Lieber Rotwein als tot sein Lieber Rotwein als tot sein - eBook-Ausgabe
Roman
Lieber Rotwein als tot sein — Inhalt
Den eigenen Tod inszenieren und dann ab in die Toskana? Zu früh gefreut!
Als sein Chef sich mit großem Bedauern von ihm verabschiedet, steht für Arthur Ophof fest: So kann es nicht weitergehen. Dreiundzwanzig Jahre im Toilettenpapiervertrieb, im Reihenhaus eines Örtchens nahe Amsterdam, in der Ehe mit seiner lieben, sanften, verständnisvollen Frau Afra – damit ist jetzt Schluss. Und so stirbt Arthur. Natürlich nicht wirklich, vielmehr fädelt er ein, was es für ein plausibles Ableben einzufädeln gilt. Aus Arthur Ophof wird Luigi Molima. Nur hat er die Rechnung ohne Afra gemacht …
„Eine Geschichte voller Herz, die mich mit ihrem selbstironischen Humor, tollen Figuren und wichtigen Themen begeistert hat. Wer hofft, in Würde alt zu werden, findet hier vieles, worüber es sich nachzudenken lohnt.“ Graeme Simsion über Hendrik Groens Tagebücher
„Es ist eine Freude, dieses Buch zu lesen, das sich mit Freundschaft und Würde auseinandersetzt – und damit, wie es ist, wenn die Kräfte im Alter langsam nachlassen. ... Eine unterhaltsame und beglückende Geschichte über einen Mann, der nicht mehr und nicht weniger verlangt, als dass man ihm am Ende seiner Tage mit Respekt begegnet.“ John Boyne über Hendrik Groens Tagebücher
Leseprobe zu „Lieber Rotwein als tot sein“
1
„Ich mache in Toilettenpapier.“
Das ist die Antwort, die ich seit dreiundzwanzig Jahren gebe, wenn mich jemand fragt, womit ich meinen Lebensunterhalt verdiene. So lange arbeite ich nämlich schon bei einem Großhandel für Sanitär- und Reinigungsartikel. Sechsunddreißig Stunden die Woche. Montag bis Donnerstag von 8 Uhr bis 17 Uhr 45 mit einer Dreiviertelstunde Mittagspause. Von der verwende ich zwanzig Minuten darauf, meine belegten Brote und meinen Apfel zu essen, und danach mache ich einen kleinen Spaziergang von zwanzig Minuten durchs Gewerbegebiet [...]
1
„Ich mache in Toilettenpapier.“
Das ist die Antwort, die ich seit dreiundzwanzig Jahren gebe, wenn mich jemand fragt, womit ich meinen Lebensunterhalt verdiene. So lange arbeite ich nämlich schon bei einem Großhandel für Sanitär- und Reinigungsartikel. Sechsunddreißig Stunden die Woche. Montag bis Donnerstag von 8 Uhr bis 17 Uhr 45 mit einer Dreiviertelstunde Mittagspause. Von der verwende ich zwanzig Minuten darauf, meine belegten Brote und meinen Apfel zu essen, und danach mache ich einen kleinen Spaziergang von zwanzig Minuten durchs Gewerbegebiet von Breukelen. Unterwegs gönne ich mir als Nachtisch noch eine Kalbfleischkrokette bei Fritt von Pitt. Pitt ist schon seit Jahren tot. Er hat sich eines Tages so geärgert, dass er einen Herzanfall bekam und kopfüber in seine Auslage kippte, zwischen den Russischen Salat und die Kroketten. Der einzige zu diesem Zeitpunkt anwesende Kunde war ein polnischer Lkw-Fahrer. Der rief sofort die 112, sprach aber kein Wort Niederländisch. Und die Frau in der Notrufzentrale sprach kein Polnisch. Das brachte dann natürlich wenig. Als der Krankenwagen nach fünfunddreißig Minuten endlich eintraf, konnte man nichts mehr für Pitt tun. Trees, die Frau von Pitt, hat das Geschäft übernommen. Schade, dass sie nicht Jette heißt. Krokette von Jette, den Namen hätte ich richtig gut gefunden. Eigentlich stört es mich ein bisschen, dass da immer noch eine große Tafel mit der Aufschrift „FRITT VON PITT“ auf dem Dach steht. Trees meint, das sei eine Hommage an Pitt. Dabei passt das Wort „Hommage“ nicht wirklich zu Trees. Zu Pitt übrigens auch nicht.
