Mein Jahr am Nordpol - eBook-Ausgabe
Eine Frau, ein Mann und die Einsamkeit der Polarnacht
Mein Jahr am Nordpol — Inhalt
Es ist ein filmreifer Beginn: In einem Pub in der spitzbergischen Stadt Longyearbyen trifft die Britin Marie Tièche auf den deutschen Professor Hauke Trinks, der sie spontan zu seiner nächsten Expedition einlädt. Ein Jahr in einer Hütte im ewigen Eis nördlich von Spitzbergen. Alleine mit ihm und zwei Hunden. Unter einfachsten Bedingungen sind die beiden Fremden auf Monate von der Welt abgeschnitten - in einer zwanzig Quadratmeter großen Hütte. Der sehr persönliche Bericht einer starken Frau.
Leseprobe zu „Mein Jahr am Nordpol“
Prolog
Diese Augen. Sie waren vom sanften Blau eines klaren Winterhimmels, einem leuchtenden, schimmernden Gletscherblau. Sie hatten zu mir gesprochen, mich eingeladen in eine fremde, abgeschiedene, einsame Welt voller Gefahren, in tückische Wetterverhältnisse, zwischen Eisberge. Und ich hatte zugesagt. Was war geschehen? Ich hatte ihn eine Stunde vorher in einem Pub kennen gelernt und zu-gestimmt, ihn bei seiner Expedition auf eine verlassene
Insel 1000 Kilometer vom Nordpol entfernt zu begleiten. Nur wir beide. Er und ich. Sonst niemand. Wir würden [...]
Prolog
Diese Augen. Sie waren vom sanften Blau eines klaren Winterhimmels, einem leuchtenden, schimmernden Gletscherblau. Sie hatten zu mir gesprochen, mich eingeladen in eine fremde, abgeschiedene, einsame Welt voller Gefahren, in tückische Wetterverhältnisse, zwischen Eisberge. Und ich hatte zugesagt. Was war geschehen? Ich hatte ihn eine Stunde vorher in einem Pub kennen gelernt und zu-gestimmt, ihn bei seiner Expedition auf eine verlassene
Insel 1000 Kilometer vom Nordpol entfernt zu begleiten. Nur wir beide. Er und ich. Sonst niemand. Wir würden isoliert in einer kleinen Holzhütte leben, nur zwei Huskys als Gesellschaft und zum Schutz vor Eisbären, diesen riesigen, weißen, wilden Menschenfressern. Ein Jahr lang würden sie unsere Nachbarn sein. Ein ganzes Jahr. Keine Möglichkeit, nach der Hälfte der Zeit umzukehren, wenn es schwierig werden sollte. Ein ganzes Jahr oder gar nicht. Aufgeben war keine Option. Ich muss völlig verrückt gewesen sein. Durchgedreht. Von Sinnen.
Aber so hat alles angefangen.
1 Versuchung
Ich schloss die Tür meines Zimmers, vermummte mich in meiner schlichten, aber warmen, braunen Jacke und stieg in dicken Wollsocken die Treppe des Containerhauses hinunter. Im Flur hörte ich aus einem der angrenzenden Räume das Brummen der großen Gemeinschaftskühltruhe. Jedem der zwölf Apartments war darin ein abschließbares Fach zugeordnet. Eine Gefriertruhe in der Arktis – das war schon merkwürdig, aber draußen gelagerte Vorräte wären ein gefundenes Fressen für Füchse, Mäuse und Diebe gewesen. An der Garderobe erwartete mich ein Regenbogen aus dicken Jacken und Schneeanzügen (die ein wenig an Strampelanzüge erinnerten), darunter das Durcheinander von etwa 20 Paar Stiefeln, Schuhen und Pantoffeln, einige davon alt und verstaubt; ihre Eigentümer hatten das Haus und wahrscheinlich auch Longyearbyen längst verlassen. In einer Ecke standen drei Paar Langlaufskier, die dazugehörigen Stöcke stützten sich gegenseitig wie Betrunkene. Zwischen den Schmelzwasserpfützen am Boden schlüpfte ich in meine bequemen braunen Lederschuhe, zog Mütze und wetterfeste Handschuhe an, drückte die schwere Glastür auf und trat in die Kälte von -20 ºC.
