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Market of Monsters (Market of Monsters 3) Market of Monsters (Market of Monsters 3) - eBook-Ausgabe

Rebecca Schaeffer
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Wenn die Finsternis erwacht

— Dark Urban Fantasy | Nita räumt den Schwarzmarkt für Monster auf
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Market of Monsters (Market of Monsters 3) — Inhalt

Nita und Kovit haben es endlich geschafft, Fabricio, der Nita an die Schwarzmarkthändler verraten hat, gefangen zu nehmen. Doch dann holt Kovits Vergangenheit sie ein: Seine grausamen Taten werden veröffentlicht und verbreiten sich im Internet wie ein Lauffeuer. Nun ist nicht mehr nur Nitas Leben in Gefahr. Und sie wird alles tun, um sich und Kovit zu beschützen. Selbst wenn sie dafür gegen den mächtigsten und gefährlichsten Mann der Welt kämpfen muss: Fabricios Vater. Denn diesen zu stürzen ist das Einzige, was Nita und Kovit vor dem sicheren Tod bewahrt  …

€ 17,00 [D], € 17,50 [A]
Erschienen am 01.06.2023
Übersetzt von: Jürgen Langowski
416 Seiten, Klappenbroschur
EAN 978-3-492-70693-3
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€ 12,99 [D], € 12,99 [A]
Erschienen am 01.06.2023
Übersetzt von: Jürgen Langowski
416 Seiten
EAN 978-3-492-60359-1
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Leseprobe zu „Market of Monsters (Market of Monsters 3)“

1


Mit weit aufgerissenen Augen starrte Nita den Handybildschirm an und versuchte zu verstehen, was sie sah.

Ringsum herrschte gespenstische Stille. Normalerweise nahm sie den Lärm von Toronto kaum wahr, das Brausen der Autos, das Summen der Klimaanlagen, das Hupen, die Rufe, all die Laute des Lebens. Doch das Fehlen der Geräusche, sobald die Schallisolierung sie aussperrte, bemerkte sie sofort. Es war unheimlich.

Flach und schnell atmend las sie noch einmal die E-Mail. Die Worte veränderten sich nicht, so wenig wie die Wahrheit, die sie übermittelten.

Henry [...]

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1


Mit weit aufgerissenen Augen starrte Nita den Handybildschirm an und versuchte zu verstehen, was sie sah.

Ringsum herrschte gespenstische Stille. Normalerweise nahm sie den Lärm von Toronto kaum wahr, das Brausen der Autos, das Summen der Klimaanlagen, das Hupen, die Rufe, all die Laute des Lebens. Doch das Fehlen der Geräusche, sobald die Schallisolierung sie aussperrte, bemerkte sie sofort. Es war unheimlich.

Flach und schnell atmend las sie noch einmal die E-Mail. Die Worte veränderten sich nicht, so wenig wie die Wahrheit, die sie übermittelten.

Henry, Kovits Ziehvater und ehemaliger Arbeitgeber, hatte die Informationen über Kovit an die INHUP verkauft, die internationale Polizei für nicht menschliche Wesen.

Henry hatte der Behörde Videos aus Kovits Kindheit geschickt, die zeigten, wie der kleine Junge Menschen folterte und deren Schmerzen aß. Allein das reichte schon aus, um die INHUP davon zu überzeugen, dass Kovit ein Zannie war. Da diese Spezies auf der Liste der gefährlichen Unnatürlichen stand, galt es als präventive Selbstverteidigung, wenn man deren Angehörigen tötete. Kovit würde nicht einmal ein Gerichtsverfahren bekommen. Keine Geschworenen, die ihn schuldig sprachen. Keinen Richter, der ihn zu einer Gefängnisstrafe oder Sozialstunden verurteilte.

Man würde ihn einfach umbringen.

In spätestens einer Woche, sobald die Formalitäten erledigt waren, würde man ihn international zur Fahndung ausschreiben und sein Bild weltweit verbreiten. Man würde ihn hetzen, und wenn man ihn erwischte, würde man ihn einfach abknallen.

In einer Woche würde Kovit also sterben. Nitas bester Freund und ihr einziger Verbündeter.

