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Lunapark (Die Gereon-Rath-Romane 6) Lunapark (Die Gereon-Rath-Romane 6) - eBook-Ausgabe

Volker Kutscher
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Der 6. Rath-Roman

— Vom Autor der Romanvorlage zu Babylon Berlin
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Lunapark (Die Gereon-Rath-Romane 6) — Inhalt

Rath legt sich mit der Berliner Unterwelt an

Kommissar Gereon Rath soll die Morde an zwei SA-Männern aufklären und entdeckt Verbindungen zu einem zerschlagenen Ringverein, der seine kriminellen Aktivitäten als SA getarnt fortsetzt. Alles deutet auf eine Mordserie hin. Während der Ermittlungen wird die politische Lage immer brisanter: Gereon Raths Frau Charly kommt in SA-Haft, und er selbst gerät in einen Strudel sich überschlagender Ereignisse, an deren Ende er massiv unter Druck gesetzt wird: Er soll einen Mord ausführen! Volker Kutscher liefert atemlose Spannung und das packende Porträt politisch höchst unruhiger Zeiten.

„Milieusicher und atmosphärisch dicht lässt der gelernte Historiker Kutscher das historische Berlin noch einmal ziemlich lebendig werden.“ Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung


€ 14,00 [D], € 14,40 [A]
Erschienen am 10.01.2025
560 Seiten, Klappenbroschur
EAN 978-3-492-32026-9
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€ 10,99 [D], € 10,99 [A]
Erschienen am 10.01.2025
560 Seiten
EAN 978-3-492-60876-3
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Leseprobe zu „Lunapark (Die Gereon-Rath-Romane 6)“

Prolog

Freitag, 18. Mai 1934

Die hell erleuchteten Fassaden der Großstadt glitten an ihm vorüber, und er lehnte sich zurück in die Lederpolster. Mehr als zwei Stunden Fahrt lagen noch vor ihm: nach dem Lichtermeer der Berliner Nacht die Dunkelheit der Mark Brandenburg; nur die Alleebäume rechts und links der Chaussee, von den Autoscheinwerfern für Sekunden ins Licht geholt, um dann wieder in die Dunkelheit zurückgeworfen zu werden. Das hatte etwas Beruhigendes, fand er, diese ewige Wiederkehr des Gleichen.

Adolf Osterberg liebte es, in seinem Audi SS durch [...]

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Prolog

Freitag, 18. Mai 1934

Die hell erleuchteten Fassaden der Großstadt glitten an ihm vorüber, und er lehnte sich zurück in die Lederpolster. Mehr als zwei Stunden Fahrt lagen noch vor ihm: nach dem Lichtermeer der Berliner Nacht die Dunkelheit der Mark Brandenburg; nur die Alleebäume rechts und links der Chaussee, von den Autoscheinwerfern für Sekunden ins Licht geholt, um dann wieder in die Dunkelheit zurückgeworfen zu werden. Das hatte etwas Beruhigendes, fand er, diese ewige Wiederkehr des Gleichen.

Adolf Osterberg liebte es, in seinem Audi SS durch die Gegend gefahren zu werden, auf der Rückbank eine Zigarre zu rauchen und nachzudenken. Und heute gab es besonders erfreuliche Dinge, über die er nachdenken konnte. Sein Geschäftsabschluss mit Friedländer war mehr als zufriedenstellend. Ein Geschäft, von dem sie beide profitierten und das ihnen für die nächsten Monate Sicherheit gäbe. Sie hatten sich einen Cognac gegönnt zum Abschluss ihres Geschäftsessens, und immer noch spürte Osterberg die Wärme des Alkohols, die das Gefühl tiefster Zufriedenheit, das sich in ihm ausbreitete, auf angenehme Weise unterstützte.

Schulze steuerte den Achtzylinder mit ruhiger Hand. Der junge Fahrer kannte sich nicht nur gut mit Autos aus – fast alle Reparaturen erledigte er selbst –, er war auch im Umgang ein äußerst angenehmer Mensch, in dessen Gesellschaft man sich einfach gerne aufhielt. Und was war bei einem Chauffeur wichtiger?

Emilie und die Kinder waren bereits in Ahrenshoop, dorthin würde er morgen abend nachreisen, wenn er in der Firma alles geregelt hatte und Leyboldt, seinem Prokuristen, die neuen Aufträge übergeben und alle Instruktionen für die nächsten zwei Wochen erteilt hätte. Nur noch ein Arbeitstag lag vor ihm, dann begann der Urlaub. Zwei Wochen Ostsee.

Er freute sich schon auf das Gesicht seiner Frau, wenn er ihr die Neuigkeiten erzählte. Von wegen: Im neuen Deutschland sei kein Platz mehr für ihresgleichen! Adolf Osterberg war alter Frontkämpfer, das zählte auch unter der neuen Regierung. Er war national gesinnt, immer gewesen, Deutschland kam vor allem anderen, manchmal sogar vor seiner Frau, und das hieß schon etwas, denn Adolf Osterberg liebte seine Frau.

Die Wollweberei, deren Direktor er war, lief gut. Auf die Gerüchte, die immer mal wieder die Runde machten, gab er nicht viel. Man musste ja nicht unbedingt damit hausieren gehen, dass man jüdisch war, dann ließen sie einen schon in Ruhe. Und viele andere Dinge machte die neue Regierung goldrichtig. Wie sie mit den Kommunisten umgesprungen war!

Der Fahrer schaute immer wieder in den Rückspiegel.

„Was ist denn, Johann? Stimmt etwas nicht?“

„Nichts Besonderes, Herr Direktor. Aber der Hanomag hinter uns macht mich nervös. Folgt uns schon seit dem Spittelmarkt.“

„Dann drosseln Sie doch mal das Tempo und lassen ihn überholen“, sagte Osterberg und griff zur Zigarrenkiste, „so eilig haben wir’s ja nicht.“

„Sehr wohl, Herr Direktor.“

Schulze ging vom Gas, und tatsächlich zog ein dunkelblauer Hanomag Rekord an ihnen vorbei. Osterberg schaute sich um. Ein weiterer Wagen hinter ihnen, sonst kein Auto weit und breit; sie waren schon ein ganzes Stück vom Stadtzentrum entfernt auf der Köpenicker Straße. Der Hanomag überholte den Audi, doch dann stellte er sich plötzlich mit einem gewagten Manöver quer und blieb mitten auf dem Fahrdamm stehen. Schulze musste auf die Bremsen steigen. Mit quietschenden Reifen kamen sie zum Halten.

