menschen zu beobachten. Im Frühling wird das einerseits natürlich einfacher, weil alle nach draußen drängen. Aber es wird auch schwieriger, weil alle so verdammt gut gelaunt sind. Und so gierig nach Leben, Licht und Lachen. Und nach Körperkontakt. So, als wären sie kollektiv aus einem monatelangen Koma erwacht oder aus einem Gefängnis entlassen. Das nervt.
Frühling ist ein Versprechen auf eine neue Runde. Ein neues Glück, glauben viele, doch eigentlich ist es nur eine neue Gelegenheit, zu sehen, was man sehen will, sich etwas vorzumachen.
Frühling ist ein Versprechen, das das Jahr nicht hält. Hat es noch nie, und wenn es doch mal so scheint, dann nur, bis der Winter kommt und alles erfriert.
Ich hatte letztens eine Diskussion mit Eugen zu dem Thema und habe sogar versucht, physikalisch zu argumentieren, um meinen Standpunkt klarzumachen. Aber er wollte nichts hören von Schwerkraft, Haftreibung und so. Er hat mich nur angelächelt und mal wieder den Energieerhaltungssatz bemüht. Bescheuerte Idee, mich in sein Fachgebiet zu wagen.
Und dann hat er geschlossen, wie so oft, mit einem Satz seiner verstorbenen Frau Nadja: „Freude ist Freude, solange sie währt.“ Den bemüht er immer, wenn er mich davon überzeugen will, dass es nicht darauf ankommt, was ist, sondern darauf, wie es sich anfühlt. Ich hab mich umgedreht und bin gegangen.
An diesem Frühlingsmorgen sah mich Leonie Gabowski jedenfalls mit ihren angstvollen Augen an und wartete. Sie schien es nicht gewohnt zu sein, etwas zu tun oder zu sagen, ohne die Erlaubnis dafür erhalten zu haben. Ich musste ihr also jede Information einzeln abringen. Das nervte auch.
Letztlich erfuhr ich, dass ich ihren Onkel suchen sollte. Michael Gabowski. Den Zwillingsbruder ihres vor knapp einem Jahr verstorbenen Vaters.
Sechsundfünfzig Jahre alt, geschieden, lebte er in dem Haus in Friedenau, das er und sein Bruder von den Eltern geerbt hatten. Bis zu Gabriel Gabowskis Tod hatten sie dort im Erdgeschoss gemeinsam ein Geschäft für antiken Schmuck mit angeschlossener Werkstatt betrieben.
„Wann haben Sie Ihren Onkel das letzte Mal gesehen?“ Ich goss Leonie ungefragt Kaffee nach, trank selbst meine dritte Tasse und notierte unauffällig auf den Rand meines Notizblocks, dass ich neues Kaffeepulver besorgen musste.
Tina hatte es vergessen und würde sicher auch heute nicht dran denken. Sie hatte an diesem Samstag frei, und Tobias kam aus München, und dann war mit ihr eh nichts anzufangen.
„Vor einer Woche. Am Sonntagnachmittag. Wollen Sie die genaue Zeit wissen?“ Leonie Gabowski sah mich an, als sei ich eine Lehrerin und sie könne eine Prüfungsfrage nicht beantworten. Ihre Stimme machte mich aggressiv. Es dauerte einen Moment, bis ich darauf kam, woran das lag. Sie war zu klein. So, als traue Leonie sich nicht, gehört zu werden.
Ich vermute, es gibt verschiedene Gründe, wenn Frauen sich nicht zu ihrer ganzen Größe aufrichten: Die einen wissen wahrscheinlich gar nicht, dass sie größer, stärker, mehr sein können, andere trauen sich nicht oder können sich nicht trauen, und dann gibt es die, die sich etwas davon erwarten, sich versteckt zu halten.
Ich konnte und wollte mich bei Leonie nicht festlegen.
