Monterosso mon amour Monterosso mon amour - eBook-Ausgabe
Eine Novelle
— Vom Autor des hochgelobten SPIEGEL-Bestsellers „Grand Hotel Europa“„Ilja Leonard Pfeijffer kann auch in dieser liebenswerten Fingerübung Geschichten erzählen, indem er triviale Zutaten furios mischt und verschränkt zu einer liebens- und lesenswerten Geschichte.“ - Westdeutsche Allgemeine Zeitung
Monterosso mon amour — Inhalt
Eine glänzende Liebesgeschichte mit Humor und Tiefgang
Die Geschichte eines großen Missverständnisses und einer noch größeren Liebe
Carmen blickt auf ein genussreiches, aber recht laues Leben als Botschaftergattin zurück und engagiert sich in der Stadtbibliothek. Als dort ihr ehemaliger Mitschüler Ilja L. Pfeijffer aus „Das schönste Mädchen von Genua“ liest, meint sie sich in dem Mädchen wiederzuerkennen, in das er damals verliebt war. Und sie erinnert sich an ihre Jugendliebe Antonio, den sie in Monterosso traf. Also begibt sie sich auf eine italienische Reise, um ihre wahre Liebe wiederzufinden – und ein Abenteuer beginnt.
„Ilja Leonard Pfeijffer ist wild und frech in seiner Fabulierlust, treffsicher in seinen Pointen und vor allem ein großartiger Unterhalter.“ die tageszeitung
Leseprobe zu „Monterosso mon amour“
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Wird aus Unzufriedenheit Zufriedenheit, wenn man sich mit ihr abfindet? In letzter Zeit ertappt sich Carmen immer öfter dabei, dass sie sich in verlorenen Momenten allein zu Hause oder in der Bibliothek, wenn sie zwischen zwei Besprechungen den Schreibtisch aufräumt, solche unmöglichen Fragen stellt. Oder dass sie sich, nachdem sie die Putzfrau bezahlt und verabschiedet hat, stellvertretend müde für den Nachmittagssherry aufs Sofa plumpsen lässt und plötzlich grundlos darüber nachdenkt, ob Gewohnheiten aller Art eine Überlebensstrategie sein könnten [...]
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Wird aus Unzufriedenheit Zufriedenheit, wenn man sich mit ihr abfindet? In letzter Zeit ertappt sich Carmen immer öfter dabei, dass sie sich in verlorenen Momenten allein zu Hause oder in der Bibliothek, wenn sie zwischen zwei Besprechungen den Schreibtisch aufräumt, solche unmöglichen Fragen stellt. Oder dass sie sich, nachdem sie die Putzfrau bezahlt und verabschiedet hat, stellvertretend müde für den Nachmittagssherry aufs Sofa plumpsen lässt und plötzlich grundlos darüber nachdenkt, ob Gewohnheiten aller Art eine Überlebensstrategie sein könnten und damit evolutionär betrachtet von Vorteil wären. Als eine ihrer Freundinnen vom Lesekreis sie vorige Woche Anna Karenina genannt hat, fiel ihr der berühmte Anfangssatz des Romans ein, der besagt, dass alle glücklichen Familien einander gleichen, jede unglückliche Familie aber auf ihre eigene Weise unglücklich sei, weshalb sie der sich daraus entspinnenden Diskussion nicht mehr aufmerksam folgte und sich stattdessen der Frage widmete, ob diese Aussage wohl stimme, nur um sogleich von der Frage heimgesucht zu werden, ob Glück und Unglück überhaupt als eine Familienangelegenheit zu betrachten seien. Und als sie gestern die Förderanträge abheftete, dachte sie an Nietzsche, an den sie seit ihrer wilden Amsterdamer Zeit nicht mehr gedacht hatte, und an dessen Spruch – falls ihre Erinnerung sie nicht täuscht und er tatsächlich von Nietzsche stammt –, dass man fast alles ertragen könne, solange man ein Ziel im Leben habe.