Aus dem Hanomag stiegen vier Männer, allesamt in braunen Uniformen. Osterberg seufzte. Das hatte ihm noch gefehlt. Hinter ihnen hielt auch der andere Wagen, aus dem ebenfalls SA-Männer stiegen. Man hatte sie in die Zange genommen. Osterberg legte die Zigarrenkiste wieder beiseite. Er hatte sich zu früh gefreut.

Einer der Braunhemden, ein hageres, unscheinbares Kerlchen, das ohne Uniform ausgesehen hätte wie ein harmloser Buchhalter, klopfte an die Scheibe. Schulze kurbelte das Fenster herunter.

„Führerschein. Fahrzeugpapiere.“

„Heil Hitler, Sturmführer. Was gibt’s denn?“

„Führerschein! Fahrzeugpapiere!“

Schulze griff ins Handschuhfach und überreichte das Gewünschte. Der SA-Mann klappte die Dokumente auf und schaute misstrauisch ins Wageninnere.

„Schulze, Johann. Das sind Sie?“

„Jawohl, Sturmführer.“

„Aber das Fahrzeug gehört einem gewissen Osterberg, Adolf.“

„Mein Chef, Sturmführer. Ich bin nur der Chauffeur.“

„Halten Sie mich für blöd? Dass das keine SA-Uniform ist, die Sie da tragen, das seh ich auch.“

„Adolf?“, meldete sich ein vierschrötiger Kerl neben dem Sturmführer zu Wort. „’ne Judensau, die Adolf heeßt? Is ja irre!“

Der Sturmführer warf dem Kerl einen Blick zu, und der verstummte.

Dann ging er zum Wagenfond und schaute hinein. Osterberg kurbelte seine Scheibe herunter.

„Heil Hitler, Sturmführer!“, sagte er und streckte vorschriftsmäßig den rechten Arm aus, so gut es in dem engen Innenraum ging.

„Sie sind Adolf Osterberg?“

„Jawohl!“

„Steigen Sie bitte aus dem Wagen.“

„Ist das wirklich nötig? Ich …“

„Aussteigen, habe ich gesagt!“

„Jawohl.“

Adolf Osterberg war irritiert. Was hatte er falsch gemacht? Er hatte den Deutschen Gruß entboten und auch sonst jeden Respekt gezeigt, den die SA verdiente. Männer wie diese hier hatten im Kampf gegen die Kommune an vorderster Front gestanden, sie hatten ganz in seinem Sinne gehandelt. Über ihre antisemitischen Frotzeleien konnte er hinwegsehen. So stolz war er gar nicht darauf, Jude zu sein. Deutsch zu sein war für ihn schon immer wichtiger gewesen. Emilie zuliebe hatte er sogar konvertieren wollen, aber sie war dagegen gewesen, also hatte er es bleiben lassen. Sonderlich fromm waren sie beide ohnehin nicht. Nie gewesen.

„Was fährt denn einer wie Sie so einen schicken Wagen?“, fragte der Sturmführer, als Osterberg ausgestiegen war.

„Einer wie ich? Mit Verlaub, ich bin Fabrikant! Leite eine Wollweberei. Eine gut laufende. In Cottbus.“

„Der Wagen ist konfisziert.“

„Wie bitte?“ Osterberg glaubte, sich verhört zu haben. „Wie soll ich denn um diese Zeit nach Cottbus kommen ohne mein Auto?“

„Darüber müssen Sie sich keine Sorgen machen.“

Der bullige SA-Mann, der eben den misslungenen Witz über Osterbergs Vornamen gemacht hatte, seinem Kragenspiegel nach ein Rottenführer, beugte sich zu Schulze hinunter.

„Sitzt du auf den Ohren, Judenknecht? Der Wagen ist konfisziert! Raus mit dir!“

Osterbergs Fahrer blieb ruhig. Er öffnete die Tür und stieg aus.

„Schulze hört sich nicht besonders jüdisch an“, sagte der Rottenführer, dem die Rauflust geradezu aus den Augen sprang.

„Ich bin katholisch“, sagte Schulze mit leiser Stimme.

„Mit Verlaub, Sturmführer“, mischte sich Osterberg wieder ein. „Wir sind gute, aufrechte Deutsche, Sie brauchen uns …“

Bevor er den Satz zu Ende bringen konnte, trat der Rottenführer einen Schritt näher und rammte ihm seine Faust mit einer derartigen Wucht in die Magengrube, dass Adolf Osterberg einknickte und sich auf der Stelle übergab. Das gute Abendessen und der teure Cognac landeten auf dem Pflaster der Köpenicker Straße.

„’n Jude, der Adolf heeßt und behauptet, ’n aufrechter Deutscher zu sein? Ick gloob, mein Schwein pfeift! Wie aufrecht biste denn jetze, du Itzig?“

Während Osterberg auf dem Boden hockte und nach Luft schnappte, wandte sich der Rottenführer dem Chauffeur zu. Schulze hatte seinem Chef zu Hilfe eilen wollen, doch zwei SA-Männer hatten ihn rechts und links gepackt.

„Du bist also ’n Kathole“, sagte der bullige Kerl und baute sich mit seiner ganzen Körpermasse vor Schulze auf. „Und warum arbeiteste dann für so ’ne Judensau.“

„Herr Osterberg ist keine Judensau, sondern der beste Chef, den man sich nur wünschen kann.“

Adolf Osterberg war gerührt von der Loyalität, die sein Fahrer zeigte, doch wünschte er sich, Schulze hätte geschwiegen. Er hockte immer noch auf dem Straßenpflaster, aber dann rissen ihn zwei SA-Männer nach oben und nahmen ihn in ihre Mitte. Osterberg kam sich vor wie verhaftet, dabei hatte er sich nichts zuschulden kommen lassen, außer nachts um zehn mit dem Auto durch Berlin zu fahren.