Fünf Minuten vor Ende meiner Mittagspause setze ich mich wieder an meinen Schreibtisch und schaue, ob per Mail neue Bestellungen eingegangen sind.
Am Schreibtisch gegenüber arbeitet Berend, der Finanzmensch unserer Firma. Er versendet die Rechnungen. Ein paar Meter weiter sitzt Marieke, die Sekretärin des Geschäftsführers. Der Geschäftsführer selbst, Herr Hertog, hat ein eigenes Zimmer mit einem Schreibtisch aus Nussbaumholz. Wenn ihn neue Kunden besuchen, streicht Hertog kurz über seinen Tisch und sagt: „Schön, oder? Echt Wurzelholz.“ Der Schreibtisch hat einmal seinem Vater gehört, Hertog senior, der immer noch einmal pro Woche im Büro erscheint, um sich mit seinem iPhone vor unsere Nase zu setzen und sich ständig umzuschauen mit einem Blick, der uns allen sagen soll: „Seht her, wie ich als Achtzigjähriger noch mit der Zeit gehe.“
Am Freitag hab ich frei. Dann gehe ich mit meinen drei besten Freunden Golf spielen.
2
Ich heiße Arthur Ophof. Schon seit vierundzwanzig Jahren wohne ich in einem adretten Reihenhaus aus den achtziger Jahren, in einem Neubauviertel von Purmerend. Das Haus wurde errichtet zu einer Zeit, als begrünte Innenhöfe schwer in Mode kamen.
Meine Frau Afra war damals absolut begeistert.
„Dann können die Kinder in ein paar Jahren ungefährdet draußen spielen.“
Nur dass es dann mit Kindern nie was geworden ist. Wir haben uns jahrelang vergeblich bemüht.
„Über unserer geschlechtlichen Beziehung liegt eine gewisse Spannung“, erzählte Afra dem Paartherapeuten.
Diese zwei Worte reichten, um mich gänzlich impotent zu machen. Denn ich kenne keinen Menschen außer Afra, der den Ausdruck „geschlechtliche Beziehung“ in den Mund nimmt. Und dann musste es ja auch noch auf Ansage passieren, diktiert von Kalender und Thermometer.
„Irgendwie tötet das die geschlechtliche Beziehung ziemlich ab“, erklärte ich dem Therapeuten.
Afra fiel der Unterkiefer herunter.
Der Therapeut nickte bedächtig. Sein Nicken war der wertvollste Beitrag zu unseren Gesprächen. Ich hab mir mal ausgerechnet, was ich diesem Mann pro Nicken bezahlen musste, und das hob meine Laune nicht unbedingt.
Nachdem wir uns ein paar Jahre so durchgewurstelt hatten, stellte sich bei einer Untersuchung heraus, dass mit Afras Eizellen irgendwas nicht stimmt und sie keine Kinder bekommen kann.
Damit war der vorrangige Grund, in Purmerend zu wohnen, nämlich ein bezahlbarer begrünter Innenhof, abgehakt. Ich habe ein paarmal vorgeschlagen, nach Breukelen zu ziehen, wo es auch ganz schöne Reihenhäuser gibt, die gut und gerne eine Stunde näher an meinem Arbeitsplatz liegen, aber davon war Afra gar nicht begeistert.
„Mittlerweile hänge ich irgendwie doch ganz schön an Purmerend, Schatz“, wandte sie ein.
„Du hängst an Purmerend? Was ist das denn schon wieder für ein Ausdruck? Ich hänge jetzt auch nicht grade an Breukelen“, entgegnete ich.
„Und das ist genau der Grund, warum wir nicht nach Breukelen ziehen müssen, sondern lieber ganz wunderbar hier draußen bleiben können.“
Schönes Eigentor. Ich hab es dabei bewenden lassen und fahre deswegen seit dreiundzwanzig Jahren viermal die Woche von Purmerend nach Breukelen und abends von Breukelen nach Purmerend.
3
Genau genommen hab ich nicht so viele gute Freunde. Im Grunde nur drei: Stijn, Joost und Wouter. Die kenne ich noch aus der Oberstufe. Wir haben schon Liebe, Leid und ab und zu ein Mädchen geteilt. In den letzten Jahren waren es aber vor allem unsere Freitage. Da gehen wir bei Wind und Wetter zum Golfspielen. Stijn hat letzte Woche festgestellt, dass das immer „äußerst vergnügliche Freitage“ sind.
„Das war jetzt aber nicht so wirklich aufregend formuliert, Stijnemann“, hat Joost daraufhin angemerkt.