Nun aber grübelt sie darüber, was verlorene Momente eigentlich sind. Wenn die Zeit sämtliche Augenblicke wie Konfetti am Morgen nach der Party auf einen Haufen zusammenkehrt, ohne dass einer von ihnen dem unaufhaltsamen Untergang entwischt, wie können dann manche dieser Augenblicke verlorener sein als andere? Mit jeder Stunde wird sie eine Stunde älter, gleichgültig, ob sie zupackend nach vorne blickt oder melancholisch über das Früher sinniert, denn es kommt aufs Gleiche raus: Es gibt immer weniger von dem, wonach man Ausschau hält, und immer mehr vom Früher, dem man hinterhertrauert. Halten Leute Augenblicke für verloren, dann wohl, weil diese ihrer Ansicht nach nichts zu ihren hochgestellten Zielen beigetragen haben; lässt man jedoch einmal das ganze Gewese mit den Zielen weg, gibt es keinen Grund mehr, verlorene Augenblicke von wohlverbrachter Zeit zu scheiden. Oder sind den Menschen gar jene Augenblicke verloren, in denen sie sich auf dem trägen Strom sanft gluckernder Gedanken davontragen lassen? Wäre das der Fall, dann müsste Carmens Leben umso gewisser als verloren bezeichnet werden.
Sie will sich nachschenken, ändert jedoch ihre Meinung. So geht es nicht. Das kann kein Anfang sein. Sie schraubt die Flasche wieder zu und stellt sie zurück in den Abstellraum unter der Treppe, wo sie ihren Sherryvorrat aufbewahrt. Sie geht zur Küche und kocht sich heldinnenhaft eine Riesenkanne Tee.
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Sie fühlt sich alt, weil sie so gerne liest. Die Schuld daran, dass sich ihre persönlichen Interessen und die Obsessionen der Welt immer weiter voneinander wegbewegen, gibt sie der Welt. Aber sie ist nicht dämlich, obwohl sie manchmal die Naive gibt, vor allem in Robs Anwesenheit, weil sie weiß, dass er sich für alles gerne verantwortlich fühlt, und weil es vieles einfacher macht, weshalb ihr, wenn sie sich zu einer gewissen Ernsthaftigkeit zwingt, durchaus klar ist, dass der Hass auf das Altern und der Vorwurf an die Welt, sie laufe ungerührt weiter, Symptome des verhassten Alterns sind. Sie selbst kann immer weniger mithalten, und um diese Einsicht ertragen zu können, tut sie so, als verweigere sie sich dem Lauf der Welt, weil ihr die Richtung, die die Geschichte einschlägt, nicht gefällt.
Doch neigt sie dazu, sich sofort zu korrigieren: Es stimmt nicht, dass sie nicht mithalten kann, weit gefehlt! Es ist nur so, dass sie kaum noch Interesse dafür aufbringt, sich über Kleinigkeiten aufzuregen. Sie liest die Abendzeitung NRC Handelsblad, obwohl sie viel lieber eine Morgenzeitung lesen würde, weil Nachrichten dann, wenn man den ganzen Tag noch vor sich hat, weniger ins Gewicht fallen als am Abend mit seiner Melancholie. Aber Rob liebt seine Gewohnheiten, und sie kennt ihn gut genug, um zu wissen, dass sie ihm keinen Gefallen täte, würde sie ihm vorschlagen, das Zeitungsabonnement zu ändern. Für ihre Arbeit in der Bibliothek liest sie regelmäßig die Buchrezensionen und verfolgt pflichtgemäß die Auslands- und Inlandsnachrichten, aber während sie in ihrer wilden Amsterdamer Zeit bei jeder Gelegenheit in authentische Wut ausbrach, vor allem, wenn Frauen Unrecht getan wurde, macht sie heute die irritierende Erfahrung, dass die globalen Entwicklungen und die täglichen Ausblicke auf eine potenziell beunruhigende Zukunft ihr immer gleichgültiger werden. Sie liest lieber Bücher, richtige Bücher. Bücher mit den großen Fragen, die sich ihr selbst nun immer öfter stellen, und Bücher, in denen sich die Aktualität nicht dauernd nervig in den Vordergrund drängt wie ein ununterbrochen jängelndes, um Aufmerksamkeit heischendes Smartphone, und in denen eine Geschichte erzählt wird.