„Weißt du, was ich von deinem Chef halte?“, sagte der Rottenführer. Er stand nun ganz dicht vor Schulze. „Er ist ein Stück Scheiße, das man durch den Lokus spülen sollte.“

Der treue Schulze blieb ruhig. Doch er machte den Fehler zu antworten.

„Es ist mir völlig gleichgültig, was ein Analphabet wie du von meinem Chef hält.“

Der Rottenführer erwiderte nichts, nach einer kleinen Pause, die er offensichtlich brauchte, um das Gesagte als Beleidigung zu verstehen, nickte er nur kurz mit seinem schweren Kopf nach vorne und traf das Nasenbein des Fahrers mit voller Wucht. Schulze verdrehte die Augen und ging zu Boden, denn die beiden SA-Männer hatten ihn losgelassen und machten ihrem Rottenführer Platz, der mit seinen schweren Stiefeln ausholte und gegen Schulzes Kopf trat wie gegen einen Fußball. Die Chauffeurmütze flog in hohem Bogen übers Pflaster. Immer wieder trat der Kerl gegen den leblosen Körper, sprang auf ihm herum, als gelte es, ein Feuer auszutreten. Mehrmals meinte Osterberg, Knochen brechen zu hören, doch er konnte nichts tun, die Männer an seiner Seite hielten ihn so fest, dass er sich kaum rühren konnte.

„Hören Sie auf!“, rief er, „Sie bringen den armen Kerl doch um!“

Niemand reagierte.

Dann schien der Rottenführer sich endlich zu beruhigen. So sah es jedenfalls aus, doch Osterberg sollte sich täuschen. Langsam kniete sich der bullige Kerl auf den Boden und beugte sich über sein blutüberströmtes Opfer, das reglos und röchelnd am Boden lag, beugte sich über den wehrlosen Schulze und berührte dessen Gesicht, als wolle er ihn auf die Stirn küssen, doch das tat er nicht. Seine Lippen stülpten sich über Schulzes rechtes Auge. Und was Adolf Osterberg dann hilflos mit ansehen musste, in eisernem Griff gehalten von zwei SA-Männern und ohne jede Chance, eingreifen zu können, war das Schrecklichste, was er in seinem Leben je erlebt hatte.


1

Obwohl er sich gleich nach dem Anruf auf den Weg gemacht hatte, herrschte bereits Hochbetrieb. Im Schatten einer hohen Backsteinmauer standen zwei grüne Opel vom Präsidium, ein Überfallwagen der Schutzpolizei, der dunkelrote Horch von Doktor Karthaus und das schwarz glänzende Mordauto aufgereiht am Bordstein der Gartenstraße. Ein paar Meter weiter, im Halbdunkel unter der Bahnbrücke, waren so viele Schupos postiert, dass Rath vor lauter Uniformblau kaum etwas von dem erkennen konnte, was sich dahinter abspielte. Er parkte seinen Buick ganz hinten in der Reihe und stieg aus.

Der Morgen war nicht allzu freundlich, ein grauer Himmel hing über der Stadt. Rath holte sein Zigarettenetui aus der Manteltasche, zündete sich eine Overstolz an und schaute sich um. Rechts heruntergekommene Mietskasernen, links die Mauer, die das Betriebsgelände des Stettiner Bahnhofs vom Rest der Welt abschirmte. Und geradeaus versperrte eine monströse stählerne Eisenbahnbrücke den Blick auf den Horizont, die Liesenbrücke, so genannt wegen einer der Straßen, die sie überspannte, doch klang der Name eigentlich viel zu lieblich für den schwarzgrauen Koloss, der aussah, als habe ein schlecht gelaunter Gott ihn aus Wut mitten zwischen die Häuser geworfen. Alles in allem eine unwirtliche Gegend: unten Mietskasernen, Industrie und Friedhöfe, oben die Züge, die zum Stettiner Bahnhof ratterten und alle paar Minuten einen Höllenlärm machten.

Der Tatort schien sich genau unter der Brücke zu befinden, mehr als ein Dutzend Blaue hatten dort eine Kette gebildet. Zwei Männer in Zivil sprachen gerade mit einem Hauptwachtmeister, einer hatte einen altertümlichen Fotoapparat mitsamt Holzstativ geschultert, der andere einen Notizblock gezückt. Kriminalsekretär Paul Czerwinski und Kommissar z. A. Andreas Lange, seine beiden Männer für den heutigen Einsatz. Vergleichsweise wenig, wenn man bedachte, mit wie vielen Leuten der Erkennungsdienst und die Schutzpolizei angerückt waren.

Rath war müde. In der Nacht hatten ihn die Dämonen wieder besucht, die seine Albträume bevölkerten, die Menschen, deren Tod er verschuldet hatte, und die ihn nicht in Ruhe lassen wollten. Immer wieder in den Vollmondnächten krochen sie aus ihren Gräbern und hinein in seine Träume.

Er inhalierte den Zigarettenrauch zusammen mit der kühlen Morgenluft und ging hinüber. Lange hatte ihn bereits entdeckt und tippte mit zwei Fingern an die Hutkrempe. Woraufhin Czerwinski sich umdrehte und mit seinem Stativ beinahe einen der Schutzpolizisten gestreift hätte. Im letzten Moment duckte sich der Mann weg. Eine solche Szene hatte Rath zuletzt im Kino gesehen, in irgendeinem Dick-und-Doof-Film, Czerwinski jedoch passierte so etwas auch im richtigen Leben.

Unter der Bahnbrücke klebte noch immer die Nacht, es war duster und wurde auch ein paar Grad kälter, kaum war Rath in den Schatten des stählernen Gerüsts getreten.