„Je genauer, umso besser.“
„Gegen sechs? Es wurde gerade dunkel, als wir uns auf dem Friedhof verabschiedet haben.“
„Hat sich Ihr Onkel ungewöhnlich verhalten?“
„Nein.“
„Wann hätten Sie sich das nächste Mal sehen sollen?“ Mir fiel meine angestrengte Formulierung auf, ich beließ es aber dabei.
„Ich hatte ihn für den Dienstagabend zum Essen eingeladen. Ich habe falschen Hasen mit Erbspüree und Stampfkartoffeln gemacht. Sein Lieblingsessen.“
„Hat er abgesagt?“
„Ja.“
„Mit welcher Begründung?“
„Er hat mir nur eine SMS geschrieben.“
„Kann ich die mal sehen?“
„Natürlich.“ Während Leonie Gabowski hektisch in ihrer Handtasche kramte, rief ich mich zur Ordnung: Professionell zu sein fällt mir leicht! Ich bin eine gute Privatdetektivin! Ich bin sorgfältig, schnell und erfahren! Verschwiegen, neutral und zuverlässig! Ich bin teurer als die meisten meiner Kollegen, aber dafür sind meine Kostenaufstellungen zu hundert Prozent transparent und …
Verdammt! Wieso rechtfertigte ich mich?
Die SMS von Gabowski bestand aus sieben Wörtern: „Ich schaffe es heute Abend nicht. Entschuldige.“
Mir wurde ein wenig flau im Magen. Ich wusste aber nicht, ob das an der Nachricht lag oder daran, dass ich noch nichts gegessen hatte.
„War das der letzte Kontakt, den Sie mit Herrn Gabowski hatten?“
„Ja?“ Sie betonte das Ja wie eine Frage und sah mich an, als solle ich entscheiden, ob das richtig war.
„Sind Sie sich nicht sicher?“
„Also, ich weiß nicht, wie Sie das Wort ›Kontakt‹ definieren …“, haspelte sie, und ich konnte über den Schreibtisch, der uns voneinander trennte, hinweg spüren, wie angespannt sie war.
„Haben Sie ihn noch einmal gesehen?“
„Ja.“
„Und mit ihm gesprochen?“
„Nein.“
„Beschreiben Sie doch einfach in Ihren Worten, was geschehen ist, ja?“ Ich nickte ihr aufmunternd zu, was absolut nicht meine Art ist, und ich kam mir dabei albern vor – unehrlich.
„Ich hab mir Sorgen gemacht. Also bin ich am Dienstag bei ihm vorbeigegangen. Der Laden war zu, aber in der Werkstatt brannte Licht. Ich habe geklingelt und geklopft, aber er hat nicht aufgemacht. Also bin ich durch den Hof gegangen und hab hinten durch das Fenster geschaut. Ich dachte, vielleicht hört er Musik beim Arbeiten, das macht er so. Aber er saß nur da. Ich hab zuerst nur seinen Rücken gesehen. Als ich an die Scheibe geklopft habe, ist er aufgestanden, hat das Licht ausgeschaltet und ist gegangen.“
„Wohin?“
Leonie sah aus, als hätten die paar Sätze sie erschöpft.
„Nach oben in die Wohnung, glaube ich. Er hat das Haus auf jeden Fall nicht verlassen, das hätte ich gesehen.“
„Sind Sie sicher, dass der Mann in der Werkstatt Ihr Onkel war? Sie haben gesagt, er habe Ihnen den Rücken zugedreht.“
„Beim Rausgehen habe ich ihn hundertprozentig erkannt.“
Die Antwort war fester als ihre bisherigen Aussagen, so, als habe sie sich die Frage selbst schon gestellt.
Ich wollte sie nicht als Klientin. Ich wollte den Fall nicht. Ich hatte ein Gefühl, das ich nicht zuordnen konnte, und deshalb verstand ich endlich, wieso Leute es „ungut“ nennen.
Ich suchte nach Worten, um möglichst höflich abzulehnen, als sie plötzlich weitersprach.