Stijn ist Deutschlehrer an einer Realschule – und noch immer der bravste Junge der Klasse, ganz wie früher. Eigentlich läuft er bei unserer Golfgruppe bloß so mit. Stijn wird geduldet, weil er eben schon immer dabei war. Er ist eher ein Freund aus Gewohnheit als ein Freund aus Überzeugung.
Ganz im Unterschied zu Joost. Joost ist bestimmt nicht brav. Er ist Anwalt und arbeitet für eine breit gefächerte Klientel von Betrügern, Steuerhinterziehern und Wirtschaftsverbrechern. Er passt selbst ganz wunderbar zu seinen Mandanten und hat garantiert schon mehr als einmal gelogen.
„Ihr seid eigentlich die Einzigen, denen ich die Wahrheit erzähle“, gestand er neulich. „Meistens jedenfalls. Bei vielen Geschäftskontakten interessiert mich in erster Linie, wie weit ich die Wahrheit dehnen kann, und wenn das nicht mehr gelingt, versuche ich, mich so nah wie möglich an der Wahrheit entlangzulügen.“
„Und wie hältst du das bei deiner Frau?“, wollte Stijn wissen.
„Oh, zu der bin ich auch immer grundehrlich“, hatte Joost grinsend erwidert. Stijn schaute ihn ein wenig argwöhnisch an.
„Bestimmt.“
Joost ist jemand, der prima Sachen managen kann, und obwohl er sich manchmal auch in eine dumme Lage reinmanagt, gelingt es ihm danach fast immer, sich wieder rauszumanövrieren.
Wouter, mein dritter Freund, ist auch kein Kind von Traurigkeit, aber er kriegt die Dinge immer bestens geregelt. Er hat eine Firma, die irgendwas mit Informatik macht. Früher hab ich ab und zu mal versucht zu kapieren, was er denn jetzt genau macht, doch er wischte meine Frage beiseite mit einem: „Was mit Programmieren, das verstehst du doch sowieso nicht“, und tatsächlich ist die Wahrscheinlichkeit ziemlich groß, dass er damit richtiglag. Wouter hat eine schöne Frau, ein schönes Haus und ein schönes Auto – genannt in der Reihenfolge ihrer Wichtigkeit –, und er sieht immer tadellos aus in seinen teuren Maßanzügen. Was nicht unwichtig ist, weil es eine notwendige Voraussetzung für seinen Lebensstil darstellt: Er hat Geld. Wie viel genau, dazu äußert er sich nicht.
„Sagen wir einfach: Es reicht locker“, lautet seine Antwort, wenn jemand fragt.
Und ich? Ich wollte immer grandios und mitreißend leben, aber aus dem einen oder anderen Grund wurde nie was daraus in meiner verkehrsberuhigten Zone in Purmerend und im Klopapier-Großhandel in Breukelen.
„Wenn du mich fragst, bist du einfach zu faul für ein aufregendes Leben“, stellte Joost letzte Woche fest, „oder zu feige. Oder beides.“
Ich hätte mich gerne gewehrt, aber mir fiel so schnell keine Antwort ein. Selbst nachdem ich ein paar Tage darüber nachgedacht hatte, wusste ich nichts zu erwidern. Ich bin tatsächlich ziemlich faul. Und vielleicht nicht feige, aber doch zumindest sehr vorsichtig. Das nagt ein bisschen an mir.
4
Der Grundsatz, man solle über die Toten nur Gutes sagen, wird oft ein bisschen übertrieben, finde ich. Innerhalb kurzer Zeit sind Johan Cruyff, David Bowie, Prince und Muhammad Ali gestorben, was viermal zu einer So-gut-wie-Heiligsprechung geführt hat. Ich habe wirklich genau aufgepasst, konnte aber fast keinen kritischen Punkt in den endlosen Serien von Zeitungsartikeln und Fernsehsendungen entdecken, die man den toten Promis widmete. Jedes Mal tauchten scharenweise selbst ernannte Freunde auf, um die Toten zu beweihräuchern und zu erzählen, was für eine enge Beziehung sie zu Lebzeiten mit diesen Helden gehabt hatten.