„Was für ein Großaufgebot“, sagte er, als er die Kollegen erreicht hatte. „Man könnte ja fast meinen, der Kaiser von China sei gestorben.“

Niemand verzog eine Miene. Lange räusperte sich und schaute auf seine Schuhspitzen, Czerwinski grummelte etwas Unverständliches und stapfte weiter. Und der Blick des Uniformierten blitzte so böse, wie es der Rangunterschied zwischen Hauptwachtmeister und Kriminalkommissar gerade noch zuließ. Rath warf einen Blick über die blauen Schultern und verstand: Der Tote, der im Schatten der Bahnunterführung lag wie ein weggeworfener blutiger Sack, trug die braune Uniform der SA.

Rath zeigte dem Schupo seinen Dienstausweis. „Sie haben ja mächtig viel Männer im Einsatz“, sagte er.

„Man kann nie wissen, das hier ist immer noch ’ne rote Ecke. Die Lage hat sich zwar beruhigt seit der nationalen Revolution, aber wenn die Roten sich dann doch mal aus ihren Löchern wagen, gibt’s gleich Tote.“

„Hört sich an, als hätten Sie Erfahrung damit.“

„Dreiundfuffzichstes Revier“, sagte der Schupo, als erkläre das alles. „Drüben in der Voltastraße. Wir ham immer schon unseren Kopp hinhalten müssen.“

„Na, aber diesmal hat, wie es aussieht, jemand anderes seinen Kopf hingehalten“, meinte Rath mit Blick auf die Leiche.

Der tote SA-Mann lag mitten auf dem Gehweg im Schatten der Eisenbahnbrücke und war übel zugerichtet, die Gliedmaßen unnatürlich verbogen und verrenkt, als habe man dem armen Kerl sämtliche Knochen gebrochen. Sein Gesicht war entstellt von Platzwunden, die Nase gebrochen und blutig, die fleischige Oberlippe eingerissen, sodass man die lückenhafte Zahnreihe dahinter sehen konnte. Nur die weit aufgerissenen Augen, in deren Blick das schiere Entsetzen geschrieben stand, waren wie durch ein Wunder unversehrt geblieben, ebenso die SA-Kappe, die vom Sturmriemen unterm Kinn an ihrem Platz gehalten worden war und so akkurat saß, als gehe es gleich zum Uniformappell. Der Rest der Uniform war in weniger gutem Zustand, der braune Stoff mehrfach gerissen, Blut an vielen Stellen in das Gewebe gesickert. Im Schritt hatte sich ein dunkler Wasserrand gebildet. Der Mann musste sich im Todeskampf eingenässt haben.

Auf der Backsteinwand über der Leiche hatte jemand in Großbuchstaben und mit weißer Farbe geschrieben: ARBEITER WEHRT EUCH! TOD DEN HITLERFASCHI… Weiter war er mit seiner Botschaft an die Berliner Werktätigen nicht gekommen.

Einer dieser Werktätigen stand zwischen zwei Blauen, knetete seine Mütze und gab sich große Mühe, nicht auf die unvollendete Parole zu schauen und noch weniger auf die Leiche. Die Schupos hatten dem Mann Handschellen angelegt.

Rath passierte die Polizeikette und ging hinüber. Lange folgte ihm, während Czerwinski begann, den Fotoapparat in Stellung zu bringen.

„Unser Tatverdächtiger?“, fragte Rath die Blauen.

Bevor einer der Uniformierten etwas sagen konnte, begann der Arbeiter zu reden, die Worte sprudelten förmlich aus ihm heraus. „Ick schwör Ihnen, Herr Inspektor, ick hab damit nüscht zu tun! Sonst wär ick doch nich uff die Wache. Ick und die Kollejen ham ihn doch nur entdeckt … Da war er doch schon mausetot.“

„Sie haben den Leichenfund gemeldet?“

Der Arbeiter nickte.

„Der Mann ist ein Zeuge, warum trägt er dann Handfesseln?“, fragte Rath den Oberwachtmeister, der den Arbeiter am Arm hielt.

„Nummer sicher, Kommissar. Man weiß doch nie bei diesen Leuten.“

„Halten Sie jeden Arbeiter für einen Roten? Nehmen Sie dem Mann die Dinger ab.“

Der Oberwachtmeister wirkte nicht begeistert, doch er griff in seine Jackentasche und holte einen kleinen Schlüssel heraus.

„Wann haben Sie den Toten denn gefunden?“, fragte Rath den Arbeiter.

Der schüttelte seine Handgelenke, um die Durchblutung wieder in Gang zu bringen. „So gegen halb sechs. Wurde jerade hell.“

Rath machte eine Notiz. „Und wo sind die Kollegen, von denen Sie gesprochen haben?“

„Na, wo wohl? Arbeeten. Waren doch auf dem Weg zur Schicht.“

„Wo?“

Der Mann zeigte ostwärts. „Drüben. AEG. Und icke bin zur Wache.“ Er zuckte die Achseln. „Haben jelost, wer dette da melden soll.“

„Gelost? Warum sind Sie denn nicht alle zur Wache? Ihre Kollegen sind ebenfalls Zeugen eines Mordfalls, da kann man sich doch nicht einfach so verdrücken. War Ihnen das nicht klar?“

„Meenen Se, unsereins kann sich erlauben, hier stundenlang rumzustehen statt zu malochen?“ Der Arbeiter warf den Schupos einen bösen Blick zu. „Und wenn ick sehe, wie ein Volksjenosse behandelt wird, der nur seine Pflicht erfüllt, denn bedaure ick wirklich, det icke derjenige war, der den Kürzeren jezogen hat.“

„Ihren Arbeitgeber werden wir selbstverständlich informieren. Mit Ihren Kollegen müssten wir allerdings auch noch sprechen. Haben Sie die Namen? Und Adressen?“

„Können Se haben. Wir ham nüscht zu verberjen.“

„Gut.“ Rath drehte sich um. „Lange?“

„Kommissar?“

„Lange, setzen Sie doch die Befragung von Herrn …“

„Egerland“, soufflierte der Arbeiter.

