Mord im Santa-Express — Inhalt
Heiligabend im Zug. Und an Bord eine Leiche …
Am 24. Dezember sitzt Bruno Häusler im letzten ICE des Tages von Hamburg nach München. Während im Dunkeln die Schneelandschaft an ihm vorbeizieht und Mitpassagiere Glühwein und Plätzchen auspacken, denkt er an die Feiertage mit seiner Ex-Frau und den erwachsenen Kindern. Da betritt eine aufgewühlte Frau den Großraumwagen. Der ältere Mann in ihrem Abteil hat gesundheitliche Probleme. Als sie bei ihm ankommen, ist er bereits tot. Hatte er einen Herzinfarkt? Oder war sein Kaffee vergiftet? Was als beschauliche Bahnfahrt beginnt, wird unerwartet zu einem Weihnachtskrimi, der den Frieden der Weihnacht gefährdet.
Leseprobe zu „Mord im Santa-Express“
HAMBURG HBF
„Last Christmas, I gave you my heart …“
Der alte Wham-Hit drang aus dem Kopfhörer des Mannes, der neben ihm am Bahnsteig stand und wartete. In der riesigen Halle des Hamburger Hauptbahnhofs, wo sie die weit gespannte Decke aus Stahl und Glas vor dem eisigen Regen draußen schützte, glitzerte und leuchtete es aus allen Ecken. Doch weder bunte Girlanden und Lichterketten noch der üppig geschmückte Baum in der Vorhalle konnten Bruno Häusler in weihnachtliche Stimmung versetzen. Ihm war einfach nur kalt, und er konnte es kaum erwarten, sich auf [...]
HAMBURG HBF
„Last Christmas, I gave you my heart …“
Der alte Wham-Hit drang aus dem Kopfhörer des Mannes, der neben ihm am Bahnsteig stand und wartete. In der riesigen Halle des Hamburger Hauptbahnhofs, wo sie die weit gespannte Decke aus Stahl und Glas vor dem eisigen Regen draußen schützte, glitzerte und leuchtete es aus allen Ecken. Doch weder bunte Girlanden und Lichterketten noch der üppig geschmückte Baum in der Vorhalle konnten Bruno Häusler in weihnachtliche Stimmung versetzen. Ihm war einfach nur kalt, und er konnte es kaum erwarten, sich auf seinen reservierten Platz zu setzen, die Beine auszustrecken und die Augen zu schließen. Vielleicht gelang es ihm sogar, ein Weilchen zu schlafen, während der Zug den Bahnhof verließ.
Müde genug war er, hatte er doch noch bis zum späten Nachmittag in der Praxis gesessen und Abrechnungen bearbeitet. So kurz vor dem Jahresabschluss konnte er den Papierkram ja nicht einfach liegen lassen. Und seit der Trennung von seiner Frau, die ein Händchen für alles Buchhalterische hatte, blieb diese lästige Tätigkeit an ihm, dem Mediziner, hängen.
In den letzten Tagen hatte ihn seine Arbeit so sehr in Beschlag genommen, dass er nicht einmal dazu gekommen war, Geschenke für seine beiden Kinder zu kaufen. Kinder – was für ein unpassendes Wort für zwei fast erwachsene Menschen. Aber egal, in welchem Alter der Nachwuchs auch war, für ihn würden sie immer seine Schützlinge bleiben, deren Lebenswege er mit wohlwollender Kritik begleitete, wenn auch aus großer Distanz. Denn die Scheidung vor zwei Jahren hatte die Familie zerrissen und in entgegensetzte Richtungen getrieben. Er lebte und arbeitete in Hamburg, seine Frau und die Kinder wohnten in München – viel weiter entfernt ging in Deutschland kaum.
Er trat seine Reise also mit leeren Händen an. Was wohl niemanden überraschen würde. Letztes Weihnachten war Bruno Tochter Lisa und Sohn Max ebenfalls ohne Präsent gegenübergetreten, aber er hatte sie stattdessen zu einem gemeinsamen Musicalbesuch eingeladen. Sie fanden es „cool“ und unkonventionell, zumindest hatten sie das ihm gegenüber behauptet. Diesmal würde er es ähnlich handhaben. Ihm blieb im Zug ja ausreichend Zeit, um darüber nachzudenken, über was sie sich freuen könnten.
Eine blecherne Stimme kündigte die Ankunft des ICE 885 „Hans Fallada“ an, wenig später sah Bruno die Frontlichter des schnittigen Zuges am Ende der Halle auftauchen. Überpünktlich, wie Bruno mit einem Blick auf die Uhr feststellte. Also würde der ICE planmäßig um 18:01 Uhr weiterfahren, um schließlich gegen 23:40 Uhr am Münchner Hauptbahnhof einzutreffen. Dies war die letzte durchgehende ICE-Verbindung an Heiligabend.