Da war niemand, der gesagt hätte, dass Cruyff nicht nur ein fantastischer Fußballspieler war, sondern auch ein sehr eigensinniges und selbstgefälliges Kerlchen. Oder dass es von Ali richtig dumm gewesen war, sich zum Parkinson-Patienten schlagen zu lassen, indem er viel zu lange weiterboxte, einfach nur des Geldes wegen. Ali hätte sich ein paar der Angebersprüche aus seinen glanzvollen Tagen lieber für die Zeit nach der Pensionierung aufsparen sollen. Als es so weit war, brachte er keinen zusammenhängenden Satz mehr raus. Und eine kleine Randbemerkung zur Eitelkeit von Bowie und Prince wäre sicherlich auch ganz angebracht gewesen.
„Cruyff wird mit Gott verglichen, aber das geht mir zu weit: Ich meine: Gott ist gut, klar, aber ein Cruyff ist er noch lange nicht.“
Über diesen Twitterkommentar musste ich furchtbar lachen.
Ich bin selten traurig oder schockiert, wenn ein berühmter Zeitgenosse stirbt, und werde nicht so schnell irgendwo Blumen niederlegen oder eine Kerze anzünden.
I
„Bist du eigentlich glücklich, Afra?“
Meine Yogafreundin Heleen überfiel mich gestern mitten im Lotussitz mit dieser Frage.
„Äh … so einigermaßen. Glaube ich.“
„Glaubst du es, oder weißt du es? Und was bedeutet ›einigermaßen‹, ist das eine Achtkommafünf oder eine Sechs?“
„Mann, Heleen, kann das nicht bis nachher warten? Ich versuche hier gerade, völlig Zen zu werden“, zog ich mich mit einem halben Witzchen aus der Affäre.
Gott sei Dank kam sie nicht noch einmal darauf zurück. Doch jetzt saß die Frage in meinem Kopf und ging nicht mehr raus. Ich vermute, dass ich ihr schon seit Jahren ausweiche und dass sie mich jetzt, nachdem sie mir gestellt worden ist, gar nicht mehr loslässt.
Nachdem ich ein paar Tage mit dieser Frage herumgelaufen war, musste ich mir eingestehen: Ich schaffe mit Müh und Not eine Sechs. Minus. Ab und zu ist ein Tag mit einer Sieben dazwischen, aber auch eine Vier kommt durchaus vor. Vielleicht ist nicht mal die Sechs minus ganz ehrlich, weil es mir zu unangenehm wäre, mein Leben mit einem Ungenügend zu benoten.
Früher war es besser.
Als ich Arthur gerade kennenlernte, war ich glücklich. Und auch die ersten paar Jahre in Purmerend waren richtig schön. Wir hatten keine Sorgen, machten tolle Reisen. Nach Ägypten und nach Mexiko zum Beispiel. Unterwegs hatten wir allerdings ein bisschen Pech. In Mexico City etwa wurden wir bestohlen. Wir mussten tagelang auf einen neuen Pass warten. Und in Ägypten wurden wir krank.
Seitdem bin ich ein bisschen paranoid geworden, was das Reisen angeht. Zu meinem eigenen Ärger hat sich das auch im Laufe der Jahre nicht gelegt. Ich bin gegen so ziemlich alles versichert, wogegen der Mensch sich versichern kann. Und es heißt wohl nicht umsonst „versichert gegen“. Auf jeden Fall hat mein Drang, die Welt zu entdecken, nachgelassen. Ich bin jetzt schon zufrieden mit netten Fahrradtouren in den Niederlanden. Deutschland finde ich auch schön. Ja, ich weiß, das ist ein bisschen bieder, aber es ist stärker als ich. Allein bei dem Gedanken, dass ich im Urlaub nach Afrika oder China fahren soll, bricht mir der Schweiß aus. Arthur würde gerne mal nach Japan, aber ich traue mich nicht. Und sei es nur deswegen, weil es so nah bei Nordkorea liegt.
Vielleicht nehme ich mir damit selbst etwas, aber ich finde eine Woche Drenthe oder Terschelling schön genug. Um bei den Zahlen zu bleiben: eine Sieben plus.
5
Ich hätte meinen fünfzigsten Geburtstag am liebsten unbemerkt verstreichen lassen, aber Afra drängelte mehrmals, dass ich dieses festliche Ereignis groß feiern solle.
„Das kannst du nicht einfach so übergehen“, sagte sie.
„Warum nicht?“
„Darum nicht.“
„Gegen so ein bombenfestes Argument komm ich natürlich nicht an.“
„Du bist wirklich unschlagbar witzig. Aber du kannst ruhig mal auf andere Menschen Rücksicht nehmen. Die finden es nämlich schön, wenn du dich für einen Tag ganz allein in ihrer Aufmerksamkeit sonnst.“
Ich wollte schon sagen, dass ich die Sonne seit Jahren freiwillig meide und mich, wenn es unausweichlich ist, mit Lichtschutzfaktor 50 einschmiere. Ein Faktor, der leider nicht gegen Menschen hilft.