„… setzen Sie doch bitte die Befragung des Zeugen Egerland fort.“

Andreas Lange hatte seinen Block bereits gezückt, diensteifrig wie immer. Seit einem Jahr arbeitete Rath mit Lange zusammen, der als Kriminalassistent in der Burg angefangen und inzwischen Kommissar zur Anstellung war. Die Zusammenarbeit hatte sich bewährt, Langes Berufung zum Beamten auf Lebenszeit stand nichts im Wege. Würde das z. A. hinter seinem Dienstgrad erst einmal wegfallen, war es nur noch eine Frage der Zeit, bis er in ein anderes Büro umziehen würde und Rath sich wieder nach einem neuen Partner umschauen konnte. War Gereon Rath eigentlich der einzige Beamte im ganzen Präsidium, der niemals befördert wurde? Die Sozis hatten ihn schon geflissentlich übersehen, und seit der Nazi Magnus von Levetzow Polizeipräsident war, hatten sich Raths Aussichten auf Beförderung nicht gerade verbessert.

Würde es ihm ähnlich ergehen wie Paul Czerwinski, der seit Ewigkeiten auf der Stufe des Kriminalsekretärs stehen geblieben war? Doch Czerwinski, der sich gerade mit dem Fotoapparat abmühte, war kein Maßstab. Rath senior war der Maßstab, Kriminaldirektor Engelbert Rath, seinerzeit der jüngste Oberkommissar der Kölner Polizei, mit achtundzwanzig Jahren. Wobei der Stern seines Vaters im Kölner Polizeipräsidium im Sinken begriffen war. Sosehr Engelbert Rath die Duzfreundschaft zum früheren Kölner Oberbürgermeister Konrad Adenauer lange Jahre genutzt hatte, sosehr hatte sie nun dazu beigetragen, den alten Herrn ins Abseits zu stellen. Sie hatten ihn nicht degradiert oder entlassen, seine Bezüge erhielt er noch, doch irgendwelchen Einfluss in der Kölner Polizei und schon gar in der Kölner Politik besaß Engelbert Rath nicht mehr.

Vielleicht fuhr man in solchen Zeiten besser, wenn man keinerlei Ambitionen hatte, dachte Rath. So wie Paul Czerwinski, der die Kamera nun endlich einsatzbereit hatte. Der Kriminalsekretär ließ sich durch nichts aus der Ruhe bringen. Zunächst nahm er die Parole ins Visier, denn mit dem Toten war die Spurensicherung noch beschäftigt.

Kronberg persönlich hockte bei der Leiche, auch die Spurensicherer nahmen einen toten SA-Mann ernst. Der ED-Chef erhob sich, als er Rath erblickte.

„Schönen guten Morgen, Kommissar.“

„Na, ob das wirklich der passende Ausdruck ist … Angesichts der Umstände …“ Rath nickte zu dem Toten hinüber.

„Ich meinte natürlich: Heil Hitler!“

Kronberg wirkte ernsthaft erschrocken, dabei hatte Rath ihn gar nicht wegen seines Grußes maßregeln wollen. Wie blank die Nerven bei vielen Menschen lagen! Sogar ein gestandener Kriminalrat hatte Angst, etwas falsch zu machen.

Rath antwortete mit dem schlampigen Hitlergruß, den er sich in den vergangenen Monaten angewöhnt hatte, und nuschelte sein „Heil“. Bislang hatte er sich damit durchmogeln können; außer ein paar missbilligend zusammengezogenen Augenbrauen bei der ein oder anderen Gelegenheit hatte ihm seine Interpretation des mittlerweile für Beamte vorgeschriebenen Grußes noch keine Schwierigkeiten eingebracht. Und er selbst fühlte sich besser, wenn er nicht, wie so viele Polizeibeamte, strammstand und Männchen machte. Am besten fühlte er sich, wenn er gar nicht grüßte, doch das ließ die Situation nicht immer zu.

„Kommt Gennat nicht?“, fragte Kronberg.

Kriminaldirektor Ernst Gennat, Gründer und Leiter der Berliner Mordinspektion, war schon seit Jahren nicht mehr selbst zu einem Leichenfund rausgefahren. Der Buddha, wie Gennat ob seiner Leibesfülle und noch mehr seiner stoischen Ruhe wegen genannt wurde, löste seine Fälle lieber vom Schreibtisch aus, mit einer Tasse Tee und einem Stück Stachelbeertorte als wichtigstem Arbeitsgerät. Dass Kronberg dennoch nach ihm fragte, war mehr als ungewöhnlich und hatte, wie Rath vermutete, ebenso wie die Hundertschaft, die das 53. Revier zur Tatortsicherung aufbot, mit der Uniform des Toten zu tun.

„Ich fürchte, Sie müssen mit uns vorliebnehmen, Kriminalrat“, sagte Rath. „Die Kollegen Lange und Czerwinski sind Ihnen ja bekannt. Mehr Leute habe ich erst mal nicht.“

Kronberg nickte und reichte Rath eine Brieftasche.

„Die haben wir bei dem Toten gefunden. Fingerabdrücke sind bereits gesichert. Sie können jetzt fotografieren, wenn Sie wollen.“

Rath fächerte das braune Leder auf und zählte die Scheine, zwei Zehner und drei Zwanziger. „Raubmord können wir wohl ausschließen“, sagte er, was Kronberg mit einem säuerlichen Lächeln quittierte, und fummelte sich weiter durch die Brieftasche. Außer Kleingeld fand er zwei Zehner-Briefmarken und in einem separaten Fach, akkurat verstaut, einen Mitgliedsausweis der SA.

Rath klappte das Papier auf und blickte in das Gesicht des Toten, der sich mit einer Miene hatte fotografieren lassen, als wolle er gleich kleine Kinder fressen. Ein vierschrötiger Kerl, der im Zivilberuf entweder Möbelpacker oder Preisboxer gewesen sein musste. Rath versuchte, die Statur der Leiche einzuschätzen. Groß gewachsen und kräftig, einer von der Sorte Mensch, der man lieber nicht im Dunklen begegnen mochte.