Vor allem Letzteres. Carmen hungert geradezu nach Geschichten. Wenn sie liest und ein Roman sie wirklich ergreift, bekommt sie manchmal das Gefühl, unter die Zeit zu kriechen. Mit genau diesen Worten hat sie es einmal ihren Freundinnen vom Lesekreis zu erklären versucht, aber keine hat verstanden, was sie meinte. Sie erinnert sich an ihre ersten Sommerferien am Mittelmeer, das ist lange her, sie war mit den Eltern in Monterosso und weiß noch genau, wie sehr der Anblick des Wassers sie rührte, weil es so durchscheinend war, dass man den Meeresboden sehen konnte. In guten Romanen werden wässrig gewordene Gefühle so klar dargestellt, dass man plötzlich erkennt, wie tief sie eigentlich sind. Wer unter Wasser schwimmt, vergisst die Verwerfungen an der Oberfläche und befindet sich in einer dreidimensionalen Welt. Genauso ist es, wenn man unter den übelkeitserregenden Wellenschlag der Zeit taucht und die Oberflächlichkeit der unermüdlichen Winde täglicher Mühsal vergisst. Klingt das zu pompös? Es ist ihr egal, wie es klingt, weil es so ist. In letzter Zeit hat sie immer weniger Lust, aus Furcht, einen möglicherweise falschen Eindruck zu erwecken, Dinge anders zu sagen, als sie sind, und darauf ist sie stolz. Besser spät als nie.
Sie liebt es zu schwimmen. Ihren ersten Kuss hat sie unter Wasser bekommen, vor langer Zeit, in Monterosso, und bis heute erinnert sie sich daran, wie klar das Meer war und wie tief. Der einzige Grund, warum sie damals nach Luft schnappend aus dem Wasser wieder auftauchte, war die fantasielose Praxis, die sie zum einen ohne Kiemen und zum anderen mit Eltern ausgestattet hatte, die nicht verstanden, dass Ferien dazu da waren, ewig zu dauern. Und in derselben fantasielosen Praxis bewegt sie sich bis heute. Sie vermisst die Tiefe des Meeres, aber Rob schwimmt nicht gern. Er liest Sachbücher, wenn er überhaupt liest, weil er, obgleich er über massenhaft Zeit verfügt, keine Minute davon vergeuden möchte. Außerdem hält er Gefühle für nutzlos, wenn man in der gleichen Zeit Meinungen haben kann. Sie fahren nur selten in Urlaub, weil sie früher so viel reisen mussten, was Rob für ein schlagendes Argument und einen ausreichenden Grund hält, die Angelegenheit damit für erledigt zu betrachten.
Es ist ihr egal, ob eine Geschichte ein gutes oder ein schlechtes Ende nimmt, Hauptsache, sie ist stimmig. Ein offenes Ende, bei dem das ganze Gedöns von Handlungen und Überlegungen, Ereignissen und Konsequenzen, Eigenschaften und Entwicklungen auf nichts hinausläuft, irritiert sie. Das kennt sie aus der Praxis zur Genüge. Durch Geschichten erhält sie Zugriff auf das sogenannte wahre Leben mit sämtlichen unglaubwürdigen Wendungen des Plots, und statt einer wirklichkeitsgetreuen Kopie der sinnlosen Wirklichkeit („als konform betrachtet“, hieß das auf der Botschaft) ersehnt sie sich die kluge Alternative eines Lebens mit Stil, dargestellt durch einen vieldeutigen Spannungsbogen, der eine klare Richtung vorgibt, zur Not auch auf einen Abgrund zu. Realität ist form- und bedeutungslos. Um zu verstehen, was es heißt, in dieser Welt Mensch zu sein, muss man sich also in Erzählungen hineinversetzen, die dem Chaos Sinn und Form verleihen. Die Natur erschafft nur Körper, erst Geschichten machen aus diesen Körpern Menschen.