Sie hielt das Handy in der schwitzenden Hand und stopfte es schließlich wütend wieder in die Tasche, als könnte sie die schreckliche Wahrheit verbannen, indem sie das Telefon mit der verhängnisvollen E-Mail wegsteckte.

Auf einem Notbett vor ihr lag Kovits Internetfreundin Gold, eine ehemalige Kollegin aus dem Verbrecherclan. Das wasserstoffblonde Haar war kurz geschnitten und schmiegte sich eng wie ein Helm um den Kopf. An einem Ohr baumelten ein halbes Dutzend Ohrringe. Ihr Gesicht war auf der Seite, wo Nita es mit Säure verätzt hatte, bandagiert worden, und ein Arm ruhte in einer Schlinge. Neben ihr lag die Krücke, die sie brauchte, seit Kovit ihr das Kniegelenk und die Schulter ausgerenkt hatte.

„Hast du es gewusst?“, fragte Nita wütend und gepresst.

„Was denn?“, krächzte Gold, immer noch heiser nach den Schmerzensschreien, die sie ausgestoßen hatte.

„Hast du gewusst, dass Henry der INHUP die Beweise dafür liefern wollte, dass Kovit ein Zannie ist?“, fauchte Nita.

Gold schwieg einen Moment, dann schüttelte sie den Kopf und wandte den Blick ab. „Nein.“

Nita ließ die Schultern hängen und ballte die Hände zu Fäusten. Für das, was Henry getan hatte, wollte sie ihm wehtun. Aber Henry war tot, sie konnte ihn nicht mehr bestrafen. Es gab keine Möglichkeit, ihrer Wut auf den Verräter Luft zu machen.

Nein, sie mussten sich jetzt mit den Konsequenzen herumschlagen.

Langsam drehte sie sich um. Sie musste es Kovit sagen. Er musste erfahren, was geschehen war.

Sie dachte an sein Gesicht in dem Moment, nachdem er Henry getötet hatte. Die schreckliche Niedergeschlagenheit in seinem Blick, als ihm bewusst wurde, dass er seine eigenen Regeln gebrochen und den Mann umgebracht hatte, der sein Ziehvater gewesen war. Seine Wut, als er Gold zum Kreischen gebracht hatte, weil etwas in ihm zerbrochen war und der Sturz in eine gefährliche Leere begann.

Nita hatte ihn aufgehalten. Oder er hatte es selbst getan. Oder sie beide gemeinsam. Im Augenblick ging es ihm jedenfalls wieder gut. Er sammelte die Splitter seiner geborstenen Seele ein und verdrängte die eigenen Schmerzen, indem er jemand anders quälte.

Nita blickte den Flur mit den weißen Wänden entlang bis zu der hellblauen Tür ganz am Ende. Hinter dieser babyseifenblauen Barriere tat Kovit das, was Zannies am besten konnten: Menschen wehtun und es genießen.

Weil Nita ihn darum gebeten hatte.

Die Schreie konnte sie nicht hören – die Schallisolierung war ausgezeichnet. Sie bekam nicht mit, welch grässliche Dinge er tat, um sich besser zu fühlen. Trostessen, so hatte er es einmal genannt. Über die Tatsache, dass ihm das Häuten lebender Menschen so viel Vergnügen bereitete wie anderen Leuten der Genuss einer Portion Eiscreme, wollte sie lieber nicht weiter nachdenken.

Auf leisen Sohlen lief sie zu der unschuldigen blauen Tür. Dann zögerte sie und blieb davor stehen. Vielleicht sollte sie einfach abwarten, bis Kovit fertig war. Er hatte einen harten Tag hinter sich, also hatte er ein wenig Ruhe verdient. Diese Neuigkeiten konnten doch sicher warten, bis er eine ordentliche Mahlzeit zu sich genommen hatte.

Sie schloss die Augen. Zauderte sie wirklich um Kovits willen oder weil sie die grausigen Folgen ihrer eigenen Entscheidung nicht sehen wollte? Als Kovit einen INHUP-Agenten gefoltert hatte, war es ihr überhaupt nicht gut gegangen – die Erinnerung an dessen gurgelnde Schreie, nachdem er die Zunge verloren hatte, waren noch viel zu frisch.