Laut Ausweis hieß der Tote Horst Kaczmarek, bekleidete den Rang eines SA-Rottenführers und war seit knapp zwei Jahren Mitglied des SA-Sturmes 101 im Wedding.

„Wo hat denn der Sturm hunderteins sein Sturmlokal?“, fragte Rath, und Kronberg hob verlegen seine Schultern; die Wissenslücke schien ihm peinlich zu sein.

„Mit Verlaub, Herr Kommissar: da drüben“, meldete sich ein Schupo und zeigte in Richtung Westen. „Gaststätte Bestmann. Boyenstraße. Hausnummer elf.“

Rath notierte die Adresse. Nach Kaczmareks Wohnort musste er niemanden fragen und auch keinen Stadtplan bemühen. Gartenstraße 74. Das Haus lag keinen Steinwurf vom Fundort der Leiche entfernt. Die letzte Mietskaserne vor der massigen Eisenbahnbrücke, unter der sie standen. Es war ziemlich offensichtlich: Rottenführer Kaczmarek war auf dem Heimweg von seinem Sturmlokal kurz vor Erreichen seiner Wohnung gestorben. Weil er einer Wandparolenkolonne des kommunistischen Untergrunds über den Weg gelaufen war? So sah es jedenfalls aus, aber wenn Rath eines in seinen Jahren bei Ernst Gennat gelernt hatte, dann dies: Keine voreiligen Schlüsse ziehen!

Während er noch darüber nachdachte, was hier in der Nacht passiert sein mochte, donnerte ein Zug über die Brücke, so laut, dass kein anderes Geräusch mehr an seine Ohren drang. So laut, dass nicht mal die eigenen Gedanken den Weg zurück zu ihm fanden.

Rath zündete sich die nächste Zigarette an und schaute sich um. Czerwinski hatte den Fotoapparat umgepflanzt und mit dem Fotografieren der Leiche begonnen, Kronberg sich wieder seinen Leuten zugewandt. Ein Spurensicherer kratzte etwas Farbe von der Parole an der Wand und ließ sie in eine Blechdose rieseln, ein anderer markierte einen größeren eingetrockneten Farbklecks auf dem Boden, unweit der Leiche. Lange unterhielt sich mit dem Zeugen Egerland. Die Blauen standen in der Gegend herum und machten wichtige Gesichter. Nur Doktor Karthaus war nirgends zu sehen, obwohl der rote Horch des Gerichtsmediziners zwischen den Polizeifahrzeugen in der Sonne glänzte, die sich nun langsam durch die Wolkendecke brannte. Karthaus war meist als einer der Ersten am Einsatzort, obwohl er sich so gut wie immer gedulden musste, bevor er an eine Leiche herandurfte. Erst mussten die Spurensicherer mit ihrer Arbeit fertig sein, dann die Auffindesituation fotografiert werden. Meist fand man den Doktor rauchend irgendwo am Tatort, wie er, nach der ersten Inaugenscheinnahme der Leiche zum Nichtstun verurteilt, die Zeit mit Zigaretten totschlug. Doch heute konnte Rath ihn nirgends entdecken, nicht einmal die obligatorischen Rauchkringel, die den Standort des Gerichtsmediziners sonst verrieten.

Das Donnern auf der stählernen Brücke hatte seine Sinne derart beansprucht, dass Rath erst jetzt den tiefschwarzen Mercedes bemerkte, der sich mit hoher Geschwindigkeit näherte, sämtliche Einsatzfahrzeuge in der Gartenstraße passierte und schließlich, als schon zu befürchten stand, er werde geradewegs in die Polizeikette rasen, direkt vor den Schupos hielt. Der Zug oben auf der Brücke machte immer noch einen Höllenlärm, ansonsten hätte man die Reifen des Mercedes quietschen gehört. Eine 200er Limousine, niegelnagelneu.

Die Spurensicherer hielten in ihrer Arbeit inne, Czerwinski blickte von der Kamera auf, Lange ließ seinen Notizblock sinken, und auch AEG-Arbeiter Egerland, ihr bislang einziger Zeuge, verrenkte sich den Hals, um zu sehen, wer da angekommen war. Zwei Anzugträger, die auf den ersten Blick wirkten wie Kriminalbeamte, stiegen aus dem Wagen. Noch bevor sie ihre Marken gezückt hatten, gab die blau uniformierte Absperrkette den Weg zum Tatort frei. Einer der Männer blieb stehen und unterhielt sich mit den Schupos, während der andere weiterging, hinüber zur Leiche und zum ermittelnden Kommissar. Rath glaubte so etwas wie ein Lächeln im Gesicht des Herankommenden zu erkennen, er konnte sich aber auch täuschen.

„Reinhold“, sagte er, noch bevor Reinhold Gräf ihn erreicht hatte, „das ist aber mal ein gelungener Auftritt.“

„Heil Hitler.“

Gräf lächelte tatsächlich, sogar beim Hitlergruß. Die unerwartete Begegnung mit seinem langjährigen Partner schien ihn zu freuen. Raths Wiedersehensfreude hielt sich in Grenzen. Er brachte es nicht fertig, Gräfs Deutschen Gruß zu erwidern, nicht einmal in der schlampigen Rath-Variante.

„Ewig nicht gesehen“, sagte er nur.

„So ist es.“ Gräf nickte. „Einige alte Bekannte hier.“

Er bedachte Czerwinski und die Spurensicherer mit einem Kopfnicken. Wenigstens setzte er die Hitlergrüßerei nicht fort, anders als sein Begleiter, der sich gerade vor Andreas Lange und dem AEG-Arbeiter aufbaute und beide zum Männchenmachen nötigte.

Jahrelang, eigentlich seit er in Berlin war, hatte Rath mit Reinhold Gräf an seiner Seite ermittelt, bevor sein Kriminalsekretär vor einem Jahr schließlich von der Mordinspektion zur Politischen Polizei an die Prinz-Albrecht-Straße gewechselt und gleich zum Kommissar befördert worden war.