„Das Letzte, was er zu mir gesagt hat, war: ›Leonie, danke für alles.‹“
In ihren schönen Wimpern hingen Tränen.
Ich habe den Fall angenommen.
Kapitel 3
Von meinem Büro aus ist es zu Fuß nicht mal eine halbe Stunde bis zu der Adresse, die Leonie Gabowski mir zusammen mit einigen Fotos von ihrem Onkel gegeben hat. Auf keinem der Bilder war er alleine zu sehen. Immer war er mit seinem Zwilling abgebildet, der ihm kaum ähnlich sah. Auf allen lächelte er unsicher.
Michael hatte aschblondes, schütteres Haar, eine kurze, breite Nase und eine Brille mit Metallgestell und ziemlich dicken Gläsern. Sein Bruder Gabriel hingegen war dunkelhaarig gewesen, mit stechend blauen Augen in einem gut geschnittenen Gesicht. Er sah immer direkt in die Kamera. Konzentriert und stets mit einem gefälligen Lächeln auf den Lippen. Ich fragte mich, wieso Leonie keine Schnappschüsse ausgesucht hatte, die einen lebendigeren Eindruck der beiden vermittelten, und ob es überhaupt welche gab.
Das Haus, in dem die Gabowski-Brüder in einem kleinen Ladengeschäft gearbeitet und in der direkt darüber liegenden Vierzimmerwohnung gewohnt haben, ist eines der vielen denkmalgeschützten vierstöckigen Mietshäuser in Friedenau. Es ist in dritter Generation in Familienbesitz, wie Leonie betont hatte.
Hinter einem Rollgitter sah die Auslage des Geschäfts aus, als sei sie seit sechzig Jahren nicht verändert worden. An schwarzen samtüberzogenen Büsten hingen neben zarten Jugendstilbroschen beeindruckende Art-déco-Colliers und Statement-Ketten aus den Fünfzigern und Sechzigern. In Glasvitrinen mit abgerundeten Ecken waren Ringe aus Gold und Platin mit Perlen und Steinen und Halbedelsteinen zu Schwärmen arrangiert, die aussahen, als warteten sie darauf, von einer weiß behandschuhten Hand herausgefischt zu werden.
Ich nahm mir vor, Tina von dem Geschäft zu erzählen, wenn ich den Fall gelöst hatte. Sie würde es lieben. Besonders ein albern großer Cocktailring aus Gelbgold mit einem rechteckigen sonnengelben Stein (einem Citrin, wie ich später gelernt habe) stach mir ins Auge, weil er mir wie für sie gemacht schien.
Die goldene Schreibschrift hinter Glas im oberen Teil des Schaufensters („Gabowski – Antik-Schmuck und Goldschmiedekunst“) war etwas verblasst, aber gegen den schwarzen Grund immer noch gut lesbar. Der Wind hatte Pappbecher und Werbeprospekte vor die Ladentür geweht. Entgegen den Angaben auf dem Schild mit den Ladenöffnungszeiten war das Geschäft geschlossen und unbeleuchtet.
Ich klingelte, sowohl am Laden als auch an der Wohnung, an der noch immer „Michael und Gabriel Gabowski“ stand. Ich erwartete nicht wirklich eine Antwort, aber ich hatte schon Fälle gehabt, bei denen „Gesuchte“ meine Auftraggeber einfach nicht sehen wollten, mir hingegen, ohne zu zögern, geöffnet hatten.
Einen davon werde ich nie vergessen. Eine junge Frau hatte mich damit beauftragt, den „Mann ihres Lebens“ zu finden. Sie hatte panische Angst um ihn gehabt, weil er von heute auf morgen unauffindbar gewesen war. Seine letzte Nachricht war die Antwort auf einen Terminvorschlag von ihr gewesen: „Cool.“
Ich hab ihn gefragt, wieso er ihr nicht wenigstens in ein paar Worten sagte, dass er kein Interesse mehr an ihr hat. Er hat nur mit den Schultern gezuckt. Ob aus Hilflosigkeit oder Gleichgültigkeit, weiß ich nicht. Und so war alles, was ich meiner Klientin hatte geben können, eben dieses Schulterzucken.