Sie holte tief Luft und klopfte an. Dann fiel ihr ein, dass die Räume schalldicht isoliert waren. Kovit konnte sie also auf keinen Fall hören. So stieß sie die Tür auf.

Zuerst brachen die Schreie über sie herein.

Normalerweise hatte Fabricio eine leise, unaufdringliche Stimme. Die Stimme eines Menschen, dem man schnell Vertrauen schenkte. Eine Art Stimme, die zu einer sanften Seele gehörte, aber nicht zu einem verräterischen Drecksack, der die Person, die ihn gerettet hatte, auf dem Schwarzmarkt verkaufte.

Seine Schreie waren schrill und spitz, die Lautstärke schwankte, dennoch lag etwas Wütendes in ihnen. Gequält und zornig, aber nicht gequält und voller Angst. Nita wusste selbst nicht genau, wie sie den Unterschied erfasste, doch so war es.

Fabricio hockte in sich zusammengesunken auf einem Stuhl, seine Hand- und Fußgelenke waren mit silbernem Klebeband gefesselt. Das zerzauste braune Haar fiel ihm ins Gesicht, die Haut um die Augen war vom Weinen gerötet. In die Tränenspuren mischte sich das Blut aus der gebrochenen Nase und malte ihm rosafarbene Striche auf die Wangen.

Kovit stand vor Fabricio, er hatte ein schiefes, gemeines Lächeln aufgesetzt und schauderte hingerissen, während er sich die Schmerzen des Jungen einverleibte. Seine Hände klebten von dem dunkelroten Blut. Von ihrem Standort aus konnte Nita nicht genau sehen, woher es kam. Seine schwarzen Haare glänzten wie in einer Shampoo-Werbung, seine Haut glühte beinahe vor Lebenskraft, und die dunklen Augen strahlten hungrig. Je mehr Schmerzen er aß, desto schöner wurde er. Vor Freude zitternd nahm er Fabricios Leiden in sich auf. Nita kannte die kleinen Veränderungen in seinem Äußeren.

Sobald er Nita bemerkte, ließ er das Skalpell sinken. Sein Lächeln verblasste ein wenig, und die Sorge verdrängte die hämische Freude, die sie gerade noch in seinem Gesicht gesehen hatte. Fabricio weinte, würgte und atmete mit bebenden Schultern ein und aus.

Als Nita sprach, sah sie keinen der beiden direkt an und stieß die Worte hastig hervor, weil sie es möglichst schnell hinter sich bringen wollte. „Kovit, kannst du einen Augenblick rauskommen? Es ist wichtig, es ist etwas geschehen.“

Kovit runzelte die Stirn, willigte aber mit einem knappen Kopfnicken ein. „In Ordnung.“

Er wischte die blutigen Hände an Fabricios zerfetztem T-Shirt ab, konnte aber nicht das ganze Blut entfernen. Die angetrockneten braunen Streifen erinnerten an geschmolzene Schokolade.

Dann baute er sich vor Fabricio auf und beugte sich mit einem gierigen, entzückten Lächeln vor. „Keine Sorge, wir sind noch nicht fertig. Ich komme gleich zurück.“

Fabricio gab einen erstickten Laut von sich und wollte sich abwenden. Er keuchte schwer und schluchzte.

Nita drehte sich schnell um, sie konnte Fabricios Anblick nicht länger ertragen. Allerdings waren es keine Schuldgefühle, die in ihr aufkamen. Fabricio hatte verdient, was Kovit ihm antat.

Trotzdem, irgendetwas regte sich in ihr, auch wenn sie es nicht genau benennen konnte. Sie empfand immer ein starkes Unbehagen, wenn Kovit seine Opfer zum Schreien brachte – doch dies hier war etwas anderes. Fabricios Anblick konfrontierte sie damit, dass sie zu seiner Qual beigetragen hatte.

Und außerdem mit der Tatsache, dass sie deshalb keinerlei Gewissensbisse hatte.

Kovit folgte ihr nach draußen. Er schauderte immer noch beglückt, als er hinter sich die Tür schloss und Fabricios Schluchzen ausblendete. Mit einem Winken bugsierte ihn Nita zum Eingangsbereich des Tonstudios, wo auch Gold sie nicht belauschen konnte.