„Wo wir hier alle so hübsch versammelt sind, könnte man ja fast auf alte Zeiten anstoßen“, meinte Rath.

„Lass uns nicht von den alten Zeiten reden. Die neuen sind wichtiger.“

Rath sagte nichts dazu. Er wusste, dass Gräf nicht allein aus Karrieregründen zu den Politischen gegangen war. Sein früherer Partner wollte tatsächlich mithelfen beim Aufbau des neuen Deutschlands. Reinhold Gräf war zu jung, ihm fehlte der Zynismus, den Männer wie Rath aus dem Krieg mitgebracht hatten, er war ein unverbesserlicher Idealist, der an Deutschlands Zukunft glaubte. Und diese sogar mitgestalten wollte.

„Viele Männer hat der Buddha ja nicht gerade geschickt“, sagte Gräf und schaute sich um.

Rath ärgerte sich. Irgendwie erschien ihm Gräf nicht befugt, Ernst Gennat weiterhin bei seinem Spitznamen nennen zu dürfen. Das durften nur Mordermittler.

„Viel zu tun im Moment“, sagte er. „Sind doch genug Spurensicherer und Schupos hier. Wir müssen ohnehin aufpassen, dass wir uns nicht gegenseitig auf die Füße treten. Und nun kommt auch noch ihr. Ist die Stapo immer so schnell?“

Gräf überhörte Raths Sarkasmus. „Ein politischer Mord fällt nun mal in die Zuständigkeit der Geheimen Staatspolizei“, sagte er.

„Wir haben gerade mit der Arbeit angefangen, da redest du schon vom Mordmotiv? Wer sagt denn, dass es ein politisches ist?“

„Wenn ein SA-Mann ermordet wird, ist das immer eine politische Tat.“

„Auch SA-Leute sind Menschen. Und können aus ganz gewöhnlichen Motiven umgebracht werden: Hass, Liebe, Eifersucht, Habgier – das Übliche halt.“

„Habgier? Eifersucht?“ Gräf deutete auf die Parole. „Ich finde, das sieht eher so aus: Ein SA-Mann ist einem Haufen Kommunisten in die Hände gefallen, und die haben das in die Tat umgesetzt, was sie an die Wand schreiben wollten: Tod den Hitlerfaschisten.“

Natürlich lag ein solcher Tathergang auf der Hand, doch Rath ärgerte sich über Gräfs Besserwisserei.

„Hat Gennat uns nicht immer eingetrommelt, bloß keine voreiligen Schlüsse zu ziehen?“, sagte er also. „Warten, bis alle verwertbaren Fakten auf dem Tisch liegen?“

„Ich arbeite nicht mehr für Gennat.“

„Stimmt. Hätte ich fast vergessen, wo wir hier so einträchtig beisammenstehen. Du bist ja ein Politischer.“

„Das heißt jetzt Staatspolizei. Gewöhn dich daran, dass euer PP uns nichts mehr zu sagen hat.“

„Ihr seid von einem Haufen Bayern übernommen worden, erzählt man sich.“

Gräf schwieg. Rath wusste, dass Rudolf Diels, der das Geheime Staatspolizeiamt vor einem Jahr aufgebaut hatte, den eingefleischten Kriminalbeamten Reinhold Gräf seinerzeit zum Wechsel ins politische Ressort bewegt hatte. Doch Diels war vor wenigen Wochen abserviert und als Regierungspräsident nach Köln abgeschoben worden. Der neue Stapo-Chef kam aus München und hieß Reinhard Heydrich, tanzte nach der Pfeife von SS-Chef Heinrich Himmler und hatte gleich einen ganzen Tross Mitarbeiter aus der Nazi-Stadt mit nach Berlin gebracht.

„Dein Kollege …“ Rath nickte zu Gräfs Begleiter hinüber, der sich inzwischen in Langes Zeugenvernehmung eingemischt hatte. „… ist das auch einer von denen?“

„Truppführer Pfeiffer ist kein Bayer, der ist Franke, das ist wohl ein großer Unterschied, hat man mir gesagt.“

„Pfeiffer?“, fragte Rath. „Mit drei F?“

Eins vor dem Ei und zwei hinter dem Ei.

Gräf konnte sein Grinsen nur schlecht verbergen. Er hatte den Roman vom Schöler Pfeiffer offensichtlich auch gelesen.

„Truppführer ist aber kein Polizeidienstgrad“, meinte Rath.

„Nein. SS.“

Mehr sagte Gräf nicht, doch das Grinsen war wieder aus seinem Gesicht verschwunden. Es war ihm anzusehen, dass ihm die jüngsten Entwicklungen in der Staatspolizei nicht behagten. Und dass er nicht weiter über seinen neuen Kollegen reden wollte.

„Wie politisch dieser Fall auch sein mag“, fuhr Rath fort, „er bleibt erst einmal eine Todesfallermittlung. Und die Experten dafür sitzen am Alex und nicht in der Prinz-Albrecht-Straße.“

„Du vergisst, dass ich früher auch Mordermittler war.“

„Und deine Pfeife mit drei F? Die da drüben gerade dem Kollegen Lange in die Parade fährt und die Zeugenvernehmung stört? Hat die auch nur einen blassen Schimmer von Polizeiarbeit?“

„Du solltest aufpassen, was du sagst, Gereon“, zischte Gräf, „die SS versteht alles, nur keinen Spaß.“ Nach einer kurzen Pause fuhr er in normaler Lautstärke fort: „Du führst dich auf, als hättest du Angst, wir würden dir den Fall hier wegnehmen.“

„Warum seid ihr denn sonst vor Ort?“

„Weil wir mit der Kriminalpolizei zusammenarbeiten wollen. Es geht um Kooperation.“

„Kooperation“, sagte Rath. „Wie die aussieht, das weiß ich aus den Zeiten, als die Staatspolizei noch Politische Polizei hieß: Wir machen die Drecksarbeit, laufen uns die Hacken ab, liefern euch brav zu. Und ihr schmückt euch am Ende mit den Lorbeeren.“

„Die Zeiten haben sich geändert, Gereon.“

„Ja. Fragt sich nur, ob sie besser geworden sind.“

Jemand räusperte sich vernehmlich, und Rath drehte sich um. Vor ihm stand die hagere Gestalt von Doktor Karthaus. Natürlich mit einer Zigarette in der Hand.