Dann hätte Afra erwidert: „Mein Gott, was bist du wieder witzig.“
Waren wir wieder witzig. Ich kann mich nicht entsinnen, wann ich zum letzten Mal über sie gelacht habe. Vielleicht als sie mit ihrem Klappstuhl rückwärts ins aufblasbare Planschbecken fiel. Das war der beste Witz aller Zeiten, und ich musste ganz schrecklich lachen. Sie aber hätte mich damals am liebsten an Ort und Stelle im Kinderplanschbecken ertränkt.
Nein, mit ihrem Sinn für Humor habe ich es nicht so wirklich getroffen. Komisch eigentlich, dass mir das in den ersten paar Jahren unserer Beziehung gar nicht so richtig bewusst wurde. Wenn man beim Kennenlernen unaufmerksam ist, lässt das so manche Ehe später in die Brüche gehen.
Was das Feiern meines Geburtstags angeht: Ich habe eingelenkt. Nächste Woche gebe ich ein Gartenfest. Soll heißen, Afra gibt es.
Als Erste hat sie die Nachbarn eingeladen. Nicht weil die so nett wären, sondern um eventuellen Klagen über Lärmbelästigung zuvorzukommen. Außerdem hat sie noch ihre Freundinnen vom Yoga gefragt, ihre Familie, ihren Wanderclub, zwei Arbeitskollegen und ein paar von meinen Bekannten. Joost, Stijn und Wouter hat sie „ganz übersehen“. Die sind nicht so ihr Fall. Die hab ich dann eben nach dem Golfspielen selbst eingeladen.
Je näher der Tag kommt, umso mehr graust es mir.
„Wenn das Fest erst mal im Gange ist, wird es dir bestimmt auch gefallen“, sprach mir Joost Mut zu, „und wenn nicht, ist es doch schon wieder vorbei, bevor du dich groß aufregen kannst.“
6
Im Stau auf der Strecke nach Breukelen habe ich alle Zeit der Welt, meinen düsteren Gedanken nachzuhängen. Seit Joost festgestellt hat, dass ich zu faul und/oder zu feige bin für ein grandioses, mitreißendes Leben, werde ich den Gedanken nur schwer wieder los. Tatsächlich ist nicht viel geworden aus den Plänen, die ich mit zwanzig hatte. Ich habe kaum etwas von der Welt gesehen, habe keine wilden Abenteuer erlebt und keinen großen Freundeskreis aus netten und interessanten Menschen aufgebaut.
Als es an der Zeit gewesen wäre, einen mitreißenden Start hinzulegen, verliebte ich mich in Afra. Bis über beide Ohren sogar. Das hat meine Pläne ein bisschen durchkreuzt.
Sie reise leidenschaftlich gern, sagte sie damals. Unser erster gemeinsamer Urlaub führte uns nach Ägypten. Doch von den zehn Tagen dort saß Afra fünf auf dem Klo. Im Jahr darauf fuhren wir nach Mexiko, und am zweiten Tag wurde ihr auf einem Markt die Tasche geklaut. Eine gute Woche mussten wir warten, bis unsere vorläufigen Reisepässe fertig waren. Das machte ihrer Liebe zu fernen Ländern den Garaus.
„Warum sollten wir weit wegfahren, wenn es hier in der Nähe noch so viel Schönes gibt, was wir noch nicht gesehen haben?“ So lautete fortan ihr Bannspruch gegen jegliches Abenteuer. Und bei „in der Nähe“ dachte sie an die Beneluxländer, eventuell noch an Deutschland. Frankreich sei zwar auch ganz schön, aber die Sprache, weißt du …
Und so gehe ich jetzt seit Jahren jeden September in Drenthe, Luxemburg oder im Schwarzwald wandern.
„Immer schön in der Nebensaison, dann ist es noch ein ganzes Stück billiger und ruhiger.“
Ich wollte eigentlich nach Patagonien und Lappland, nach Japan und China. Doch allein bei dem Gedanken, mit Stäbchen zu essen, bekommt Afra Hitzewallungen.