Sie umrundete den ultramodernen Empfangstisch und blieb vor einem schwarzen Ledersofa unsicher stehen. Schließlich drehte sie sich zu ihm um. „Du solltest dich lieber setzen.“

Beunruhigt suchte er ihren Blick. „Nita …“

„Setz dich bitte.“

Er tat es, und nun sah sie ihn einen Moment lang an, weil der junge Mann, der da geduldig und besorgt vor ihr saß, so gar nichts mit dem gierigen, bösen und grausamen Monster zu tun hatte, das sie nur wenige Augenblicke vorher gesehen hatte. Manchmal fiel es ihr schwer, Kovits unterschiedliche Facetten miteinander in Einklang zu bringen.

Sie setzte sich neben ihn, ihre Beine berührten sich leicht. Sie spürte seine Körperwärme.

Dann richtete sie den Blick auf ihre Hände, überwand sich endlich und sah ihn an. „Es geht um Henry.“

Er wich ihrem Blick aus, die Haare fielen ihm vor die Augen. „Was ist mit ihm?“

Im Geist hörte sie wieder das Knacken, mit dem Kovit Henry das Genick gebrochen hatte. In diesem Moment war auch in Kovits Seele etwas zerbrochen.

„Kurz bevor du ihm das letzte Mal begegnet bist …“ Sie holte tief Luft und sammelte sich. „Er hat die Informationen über dich an die INHUP verkauft.“

Kovit saß wie aus Stein gemeißelt da, sie konnte nicht einmal mehr erkennen, ob er überhaupt noch atmete.

„Was?“ Seine Stimme brach beinahe.

„Er hat ihnen die Videos und Fotos geschickt. Sie werden jetzt verarbeitet, und wie es scheint, soll in etwa einer Woche ein Fahndungsaufruf mit deinem Bild veröffentlicht werden.“

Kovit schwieg eine Weile, schließlich fragte er leise und tief erschüttert: „Warum?“

Sie richtete den Blick auf den Boden. „In der E-Mail hieß es, Henry wollte dafür sorgen, dass du nie wieder weggehen kannst. Du solltest an ihn gebunden und auf seinen Schutz angewiesen sein, solange du lebst.“

Kovit lachte. Es war ein dünner, verstörter Laut. Dann warf er den Kopf in den Nacken und starrte die Leuchtstoffröhren an. „Das war es dann wohl. Jetzt ist es zu Ende.“

„Nein, es ist überhaupt nicht zu Ende“, widersprach Nita aufgebracht. Sie legte ihm die Hände auf die Wangen und drehte seinen Kopf mit sanfter Gewalt zu sich herum. „Wir lassen es nicht zu.“

Sie dachte an die Liste der korrupten INHUP-Agenten. Und an die vielen Dinge, die Kovit über die Verbrecherfamilie wusste, für die er früher gearbeitet hatte. Sie fragte sich, ob er diese Informationen verkaufen konnte, um sich selbst zu schützen. Für das Zeugenschutzprogramm kam ein Zannie aber vermutlich nicht infrage.

Er zitterte leicht, als er den Kopf schüttelte. „Wer einmal zur Fahndung ausgeschrieben ist, überlebt nicht lange. Länger als zwei Wochen hat es noch niemand geschafft.“ Er schloss die Augen, als ihn erneut die Verzweiflung übermannte. „Es ist vorbei.“

Nita biss die Zähne zusammen und zog sein Gesicht näher an ihres heran. Sie wollte ihn nicht so einfach aufgeben, nicht, nachdem sie schon so viel erreicht hatten. „Bisher ist noch niemand vom Mercado de la Muerte entkommen, und doch haben wir ihn bis auf die Grundmauern niedergebrannt. Noch nie hat der Schwarzmarkt so gierig einen Menschen gejagt wie mich, und trotzdem bin ich immer noch da.“ Vorläufig jedenfalls. „Kovit, wir finden einen Ausweg. Vertrau mir.“