„Heil Hitler, die Herren“, grüßte der Gerichtsmediziner. „Ist die Spurensicherung mit ihrer Arbeit bald durch? Mir gehen so langsam die Zigaretten aus.“

„Heil Hitler, Doktor“, sagte Gräf. „Werde mich gleich darum kümmern. Wollte ohnehin mit dem ED über die Spurenlage sprechen.“

„Gut. Dann tun Sie das und machen Kronberg ein bisschen Dampf.“

Gräf nickte und ging zu dem ED-Chef hinüber, der mit einem seiner Mitarbeiter gerade die unvollendete Wandparole inspizierte.

„Immer auf Zack, die Staatspolizei“, sagte Karthaus, und ein Blick ins Gesicht des Gerichtsmediziners sagte Rath, dass das ganz und gar nicht ironisch gemeint war.

„Wundert mich auch, dass die so schnell Bescheid wussten.“

„Das braucht Sie nicht zu wundern. Ich habe in der Prinz-Albrecht-Straße angerufen. Drüben in der Ackerstraße steht eine Telefonzelle.“

„Wie bitte?“ Rath schüttelte den Kopf. „Sie haben die Staatspolizei alarmiert? Wie kommen Sie dazu?“

„Einer musste es ja tun“, sagte Karthaus ungerührt. „Die Beamten vom Dreiundfünfzigsten hatten es versäumt, und Sie waren noch nicht hier, Kommissar. Da habe ich eben ein Telefon gesucht. Konnte sowieso nicht an die Leiche, da macht man sich doch gerne nützlich.“

Rath schluckte seine Wut hinunter. Karthaus hatte ganz klar eine Grenze überschritten, dennoch wollte er sich mit dem Mann nicht anlegen. Für einen Kriminalkommissar war es grundsätzlich nicht ratsam, sich mit der Gerichtsmedizin anzulegen. Außerdem gehörte der Doktor zu den Zeitgenossen, die im neuen Deutschland Karriere machen wollten.

„Hat Kronberg Sie mal wieder nicht rangelassen, Doktor“, sagte Rath also nur.

„Die übliche Leier. Durfte bislang nur einen kurzen Blick auf die Leiche werfen. Aus drei Metern Entfernung.“ Karthaus trat seine Zigarette aus. „Aber wie ich Sie kenne, Kommissar Rath, wollen Sie trotzdem schon eine erste Einschätzung, nicht wahr?“

„Sie würden mir eine große Freude machen. Haben Sie schon irgendeine Idee, was den armen Kerl so zugerichtet haben könnte?“

„Ein stumpfer Gegenstand, irgendein Knüppel, würde ich vermuten.“

„Ein Schlagstock?“

„Eher etwas Schwereres. Oder jemand hat hier mit großer Kraft gewütet.“ Karthaus fummelte bereits die nächste Manoli aus seinem silbernen Etui, Rath gab ihm eilfertig Feuer. „Was mich aber wundert“, fuhr der Doktor fort und inhalierte gierig, „was mich wundert, sind seine Augen. In den Augäpfeln haben sich Stauungsblutungen gebildet, und das wäre ein deutlicher Hinweis auf einen Erstickungstod.“

„Vielleicht hat er im Kampfgetümmel einen Schlag auf den Kehlkopf bekommen.“

„Möglich. Aber dann hätte sich an dieser Stelle auch ein Hämatom bilden müssen, und ich kann keines erkennen. Außerdem: Wenn mich nicht alles täuscht, hat er die Prügel erst nach seinem Tod erhalten. So sehen die Wunden jedenfalls aus.“

„Wie?“

„Er hat für die schlimmen Verletzungen, die er erlitten hat, eigentlich viel zu wenig Blut verloren.“

„Moment mal …“ Rath zögerte. „Sie behaupten allen Ernstes, dass hier jemand in der vergangenen Nacht auf die Leiche eines SA-Mannes eingeprügelt hat, der bereits erstickt war? Wer tut denn so was? Und warum?“

„Ich behaupte das nicht allen Ernstes, ich gebe Ihnen wie gewünscht eine grobe erste Einschätzung.“ Der Doktor wirkte leicht pikiert. „Machen Sie damit, was Sie wollen, Kommissar. Und wenn Sie es genauer wissen wollen, kann ich Ihnen nur raten, das Ergebnis der Leichenöffnung abzuwarten.“

„Natürlich, Doktor. Geben Sie mir doch bitte sofort Bescheid, sobald Sie mehr wissen.“

„Bis morgen werden Sie sich da noch gedulden müssen, fürchte ich.“ Karthaus zeigte auf Gräf, der sich gerade mit Kronberg über irgendwelche Beweismitteldosen beugte. „Ich denke, es gibt noch genügend andere Spuren, um die Sie sich bis dahin kümmern können. Lassen Sie uns also beide unsere Arbeit machen. Ich rufe Sie an, sobald ich mit der Obduktion fertig bin.“

Und mit diesen Worten drehte sich der Gerichtsmediziner um, trat seine gerade angerauchte Zigarette aus und ging zu der Leiche hinüber, die Czerwinski mittlerweile von allen Seiten fotografiert hatte.

Volker Kutscher

Über Volker Kutscher

Biografie

Volker Kutscher, geboren 1962, arbeitete nach dem Studium der Germanistik, Philosophie und Geschichte als Tageszeitungsredakteur und Drehbuchautor, bevor er seinen ersten Kriminalroman schrieb. Er lebt als freier Autor in Köln und Berlin. Mit dem Roman „Der nasse Fisch“ (2007), dem Auftakt seiner...

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