Carmen begreift, dass ihr Lesen eine Art Eskapismus ist, oder besser gesagt, so etwas wie eine Kompensation. Sie lebt die erfundenen Leben ihrer fiktiven Personen und klammert sich an deren Geschichten wie ein Verbannter an lieb gewonnene Erinnerungen, was für sie nicht annähernd so dramatisch ist, wie es klingt.
3
Seit Robs vorzeitiger Pensionierung wohnen sie in einer komfortablen Wohnung in der attraktiven, mittelgroßen niederländischen Gemeinde L*** mit Delikatessenläden um die Ecke. Sie haben jemanden, der sich um den Garten kümmert. Carmen arbeitet einige Stunden pro Woche in der Öffentlichen Bibliothek der eben erwähnten Gemeinde L***, wo sie die Kulturveranstaltungen organisiert, Förderanträge stellt, Schriftsteller und Schriftstellerinnen zu Lesungen einlädt und diese am Veranstaltungsabend mit einer Tasse Kaffee empfängt und betreut. Immer wieder versucht sie, Überraschungen zu kreieren, indem sie Autoren und Autorinnen mit lokalen Musikern auftreten lässt, was mal besser und mal schlechter gelingt. Die Vorlese-Vormittage für die Kinder aber sind ein voller Erfolg, sie bekommt manchmal rührende Reaktionen von den Kindern. Ihre an jedem zweiten Mittwoch des Monats stattfindende inklusive Lesereihe von Debütautoren und -autorinnen wird immer besser besucht, worauf sie durchaus stolz ist. Während der Niederländischen Buchwoche und der Kinderbuchwoche hat sie natürlich besonders viel zu tun. Sie arbeitet ehrenamtlich, wodurch sie mehr Freiheit hat. Kultur ist wichtig. Um denen zuvorzukommen, die sie als Bücher-Mama titulieren wollen, hat sie sich gleich selbst so genannt, mit einem Augenzwinkern: Sie ist keine Mama.
Sie haben es probiert, wie man so schön sagt. Nach der Heirat war es für Carmen und Rob das Naheliegendste, dass auch Kinder kämen. Carmen hatte damals noch ihren Amsterdamer Buchladen, den sie während ihres Niederländischstudiums mit ihrer Kommilitonin Vera eröffnet hatte und der deshalb zunächst Cave hieß, mit einem Hund im Logo, später jedoch, weil sowieso alle den Namen wie das englische Wort für Grotte aussprachen, zu „The Cave“ umgetauft wurde. Die Buchhandlung war auf feministische Literatur spezialisiert. Nachdem Vera sich hatte ausbezahlen lassen, führte Carmen „The Cave“ unter Beibehaltung des Namens noch eine Zeit lang allein weiter. Keiner verstand die Sache mit dem Hund, geschweige dass sich jemand tiefere Gedanken über das Logo machte. Obwohl sie die Bücher las, die sie verkaufte, oder besser gesagt, die Bücher verkaufte, die sie las, und obwohl sie sich ohne Vorbehalt als überzeugte Feministin bezeichnen würde, vor allem damals, fand sie das abscheuliche patriarchalische Konzept der Familiengründung auf altmodische Art irgendwie auch romantisch. Sie kannte die Theorie, aber was für ein Leben wäre es, wenn man alles nur auf sich bezöge, und außerdem hätte sie dann Rob erst gar nicht heiraten dürfen, was sie aufrichtig bedauert hätte. Früher jedenfalls, denn er sah aus wie die männlichen Filmstars, deren Poster sie sich an die Wand gepinnt haben würde, wenn sie keine Feministin gewesen wäre.