Er suchte ihren Blick, und sie sah, wie gern er ihr glauben wollte, wie sehr er sich wünschte, dass sie recht behielt, auch wenn er sich am Ende doch nicht dazu durchringen konnte, es wirklich zu akzeptieren. „Es ist zu spät. Wir können der INHUP die Informationen schließlich nicht einfach wieder wegnehmen.“

„Das nicht“, räumte sie ein. „Aber wir können verhindern, dass die INHUP die Fahndung herausgibt.“

„Wie denn?“

Sie sah ihn an, die langen dunklen Wimpern, die bebenden Lippen. Seine Haut war weich, sie strich mit den Daumen zärtlich über seine Wangen und wischte die Blutstropfen weg, die ihm wie Tränen über das Gesicht gelaufen waren.

Schließlich flüsterte sie: „Ich habe eine Idee.“



2


Nita erklärte ihm, was sie sich ausgedacht hatte, und je länger sie sprach, desto größer wurden Kovits Augen. Als sie geendet hatte, starrte er seine blutbefleckten Hände an, die er im Schoß gefaltet hatte.

„Ich …“ Er zögerte. „Das muss ich mir erst einmal durch den Kopf gehen lassen.“

Sie nickte langsam. „Gut.“

Er senkte den Kopf und rang die Hände, mehrmals schauderte er. Aus dem anderen Raum strömten immer noch Fabricios Schmerzen herüber.

Nita fragte sich, wie stark ihn das wohl ablenkte und ob das beständige Hochgefühl ihn daran hinderte, sich zu konzentrieren. Kovit hätte das Gebäude verlassen müssen, um sich so weit von Fabricio zu entfernen, dass er dessen Qualen nicht mehr spürte. Draußen aber wäre er für die Schmerzen aller anderen Menschen in der Nähe empfänglich. Jeder Niednagel, jeder Kratzer, jede Verstauchung, er fing alles auf. Schaudernd stellte sie es sich vor und fragte sich, wie er all diese Gefühle ausblenden konnte, wie er verhinderte, dass er ständig zuckte, eine Gänsehaut bekam und abgelenkt wurde.

Wenn man zudem berücksichtigte, dass die meisten dieser Schmerzen nicht stark genug waren, um sich von ihnen zu ernähren, musste es sehr lästig sein. Zannies lebten von extremen Schmerzen, wie sie unter Folter, in Kriegsgebieten und in Krankenhäusern vorkamen. Alles andere, die kleinen, alltäglichen Wehwehchen der Menschen, war für sie nur eine Art Hintergrundrauschen. Sie fragte sich, wie es sich wohl anfühlen mochte, wenn man jederzeit wusste, woran die Menschen in der Nähe litten, und wie man selbst damit leben konnte. Wie es die Art und Weise beeinflusste, auf die das Gehirn die Welt wahrnahm.

Ob bei einem Zannie schon einmal jemand ein MRT durchgeführt hatte? Ihre neuronalen Verknüpfungen mussten doch erstaunlich sein. Sie nahm sich vor, später im Internet nach wissenschaftlichen Veröffentlichungen zu diesem Thema zu suchen.

Falls es keine Veröffentlichungen gab und falls sie dies hier überlebten und sie eines Tages wirklich die Universität besuchen konnte, würde Kovit vielleicht einwilligen, sich einem MRT zu unterziehen, sodass sie selbst sein Gehirn untersuchen konnte. Das wäre ein großartiges Thema für eine Promotion.

Sie riss sich von den Zukunftsträumen los, ehe sie auf diesem Weg zu weit voranschritt. Hier gab es kein Falls. Eines Tages würde sie über die Unnatürlichen forschen. Sobald sie den Schwarzmarkt überzeugt hatte, sie in Ruhe zu lassen.

Seufzend atmete sie aus. Die letzten Wochen waren anstrengend gewesen. Sie hatte Fehler gemacht. Aber sie hatte daraus gelernt, und jetzt hatte sie einen Plan. Einen vielschichtigen Plan, damit der Schwarzmarkt von ihr abließ. Sie wollte so mächtig werden, dass die Leute es sich zweimal überlegten, ehe sie auf die Idee kamen, Nita anzugreifen. Einen Plan, der allen vor Augen führte, dass sie lebendig und frei wesentlich wertvoller war als tot.