Damals hatte ich noch Abstand zu meinen Fällen und den beteiligten Menschen. Aber ihren Blick werde ich trotzdem nicht vergessen. Ich hatte ihr angeboten, die Ermittlungsergebnisse telefonisch zu besprechen, aber sie wollte persönlich vorbeikommen. Vielleicht hatte sie Angst davor, dabei allein zu sein. Sie hatte tief durchgeatmet in Erwartung meines Berichts und mich mit großen Augen angesehen. Ich weiß nicht, womit sie gerechnet hatte. Aber das, was ich zu sagen hatte, war es nicht. Erst schien sie mich gar nicht gehört zu haben. Dann war es plötzlich, als habe sie in sich das Licht ausgeschaltet. Sie zwang ein tapferes Lächeln auf ihre Lippen, bedankte und verabschiedete sich mit lebloser Stimme und ging. Es war, als sei sie verschwunden, durch eine Geheimtür hinausgeschlichen, und habe nur einen funktionierenden Körper zurückgelassen. Ich frage mich, ob sie je zurückgekehrt ist.
Ich ging durch die Toreinfahrt um das Haus herum in einen gepflegten Hof mit Fahrradständer, einem Unterstand für Mülltonnen und einem vermoosten Rasenstück, das von schwächlichen Koniferen begrenzt wurde. Ganz offensichtlich machte der Lichtmangel, der in dem nach Norden ausgerichteten und von hohen Häusern umringten Stückchen Land herrschte, den Pflanzen derart zu schaffen, dass jede in sie gesteckte Mühe umsonst war.
Mir war kalt. Ich zog meinen Dufflecoat enger um mich und vergrub meine Hände tief in den aufgesetzten Taschen. Draußen auf der Straße waren es noch an die fünfzehn Grad gewesen, und die Frühlingssonne hatte mir tatsächlich das Gesicht gewärmt, im Dauerschatten des Hofs war es einige Grad kälter.
Ich sah durch das vergitterte Fenster in die Werkstatt und konnte trotz der schwierigen Lichtverhältnisse einen aufgeräumten Raum mit einer alten hölzernen Werkbank und einem kleinen Schmelzofen erkennen. An der Wand hingen jede Menge Metallsägen, Feilen, Zangen, Hammer, Ahlen und andere Werkzeuge.
„Der Micha ist nicht da.“
Ich muss zugeben, dass ich zusammengezuckt bin. Ich schob die Schreckhaftigkeit auf meine Müdigkeit und drehte mich um.
Der Mann, der von mir unbemerkt im Schutz des Fahrradständers offenbar Unkraut gezupft hatte, trug einen Anorak mit einem Achtzigerjahremuster aus magenta- und petrolfarbenen Rauten auf weißem Grund, eine Röhrenjeans und schwarze Halbschuhe. Seine Haare waren zu einem sehr dünnen Pferdeschwanz gebunden.
„Wissen Sie, wann er wiederkommt?“
Je selbstverständlicher man seine Fragen stellt, umso weniger fragen die Leute zurück.
„Nee, hat er nich jesagt.“
„Schade. Wann haben Sie ihn denn das letzte Mal gesehen?“
Statt mir zu antworten, musterte mich der große, dünne Mann unverhohlen. Ich musste mich räuspern, um ihn darauf aufmerksam zu machen, dass ich eine Antwort erwartete.
„Vor ein paar Tagen.“
„Vielen Dank.“ Ich drehte mich um und tat so, als wolle ich gehen. Ich erkenne einen einsamen Menschen, wenn ich ihn sehe.