Der Schnee war hart, zerfurcht von Schneemobil- und Skispuren, hier und da sah man Fußstapfen oder die Abdrücke von Hundepfoten. Pechvögeln konnte die eisglatte, kompakte Schneedecke dazwischen leicht zum Verhängnis werden. Ganz vorsichtig ging ich zum Ende des langen Holzhauses, schob mich an den metallenen Müllkörben vorbei und dann den Hang hinunter, zum gelb erleuchteten Weg. Ich sog die klare, kalte Luft einer typischen Nacht auf Spitzbergen ein. Am Himmel versuchten die Sterne vergebens, gegen die Straßenbeleuchtung anzustrahlen, und hoch oben, über der anderen Seite des gefrorenen, von Schnee bestäubten Fjords leuchtete ein Dreiviertelmond über dem affengesichtigen Berg Hiorthfell. Der Schnee auf seinen Flächen und eisverklebten Geröllhängen glänzte silbern, und sein ausladender Grat bildete vor dem wolkenlosen, blauschwarzen Himmel eine messerscharfe Silhouette. Am Fuß des Berges war der blassgelbe Schein der Öllampe in einervereinzelten Hütte zu sehen, und über dem Dach hing eine kaum wahrnehmbare Rauschschwade in der Luft.
Meine Schritte knirschten im Schnee; zwischen mir und dem Adventfjord erstreckte sich das Städtchen in dem kleinen, sich langsam öffnenden Longyear-Tal. Die Straßenlaternen tauchten die Holzhäuser auf beiden Seiten des schnurgeraden Fußwegs in orangefarbenes Licht. Rechts standen zusammengeschusterte, holzverkleidete Apartmenthäuser, ein Stück weiter machten sie aneinandergereihten Häusern mit Spitzdächern Platz. Deren leuchtende Farben – Schoko- und Kaffeebraun, Pink und Grün, Gelb und Orange, Beige und Türkis – wurden durch die Nacht gedämpft. Diese Häuser verloren sich rechts und links im Tal, und dann kam schon das Zentrum.
Zu dieser späten Stunde war es ruhig – die wenigen Geschäfte hatten längst geschlossen –, aber ein paar Leute waren auf der Straße; sie holten Pizza, wollten noch kurz nach ihren Postfächern sehen, oder sie waren wie ich unterwegs in eine der vielen Kneipen, um das Wochenende einzuläuten.
Ich hatte mich zu Hause gelangweilt, war irgendwie kribbelig gewesen und deswegen früher als sonst losgegangen. Es war zwar schon halb elf, aber hier in Longyearbyen würde es noch mindestens eine halbe Stunde dauern, bis das Nachtleben begann, solange wollte ich ein Bier trinken und es mir mit einem Buch aus der Bibliothek des Radisson SAS Polar Hotels gemütlich machen. Das Radisson lag gleich hinter dem Einkaufszentrum und war eine beliebte Anlaufstelle für die paar Menschen in Longyearbyen, ob zur ersten Tasse Kaffee oder für feine Diners im Panorama-Restaurant Nansen. Bescheiden in einer Ecke der Hotellobby befand sich mein Ziel: der Barents Pub – oder puben, wie alle auf Norwegisch sagten.
Der zügige Gang von meinem Zimmer zum Hotel hatte mich die Kälte nicht spüren lassen. Nachdem ich mir den Schnee von den Sohlen gekratzt hatte, wuchtete ich die schwere Tür zum Foyer auf, und ein warmer Luftschwall schlug mir entgegen. Ich stopfte Mütze und Handschuhe in die Taschen, hängte die Jacke an meinen Lieblingshaken in der Ecke der Garderobe und ging hinein. Ich glaube, es ist der düsterste Pub, in dem ich je war, und nach der hell erleuchteten Eingangshalle mussten sich meine Augen erst an das Schummerlicht gewöhnen. Die Wände waren dunkelblau gestrichen und schluckten das Licht des riesigen Deckenleuchters wie ein Meer, dagegen konnte auch die orangefarbene Decke nichts ausrichten. Die Kiefernholzdielen waren der einzige Lichtblick. Es war eine gemütliche Kneipe mit wunderbarer Atmosphäre, besonders wenn es voll war, wie eigentlich immer am Wochenende, und alle zu Blues- oder Rockmusik durcheinander redeten (hier wurde ich Fan von Walter Trout and the Radicals) oder zu den überraschend guten Live-Bands tanzten.
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