Falls alles gut verlief.

Falls Kovit nicht vorher geschnappt und von der INHUP getötet wurde.

Falls Fabricio kooperierte.

Falls, falls, falls. So viele Variablen.

Sie schloss die Augen. Darüber wollte sie im Augenblick nicht weiter nachdenken. Eins nach dem anderen. Zunächst musste sie sich auf Kovit konzentrieren und ihn aus der Klemme befreien, in die Henry ihn gebracht hatte.

Sie machte einige nervöse kleine Gesten und fragte endlich: „Nun? Was hältst du von meiner Idee?“

„Keine Ahnung“, entgegnete er.

„Es wird funktionieren“, beharrte sie.

Kovit sah sie an und zog skeptisch eine Augenbraue hoch.

Nita zuckte zusammen und wandte sich ab. „Tut mir leid.“

Erst vor wenigen Stunden hatten sie sich darüber unterhalten, wie Nita ihm ihre Ideen aufdrängte, und schon fiel sie wieder in die schlechten Angewohnheiten zurück. Wenn Kovit zögerte, sobald sie ihm einen Plan unterbreitete, sollten sie eigentlich darüber sprechen. Es war ja sein Leben, das auf dem Spiel stand. Er hatte das Recht, ihre Ideen zurückzuweisen, wenn sie ihm nicht gefielen.

„Na gut“, ging Nita auf ihn ein. „Kannst du mir erklären, warum du es nicht magst?“

Er wählte seine Worte mit Bedacht. „Du möchtest dich mit meiner Schwester in Verbindung setzen.“

„Ja.“

Kovit hatte seine Schwester seit einem Jahrzehnt nicht mehr gesehen. Beim letzten Mal, da war er zehn gewesen, hatte sie ihn vor den INHUP-Agenten versteckt, die gekommen waren, um seine Mutter zu töten. Seine Schwester war ein Mensch – sie hatte keine Zanniegene abbekommen – und hatte deshalb auch nicht in der gleichen Gefahr geschwebt wie Kovit. Später war Kovit in die Fänge einer Mafiafamilie geraten.

Aus seiner Schwester dagegen war eine INHUP-Agentin geworden.

Er fuhr sich mit gespreizten Fingern durch die Haare. „Ich kann immer noch nicht glauben, dass sie zur INHUP gegangen ist. Das Mädchen, das ich gekannt habe, hätte so etwas nie gemacht.“

„Es ist jetzt schon ein ganzes Jahrzehnt her.“

„Ich weiß.“ Er hielt einen Moment inne, ehe er langsam und behutsam weitersprach. „Deshalb weiß ich ja nicht, ob es eine gute Idee ist, Kontakt zu ihr aufzunehmen.“

Nun zögerte auch Nita. „Als INHUP-Agentin hat sie Zugriff auf Informationen, die für uns unzugänglich sind. Möglicherweise kann sie diese Sache hier in Ordnung bringen.“

Selbstverständlich wäre das alles andere als legal.

„Möglicherweise.“ Er hob den Blick, und sie glaubte einen Augenblick lang, sie könne die Risse hinter der Oberfläche sehen. Das, was in ihm zerbrochen war, als er Henry ermordet hatte. Doch seine Stimme verriet nicht, was ihn quälte, sondern klang ganz und gar sachlich. „Und wenn sie nicht will?“

„Sie ist deine Schwester“, erinnerte ihn Nita sanft.

„Sie war meine Schwester. Aber die Schwester, die ich gekannt habe, wäre nie zur INHUP gegangen“, erwiderte er leise und nachdenklich. „Offensichtlich hat sie sich seitdem verändert. Wenn sie nun die Liste der gefährlichen Unnatürlichen richtig findet? Dein Plan baut darauf, dass sie mir helfen will, aber was ist, wenn sie mich stattdessen jagen wird? Möglicherweise geben wir der INHUP neue Informationen, die es der Organisation nur noch leichter machen, mich zu töten.“

Nita konnte seine Zurückhaltung gut verstehen – fast alle, denen er je vertraut hatte, hatten ihn am Ende doch verraten. Gold hatte ihn hintergangen. Henry hatte ihn benutzt. Und Nita verriet ihn zwar nicht, konnte sich aber mit manchen seiner Eigenarten nur schwer abfinden.