Der Stau ist länger als sonst. Ich hänge jetzt schon eine Viertelstunde hinter dem Lieferwagen eines Fischhändlers aus Volendammer fest. „FISCH! LECKER UND FRISCH!“ steht auf der Heckklappe. Wahre Dichter, die Volendammer!
7
In letzter Zeit bekomme ich immer häufiger ungefragt Werbung für Treppenlifte, Scooter und Inkontinenzwindeln. Irgendwo folgert ein eigens dafür programmierter Computer aus meiner Internetbenutzung, dass der Verfall schon ganz ordentlich begonnen hat. Übrigens sind auch regelmäßig Angebote für Sterbeversicherungen dabei. „Sie“ wissen offenbar nicht, dass Afra schon alles versichert hat, was man irgendwie versichern kann. Dabei haben wir für unsere Wanderferien in Drenthe und Umgebung eine durchgehende Reiseversicherung. Für den Fall, dass wir unter einen Hinkelstein geraten.
Eine Freundin von Afra meldete letztes Jahr, dass ihr beim Campen ihr Handy gestohlen worden sei, bekam es jedoch nicht ersetzt, weil sie laut Versicherungsgesellschaft ein kleines Schloss an ihrem Zelt hätte anbringen müssen, in dem sie wiederum ihr Nokia hätte verwahren müssen. Daraufhin zog Afra kurz in Erwägung, die Reiseversicherung zu kündigen, meinte dann aber doch, dass zu viele Unglücksfälle in den Kleinigkeiten lauern.
„Zum Beispiel?“, fragte ich sie.
„Unser Arthur wieder mit seinen wissenschaftlichen Argumenten. Nein, Arthur, ich habe gerade keine Reihe von Beispielen für mögliche Unglücksfälle parat.“
„Ich brauche gar keine ganze Reihe. Ein Beispiel reicht mir.“
„Na, was würdest du dann zu einem Terroranschlag sagen?“
Ich nickte, als hielte ich das für eine gute Antwort, und machte sie nicht darauf aufmerksam, dass Terroranschläge nicht von einer Reiseversicherung gedeckt werden. Die fallen meiner Meinung nach nämlich unter gar nichts, genauso wie Atomangriffe.
8
Gestern war ich bei der Kremierung des Vaters eines Nachbarn. Er wäre in einer Woche neunzig geworden. Eigentlich war ich aus reiner Höflichkeit hingegangen: Ich erschien wegen des Nachbarn, nicht wegen des Toten. Den hatte ich nämlich kaum gekannt. Ich hatte ihn ein paarmal im Garten unterm Sonnenschirm sitzen sehen, mit einem Buch in den Parkinsonhänden. Damals fand ich es toll, dass er den tanzenden Buchstaben noch folgen konnte, aber später erfuhr ich, dass er seit Jahren dasselbe Buch las.
Wenn man keine Trauer fühlt, sitzt man ganz anders in der Halle eines solchen Krematoriums. Ich wundere mich ja immer wieder. Über die warme Atmosphäre, die sie in einem Krematorium zu schaffen wissen, über den großzügigen, zwanglosen Empfang und die gemütliche Einrichtung. Da fühlt man sich doch gleich zu Hause.
Nein, natürlich nicht. Vielmehr sehnt man sich beim Eintreten nach einer fröhlichen afrikanischen Beerdigung, mit Musik, Gesang und Tanz. Vielleicht ist sogar das pathetische Geheule und Geschrei der Araber der kahlen Kälte vorzuziehen, mit der das durchschnittliche niederländische Krematorium seine toten und lebenden Gäste empfängt.
Friedhöfe sind da weit besser, vor allem, wenn die Sonne scheint.
Es waren siebenundvierzig Menschen anwesend, um dem Toten die letzte Ehre zu erweisen. Oder vielleicht fanden sie auch nur, dass sie nicht wegbleiben konnten, ohne unhöflich zu wirken. Diese Zahl liegt weit unter dem Durchschnitt. Ich zähle nämlich immer, wie viele Menschen zu einer Beerdigung oder Kremierung kommen. Der Rekord liegt bei zweihundertfünfundfünfzig. Wie viele bei mir wohl kommen würden? Mehr als siebenundvierzig, möchte ich hoffen.
Andrea Bocelli und Sarah Brightman schallen durch die Halle. „Time to Say Goodbye“. Nummer 1 der Beerdigungshitliste.