Eigentlich hätte sie gerne Kinder gehabt. Der Hausarzt überwies sie an einen Spezialisten, der unterschiedliche Optionen mit ihnen durchsprach, doch kurze Zeit später wurde Rob im Außenministerium angenommen, und weil ihm somit eine Karriere bevorstand, die ihn zu ständig wechselnden exotischen Standorten bringen würde, erschien ihnen die Kinderlosigkeit plötzlich als ein Vorteil, zumindest jedoch als Lösung eines Problems, bevor es sich gestellt hatte. Carmen verkaufte „The Cave“, wodurch sie das wenige, aber Liebgewordene, das sie sich selbst aufgebaut hatte, der Karriere ihres Mannes opferte. Sie hat es nie bereut, und an Tagen, an denen sie es doch tat, sagte sie sich, dass sie sich nicht beklagen dürfe, denn sie habe ja genau gewusst, worauf sie sich einließ. Sie war kein naives Opfer kultureller Konventionen, sondern hatte sich, obwohl durchdrungen von feministischem Bewusstsein und Idealen, aus freien Stücken dazu entschieden, ihrem gut aussehenden Gatten ins Ausland zu folgen.
Wenn Carmen an diese Zeit zurückdenkt, überrascht es sie, wie leichtfertig und lebenslustig sie damals gewesen sein muss. In gewissem Sinne liebt sie Rob noch immer, doch sie erinnert sich auch daran, wie sehr sie einst an ihn geglaubt hat und wie erfüllt sie war vom fröhlichen Optimismus, der sie vorbehaltlos davon ausgehen ließ, dass sie für gemeinsame Abenteuer bestimmt seien. Die Vorstellung, in ihren besten Lebensjahren mit Rob die Welt zu bereisen, und das im Auftrag des diplomatischen Dienstes des Königreichs der Niederlande, fand sie aufregend. Hinter solch hochgestellten Erwartungen musste jede Realität zwangsläufig zurückbleiben, was diese jedoch auch tat angesichts der Aussichten, die in jener Zeit als realistisch galten. Inzwischen kann Carmens Gatte in der Ruhe seiner Frühpension auf eine enttäuschende Karriere zurückblicken und Carmen auf ungezählte Tennispartien mit anderen Botschaftergattinnen und auf die Entdeckung des Sherrys. Wo sie auch war, versuchte sie sich zu engagieren, für streunende Katzen etwa oder als Schatzmeisterin für den örtlichen Aquarellierklub, doch wer alle fünf Jahre umziehen und jedes Mal von vorn anfangen muss, um in den mit niederländischen Steuergeldern möglichst nüchtern eingerichteten Dienstwohnungen, in denen sich die Zeit auftürmte, einen Funken fiktiver der Sinnhaftigkeit zu entzünden, kommt früher oder später zum Schluss, dass jede Mühe, die ein Mensch sich machen kann, per definitionem vergeblich ist. Sie war selbst eine streunende Katze. Ihr Leben war zwar koloriert, aber nur mit Wasserfarbe. Die Zeit in Amsterdam verwandelte sich für sie mit rückwirkender Kraft in den Mythos ihrer wilden Jahre.
Nach Rom oder Paris wurde Rob übrigens nie geschickt. Man sandte ihn von einem unromantischen Standort zum nächsten, als gäbe es im Den Haager Außenministerium jemanden, der eigens dafür angestellt war, alle Illusionen Carmens platzen zu lassen.
Nachdem Rob zum zweiten Mann in Cotonou aufgestiegen war, hoffte er insgeheim, danach endlich einen Posten als Botschafter zu erhalten. Als er dann aber auch in Wellington nur zweiter Mann wurde, hielt er mit seiner Hoffnung nicht mehr hinter dem Berg, und nach weiteren fünf Jahren als zweiter Mann in Lima nahm er seinen ganzen Mut zusammen und bat nachdrücklich um eine Beförderung. Man gab ihm zu verstehen, dass ein Botschafterposten nicht mehr, wie noch vor einiger Zeit, ein Automatismus war, sondern dass man inzwischen auch die Qualifikationen berücksichtige, wodurch sich in seinem Fall, in Anbetracht der Beurteilungen seiner Evaluierungsgespräche, eine Beförderung von selbst erledige. Zu mehr als zum zweiten Mann werde er es nie bringen, aber man habe vollstes Verständnis, wenn er darauf bestünde, dass ihm ein verfrühtes Aufhören ermöglicht werde. Obwohl Carmen es bis heute für eine Blamage hält, dass die Karriere ihres Mannes nicht aufgrund eines Skandals, wegen mangelnder Integrität, gefälschter Spesenrechnungen oder einer Affäre mit einer Escortdame, die in Wahrheit eine Spionin war, scheiterte, und obwohl sie sich dafür schämt, dass das Ende seines Traums zurückzuführen ist auf einen banalen Mangel an Kompetenz, war sie erleichtert, als das Abenteuer zu Ende war. Sie ist keine Schriftstellerin, doch wäre sie es, hätte sie ein Buch mit dem Titel Der zweite Mann geschrieben. Aber eigentlich wäre das Buch überflüssig, wo doch der Titel schon die ganze Tragik erschöpfend zum Ausdruck bringt.