Sie war nicht sicher, ob Kovit nach alledem noch eine weitere Enttäuschung ertrug. Vielleicht war es besser, wenn er sich die Erinnerungen an die glückliche Kindheit bewahrte, statt sie zu zerstören.

Kovits Hände zitterten wieder, und dieses Mal war Nita sicher, dass es nicht an den Schmerzen lag, die er aus dem benachbarten Raum aufnahm.

Sie beugte sich vor und legte ihre Hände auf die seinen. „Du musst nicht mit ihr sprechen. Das kann ich übernehmen. Du musst sie nicht einmal treffen. So kommst du auch nicht in Gefahr, falls etwas schiefgeht.“

Er verflocht seine Finger mit ihren. „Wenn es nicht klappt, möchte ich es gar nicht wissen. Ich will sie nicht sagen hören: ›Meinetwegen soll er doch sterben.‹“

Nita schwieg lange. Schließlich drückte sie seine Hand. „Gut.“

Er starrte sie an, als sei er nicht sicher, ob er sie richtig verstanden hatte. „Gut?“

„Wir überlegen uns etwas anderes. Wir finden einen anderen Weg, die INHUP davon abzuhalten, mit den Informationen über dich an die Öffentlichkeit zu gehen.“

Es gab noch andere INHUP-Agenten, mit denen Nita Verbindung aufnehmen konnte, doch im Gegensatz zu Kovits Schwester hatten sie keine altruistischen Motive, ihm zu helfen. Nein, bei diesen Leuten brauchte sie ein passendes Druckmittel.

Wie eine Spinne in einem Netz aus Lügen und Erpressung überlegte sie sich neue Pläne und suchte nach einer Möglichkeit, die INHUP zu behindern und Kovit vor Schaden zu bewahren. Einige Ansätze gab es durchaus – besonders wenn sie ihre Pläne für Fabricio mit einbezog. Aber es würde schwierig werden, und der Zeitrahmen war eng.

Selbst wenn Kovit eingewilligt hätte, seine Schwester zu treffen, hätten sie wahrscheinlich noch einen Ausweichplan wie diesen gebraucht. Für alle Fälle.

Kovit zog sich von ihr zurück und stand auf. Er machte ein paar Schritte in die Richtung des Raums, in dem Fabricio gefangen war, hin zu seinem Trost und den Schmerzen, zu dem Gewohnten, das er kontrollieren konnte. Vor der Tür blieb er stehen, schloss die Augen und lehnte die Stirn an den Türrahmen.

„Ich bin ziemlich dumm, was?“

Nita legte den Kopf schief. „Aber nein.“

„Sie könnte mich retten. Sie könnte in das System eindringen und alles löschen.“

„Mag sein.“ Nita zuckte mit den Achseln. „Oder sie verrät uns beide. Vorher können wir es nicht wissen.“

Er drehte sich zu ihr um und lehnte sich mit dem Rücken an die Wand, dann heftete er den Blick auf seine Hände. „Weißt du, was Songkran ist?“

Nita schüttelte den Kopf.

„Songkran ist das thailändische Neujahrsfest. Es findet im April statt.“ Er lächelte kurz. „Als Kinder haben wir immer gewaltige Wasserschlachten ausgefochten. Das war wundervoll. Einmal haben Patchaya – das ist meine Schwester – und ich Wasserkanonen von unseren Eltern bekommen. Meine war giftgrün und weiß, ihre war leuchtend blau.“ Er lachte leise. „Ich kann gar nicht glauben, wie genau ich heute noch die Farben vor mir sehe. All diese Details. Ich war damals … vielleicht acht Jahre alt? Demnach wäre Pat dreizehn gewesen.