Auf ihr stehen hierzulande aber auch noch Paul de Leeuw, Marco Borsato und Claudia de Breij. Ob das den Sängern wohl gefallen würde? Würden sie in erster Linie an die Tantiemen denken? Claudia de Breijs beliebtestes Lied ist „Darf ich zu dir?“. Was eigentlich seltsam ist, denn das Du liegt ja im Sarg, nehme ich an. Vera Lynn und Mieke Telkamp sind aus den Top Ten verschwunden. Schade. Vielleicht setze ich sie auf die Liste für meine eigene Beerdigung, um die Gäste zu überraschen. Oder noch besser: „Da steht ein Pferd auf’m Flur“ von André van Duin.
„Eine letzte verrückte Idee, Leute, präsentiert vom Verstorbenen selbst.“
Afra hat meistens Migräne, wenn Leute kremiert und beerdigt werden. Das ist mir egal, ich bin sowieso lieber allein da. Sonst muss ich, vor allem auf dem Friedhof, die ganze Zeit Arm in Arm mit ihr gehen, um die Illusion von Unterstützung und Trost zu erzeugen.
II
Ich habe an der Universität von Amsterdam Psychologie studiert. Das waren die schönsten Jahre meines Lebens, denke ich mir so im Nachhinein. Im zweiten Studienjahr lernte ich Arthur auf einer Studentenparty kennen. Er war richtig witzig und charmant. Davon ist inzwischen aber nicht mehr viel übrig. Nur ab und zu bringt er mich noch zum Lachen.
Um ehrlich zu sein, bin auch ich nicht attraktiver geworden, und damit meine ich nicht mal so sehr das Äußerliche.
„Die Zeit ist gnädig mit dir umgesprungen“, hat Arthur neulich mal zu mir gesagt. Das fand ich so süß, obwohl er hinterher einräumte, dass er sich das nicht selbst ausgedacht hat, sondern dass Joost, einer seiner Freunde, das auch immer zu seiner Frau sagt.
In der Tat sehe ich für mein Alter noch ziemlich attraktiv aus. Einer der wenigen Vorteile, wenn man keine Kinder kriegt. Es kommt durchaus noch vor, dass ein Mann mit mir flirtet. Das sind dann zwar meistens Männer über sechzig, aber immerhin …
Arthur studierte kulturelle Anthropologie, als ich ihn kennenlernte. Das Fach muss er sich wohl wegen des interessanten Namens ausgesucht haben, denn viel Interesse für fremde Völker habe ich bei ihm nie entdecken können. Es ist auch nichts daraus geworden. Nachdem er die ersten zwei Studienjahre auf fast fünf Jahre ausgedehnt hatte, beschloss sein Vater, nicht mehr zu zahlen, und dann musste Arthur arbeiten gehen. Erst in einem Fahrradgeschäft in Amstelveen, danach bei einem Großhandel für Sanitärbedarf in Breukelen. Ganz schön weit weg, aber die Stellen waren nicht gerade dicht gesät. Jetzt arbeitet er da schon mehr als zwanzig Jahre und ist mittlerweile Vertriebsleiter.
Ich glaube, dass es ihm dort in Breukelen, zwischen seinen ganzen Klorollen, im Grunde ganz gut gefällt. Obwohl er sauer wird, wenn ich Witze über Klorollen reiße.
9
Heute vor elf Jahren habe ich Ester zum ersten Mal getroffen. Sie arbeitete für einen Lieferanten von Automaten für Papierhandtücher und Toilettenpapier. Damals war sie für einen Vertreter eingesprungen, der wegen eines Burn-outs krankgeschrieben war. Anstelle eines Kopfes mit schütteren grauen Haaren und Schnurrbart kam also eine große Mähne fröhlicher blonder Locken ins Büro spaziert.
„Guten Tag, ich suche Herrn Ophof“, sagte sie.
Vielleicht stand mir der Mund etwas zu lange offen.
„Ich vertrete Herrn Schulz, der vorübergehend durch ein kleines Burn-out außer Gefecht gesetzt ist“, fügte sie erklärend hinzu.
„Na, dann lassen Sie das Herrn Schulz mal in aller Ruhe auskurieren.“ So habe ich, glaube ich, geantwortet. Kein überwältigender Eröffnungssatz, aber Ester musste lächeln.
Die Fortsetzung war auch nicht so glanzvoll: „Ich bin schon seit zwölf Jahren im Klopapier, aber so eine schöne Automatenfrau stand noch nie vor meinem Schreibtisch.“
„Das sagen Sie doch garantiert zu allen Automatenfrauen“, erwiderte Ester mit einem atemberaubenden Funkeln in den Augen.