Rob war ihr erster Mann. Selbstverständlich hatte sie in Amsterdam gelebt und so manchen hoffnungshegenden Kommilitonen hechelnd hinter sich die Treppe hinaufsteigen lassen, aber Rob war der Erste, für den sie etwas empfand, ihre große Unterwasserliebe in Monterosso mal ausgenommen. Die darf sie nicht mitzählen, denn damals war sie erst sechzehn, und außerdem: Was war damals eigentlich Nennenswertes passiert? Sie weiß ja nicht einmal mehr, wie er hieß. Das ist gelogen. Sie weiß noch sehr gut, dass er Antonio hieß. Das hatte aber gar nichts zu bedeuten, denn so heißen in Italien alle. Na gut, genau genommen ist Rob ihr zweiter Mann. Das macht die Geschichte ohnehin runder.
Im Grunde hätte Carmen gerne Kinder gehabt. Wenn wirklich etwas dran ist an der viel beschworenen Magie der Elternschaft, die die Langeweile und Sinnlosigkeit wie durch einen Zauberstab in bedingungslose Selbstverleugnung und wunderbare, lebenslange Sorge verwandelt, dann wären ihr die Jahre der Leere erspart geblieben, die sie bis heute dünnhäutig und leicht erschütterbar machen und die Ursache dafür sind, dass sie sich in letzter Zeit immer häufiger unmögliche Fragen stellt.
Eine ihrer Freundinnen aus dem Lesekreis erklärte einmal, in ihrer Jugend nur ihr eigenes Leben gelebt zu haben, wie das fast jeder Mensch tue, doch seit sie Kinder habe, lebe sie deren Leben mit, als wäre es das eigene. „Das empfinde ich wirklich so“, sagte sie. „Ich lebe das Leben meiner Kinder.“ Carmen sagte sich, dass es für sie nur ein geringes Opfer wäre, wenn sie ihr einzigartiges und einmaliges Leben gegen ein x-beliebiges anderes Leben eintauschen müsste. Für sie wäre das die Lösung. Deshalb liest sie auch so gern, denn Bücher bewahren sie vor der deprimierenden Einschränkung, von der Wiege bis zum Grab nur ein einziges Menschenleben leben zu dürfen. Doch oft steht am Ende ihrer Argumentation auch der Beweis, dass ihre Kinderlosigkeit vielleicht so schlecht gar nicht sei, denn die Verwegenheit, ein menschliches Leben in die Welt zu setzen, um eine persönliche Leere zu füllen, zeuge von erbärmlichem Egoismus, der zuletzt dadurch zu billigen sei, dass Millionen Menschen exakt aus diesen egoistischen Motiven handeln.
„Ilja Leonard Pfeijffer kann auch in dieser liebenswerten Fingerübung Geschichten erzählen, indem er triviale Zutaten furios mischt und verschränkt zu einer liebens- und lesenswerten Geschichte.“
„Ein kluges und knackig-kurzes Stück von Ilja Leonard Pfeijffer.“
„Geschmeidige Unterhaltung mit ironischen Schlenkern.“
„Charmant, witzig und ideenreich.“
„Ilja Leonard Pfeijffer ermuntert zum Erzählen - Erlebtes und Erdachtes. In den Worten von Tiziana: Ich wollte dir eine Geschichte schenken.“
„Eine herrliche Geschichte, mit unbändiger Fabulierlust erzählt, tiefsinnig und humorvoll.“
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