Wir haben unsere Kanonen mit Wasser und mit din sor pong gefüllt, das ist ein weißes Pulver.“ Er sah sie ein wenig verschlagen an. „Und dann haben wir Geschäftsleute gesucht, wirklich gut gekleidete Leute, und sie völlig durchnässt und eingefärbt, bis sie wie Gespenster aussahen. Mit den Wasserkanonen waren wir praktisch unbesiegbar.“

Er blickte in die Ferne. „Ich weiß noch, es war schon gegen Abend. Wir waren müde und wollten nach Hause. Die Wasserkanonen waren leer, und wir waren genauso nass und weiß gefärbt wie unsere Opfer. Wir wanderten am Fluss entlang, und da spürte ich: In einem Gebäude in der Nähe war ein Mann die Treppe hinuntergefallen, und die Schmerzen … ich weiß es noch ganz genau. Sein, äh, sein Skrotum war beim Sturz an einem Nagel hängen geblieben und … gerissen. Außerdem hatte er sich die Wirbelsäule gebrochen und konnte sich nicht bewegen. Er konnte nicht reden, aber alles fühlen.“ Kovit schauderte leicht, als die Erinnerungen emporstiegen. „Die Schmerzen waren exquisit.“

Nita regte sich voller Unbehagen. Kovit räusperte sich. „Wie auch immer, ich musste innehalten und es auskosten. Es war so gut. Ich wollte ihn mit nach Hause nehmen und ihn dort behalten, denn jemand, der nicht schreien und sich nicht bewegen und nicht fliehen konnte …“

Der Traum eines jeden Zannies, dachte Nita und bemühte sich, ihm nicht zu zeigen, wie sehr ihr die Vorstellung zuwider war.

„Pat hat mich angesehen und gefragt: ›Hast du Hunger?‹ Ich sagte Ja, und sie ließ mich neben dem Gebäude warten, während sie Hilfe holte. Eigentlich hatte sie mich draußen nicht allein lassen sollen, und ich durfte draußen auch nicht essen, aber sie sorgte dafür, dass ich gut versteckt war, und ließ es mich … aufnehmen.“

Er seufzte leise. „Natürlich rief sie einen Krankenwagen, und als sie den Verletzten mitnahmen, hörte es schließlich auf. Ich konnte es ihr nicht vorwerfen, denn ich wusste ja, wie sie war. Ich glaube, das war für uns beide ein guter Tag. Meine Schwester wollte immer anderen Menschen helfen. Ich glaube, sie fühlte sich gut damit, dass sie den Mann retten und mir trotzdem etwas gönnen konnte.“

Nita schwieg. Sie hatte keine Ahnung, was ihr diese Geschichte über die Geschwister sagen sollte. Doch endlich überwand sie sich. „Das ist eine schöne Erinnerung.“

„Ja, wirklich.“ Er suchte ihren Blick. „Sie war immer gut zu mir, obwohl ich ihr Angst gemacht habe. Ich glaube sogar, sie war zu gut für die Familie, in der sie leben musste. In meiner Kindheit war sie für mich das Wichtigste auf der ganzen Welt. Ich hätte alles für sie getan.“ Kovit atmete tief durch. „Und sie hat alles getan, was sie konnte, um mich zu retten, als die INHUP gekommen ist.“

Er richtete sich auf und reckte die Schultern. „Lass es uns tun.“

Nita blinzelte überrascht. „Was denn?“

„Sie anrufen.“ Er sagte es äußerlich ruhig und presste entschlossen die Lippen zusammen.

„Ich will nicht sterben. Vielleicht bin ich böse, vielleicht habe ich das, was die INHUP mit mir tun würde, sogar verdient, aber das ist mir egal. Ich möchte weiterleben. Es ist dumm, auf diese Möglichkeit zu verzichten. Wir müssen alles versuchen, was wir können.“

Nita zögerte, dann stand sie auf und ging zu ihm. „Bist du sicher?“

Gefasst erwiderte er ihren Blick. „Unbedingt. Ruf sie an.“

Rebecca Schaeffer

Über Rebecca Schaeffer

Biografie

Rebecca Schaeffer ist im ländlichen Kanada geboren und aufgewachsen und seit ihrem 18. Geburtstag eine Weltenbummlerin. Allergisch gegenüber Stillstand bleibt sie nie länger als ein paar Monate am gleichen Ort. Sie liebt es bei ihren Reisen neue Sprachen zu lernen. Anzutreffen ist sie in einem Café...

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