„Nicht mehr, seit die Bullen da waren.“
Ich drehte mich zurück, und da war sie, in seinen braunen, leicht geröteten Augen: die erwartete Erleichterung. Als wäre er am Verhungern und als hielte ich etwas Essbares in Händen.
Ich fragte nicht weiter. Ich sagte überhaupt nichts, sondern lächelte ihn an. Ich weiß, dass das Lächeln niemanden sonst überzeugt hätte.
„Ick hab die sojar jerufen. Wer hätte dat jedacht?“ Er lachte ein verstolpertes Lachen, das nikotinverfärbte Zähne offenbarte. „Hab mir Sorgen jemacht. Die zwei Typen waren mir nich jeheuer.“
„Was ist denn passiert?“ Meine Stimme war zu hoch und meine aufgerissenen Augen verlogen. Aber ich wusste, es würde reichen. Manchmal ist mein Job zu einfach.
„Der Micha is ’n Netter. Zu ruhig, ja … aber eener von den Juten, wenn du weeßt, was ick meene. Ick kenn den, seit ick hier eenjezogen bin. Dat war ’88. Da oben unterm Dach ham wa in ’ner WG jewohnt, icke, der Klaus, der Thomas, die Bea und die Sabine. Dat waren noch Zeiten. Der Gabriel ist öfter mal hochjekommen uffn Bier, aber der Micha war lieber in der Werkstatt. Da hat seen Alter noch jelebt. Die beeden haben bis spät in die Nacht jewerkelt. Det war ooch ’n Netter, der alte Jabowski …“
Einen Moment sah es aus, als wolle er in den Achtzigern bleiben, dann blinzelte er und fuhr fort.
„Die ham dat jut jemacht. Dat muss man ihnen lassen. ’n janz junget Meedchen, und der Mann war ooch höchstens fünfundzwanzig, so ’n Pumper, weeßte?“
„Die Typen, die dir nicht geheuer waren?“ Ich zwang mich, zum Du überzugehen.
„Nee, die Bullen.“ Wieder gluckste er sein arhythmisches Lachen. „Die finsteren Typen waren älter. Mitte dreißig bestimmt.“
Erneut schien er sich in Gedanken zu verlieren, die nichts mit dem Hier und Jetzt zu tun hatten. Die Art, wie er mich dabei ansah, machte mich wütend. Er sah aus, als habe er sich ergeben. Und nicht in Tinas Kalenderblattsinn.
„Wieso hast du die Polizei gerufen?“ Wieder zögerte ich, bevor ich ihn duzte. Aber es gehört zu meinem Beruf, Menschen den Widerstand zu nehmen und sie dazu zu bringen, sich mir anzuvertrauen. Charles hat mal gesagt, es sei unmöglich, mir nicht zu vertrauen. Das war, bevor ich ihm ohne ein Wort das Herz gebrochen habe …
„Sie ham jedroht, den Laden und seene Wohnung auseinanderzunehmen. Micha hat denen nich mal widersprochen. Sie wollten irjendwat zurück. Ick weeß aber nüsch, wat. Bis die Bullen da waren, hatten die sich verpisst.“
„Hast du mitbekommen, was Micha den Polizisten erzählt hat?“ Ich kann meine Stimme sehr ruhig halten, selbst wenn ich ungeduldig bin. Wenn man Leute schubst, machen sie sich nur schwerer.
„Er hat jesagt, dass er sie nicht kennt, da sind se wieder abjezogen. Ick glob, dat allet war ihm peinlich jewesen.“
„Und du hast nicht nachgefragt?“ Es auszunutzen, wenn Menschen sich selbst nicht ertragen können, ist nicht meine Lieblingsbeschäftigung, aber Scham ist oft der kürzeste Weg zu einer Information.
„Wollt ick ja … aber da war er schon weg. Hat mir seenen Schlüssel in den Briefkasten jeschmissen wie immer. Wegen der Blumen, weeßte. Aber keen Zettel dazu.“
„Verstehe. Danke …“
„Ick bin der Bernd. Magste ’n Bier?“
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