In den nächsten Monaten bestellte ich alle paar Wochen mal hier, mal da einen Papierautomaten, während ich vorher immer vierzig auf einmal gekauft hatte. So hatte ich einen halbwegs akzeptablen Grund, sie anzurufen.
„Ich sehe an den Bestelllisten, dass du deine Einkaufsstrategie ein bisschen geändert hast, seit Herr Schulz krank ist“, konstatierte sie.
„Die Automatenkönigin verdient nun mal eine andere Behandlung als der ausgebrannte Herr Schulz.“
Wir plauderten eine Viertelstunde am Telefon. Ich sah, dass mein Kollege Berend unserem Gespräch angestrengt lauschte. Da wurde mir klar, dass wir bereits auf einem bedenklichen Niveau miteinander flirteten.
„Ich habe einen neuen Papierhalter im Sortiment, Arthur. Soll ich dir den demnächst mal vorführen?“, fragte Ester. Ich schlug ihr vor, die Präsentation des Halters in ein Restaurant zu verlegen. Diese Idee gefiel Ester.
Als ich aufgelegt hatte, lispelte Berend: „Appetitliches Frauenzimmer, hm?“
Wir gingen fast ein Jahr lang miteinander essen, ins Kino, an den Strand und zu guter Letzt auch ins Bett. Es war der Himmel auf Erden. Und ich war vollkommen von der Rolle. Ester ebenfalls, doch sie kam wieder zur Besinnung. Auf der anderen Seite lagen ein anständiger Mann und drei kleine Kinder von zwei, vier und sieben Jahren in der Waagschale. Ich konnte es ihr nicht verübeln, dass sie sich für sie entschied. Sie hatte sich von einer Art tollkühner Leidenschaft hinreißen lassen, nun holte die Wirklichkeit sie wieder ein.
„Es gibt niemanden, den ich so sehr lieben könnte, dass ich drei Kinder für ihn verlassen würde.“
„Darf ich dich in zehn Jahren wieder anrufen?“, fragte ich.
Sie nickte und strich mir kurz mit der Hand über die Wange.
Ein paar Sekunden standen wir uns reglos gegenüber. Dann küsste sie mich flüchtig auf den Mund, drehte sich um und ging davon.
Ich schaute ihr nach und hoffte, dass sie sich noch einmal umschauen würde. Tat sie aber nicht. Ich meinte zu sehen, dass sie sich mit der Hand über die Augen wischte.
In einundzwanzig Tagen sind die zehn Jahre vorbei.
10
Im Auto hatte ich Zeit nachzudenken. Zum Beispiel über Selbstmord. Nein, ich selbst hege keinerlei Ambitionen in dieser Richtung. Meine Gedanken kreisen eher um die Menschen, die es von außen betrachtet zwar geschafft haben, die aber trotzdem zu dem Schluss gekommen sind, dass das Leben ihnen nicht mehr genug zu bieten hat. Joost Zwagerman, Antonie Kamerling oder der deutsche Toptorwart Robert Enke, es gibt sicherlich noch mehr Beispiele. Bewunderung, Geld, Gesundheit, schöne Frauen – auf den ersten Blick mehr als genug Gründe, um gerne alt zu werden, und doch war der Tod anziehender. Irgendwo in ihrem Kopf saßen ein paar verirrte Neurotransmitter und waren schuld daran, dass sie nicht zufrieden wurden, sondern todunglücklich, sosehr sie sich auch in die Ruder legten. Einfach Pech.
Ich habe zwar selbst auch ab und zu die Schnauze voll von dem Leben, das ich führe, aber nicht vom Leben im Allgemeinen. Mir stehen Breukelen und Purmerend bis obenhin. Ebenso Klopapier und verkehrsberuhigte Zonen. Ich träume von New York und der Toskana, muss aber stattdessen nächsten Monat bei einer viertägigen Fahrradtour durch Nordholland mitmachen. Afra möchte gerne, dass wir beim Radfahren dieselbe „sportliche“ Kleidung tragen. Sie hat einen Kartenhalter am Lenker. Ich ertappe mich selbst dabei, dass ich versuche, so weit wie möglich hinter ihr zurückzufallen, damit es so aussieht, als würde ich gar nicht zu ihr gehören.
Es ist nicht ihre Schuld. Es ist nicht ihre Schuld. Es ist nicht ihre Schuld. Das kann ich nicht oft genug sagen. Sie ist, wie sie ist. Ich bin die Schnarchnase, die nicht so ist, wie sie sein will.
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