Der Triebwagen rauschte an ihm vorbei, es folgten Waggons der ersten Klasse, dann der Speisewagen mit dem charakteristischen Buckel auf dem Dach und dahinter die zweite Klasse. Als der Zug zum Stehen kam, brauchte Bruno nur ein paar Schritte zu gehen, um seinen Wagen mit der Nummer 9 zu erreichen. Im getönten Glas der Tür fing er für einen Moment sein Spiegelbild auf und erschrak, wie erschöpft er aussah. Lag das allein am Stress der Vorweihnachtstage, oder setzte ihm die Nervosität vor einem der seltenen Familientreffen zu?
Mit einem leisen Zischen öffnete sich die Tür. Bruno ließ eine ältere Frau aussteigen, dann hob er seinen kleinen Reisekoffer an und nahm die zwei Stufen in den Vorraum des Waggons. Mit ihm stiegen nur wenige andere Reisende ein. Kein Wunder, wer fuhr denn am Abend des 24. Dezember noch mit der Bahn?
Die Glastür vor ihm glitt auf, und Bruno betrat den Großraumwagen der zweiten Klasse. Das Licht war angenehm gedämpft, die Temperatur wohlig warm. Wie er gleich merkte, hätte er sich die Kosten für die Sitzreservierung sparen können, denn außer ihm hielt sich in diesem Waggon kaum jemand auf. Bruno verstaute seinen Koffer im Gepäckfach. Dann wickelte er seinen Schal vom Hals, zog den Mantel aus und legte beides daneben. Er setzte sich und stellte die Sitzposition so ein, dass er sich bequem nach hinten lehnen konnte. Allmählich wurde er ruhiger, und die innere Anspannung ließ nach.
Während er seine Blicke über die Mitreisenden gleiten ließ, dachte er darüber nach, weshalb diese Leute wohl den Spätzug gewählt hatten. Die alte Frau dort zum Beispiel, die so bekümmert wirkte: Hatte sie einfach nur dem Gedränge in den vorweihnachtlichen Zügen entkommen wollen und sich deshalb für den letzten ICE entschieden? Oder war sie verwitwet und wollte der Einsamkeit am Heiligabend entrinnen, indem sie sich durch die winterliche Landschaft fahren ließ? Oder der Fahrgast mit dem Handy am Ohr: Der Kleidung nach könnte es sich um einen Geschäftsmann handeln, der es nicht früher geschafft hatte, zu seinen Lieben nach Hause zu kommen. So emsig, wie er telefonierte und dabei estikulierte, konnte man annehmen, dass er sogar jetzt noch dienstliche Gespräche führte. Ein junges Liebespaar dagegen, das ein paar Plätze weiter saß, schien nichts von der Welt um sich herum zu bemerken. Den Turteltäubchen, beide um die zwanzig, war es sicher gleichgültig, dass andere um diese Zeit unterm Christbaum saßen und Geschenke auspackten.
Ein Anflug von Wehmut erfasste Bruno, während er das Paar beobachtete. Frisch verliebt zu sein war schon etwas Besonderes, und diesen Zustand der Glückseligkeit an einem solchen Abend erleben zu dürfen, wohl kaum zu übertreffen. Wie gern hätte Bruno die Uhr zurückgedreht bis zu der Zeit, als er selbst bis über beide Ohren verliebt gewesen war. So große Gefühle, lang, lang war das her. Und die Liebe von einst längst erkaltet.
Momenten wie diesen versuchte Bruno meist zu entgehen, denn sie taten ihm weh. Lieber stürzte er sich Tag für Tag in seine Arbeit und widmete sich seinen kleinen Patienten. Seine Profession als Kinderarzt half ihm dabei, denn er empfand diesen Beruf als ungemein erfüllend. Zumindest dann, wenn er sich nicht gerade um die Abrechnungen und den oftmals zermürbenden Briefwechsel mit den Kassen kümmern musste …
Mit einer Folge pfeifender Signaltöne schlossen sich die Türen. Gleich darauf setzte sich der Zug in Bewegung. Bruno schaute aus dem Fenster auf einen fast menschenleeren Bahnsteig. Lediglich ein Speisewagenbelieferer hielt sich noch draußen auf und ein Mann in Jogginghosen und Parka, der Mülleimer nach Pfandflaschen durchwühlte.
Als der Zug die schier endlose Bahnhofshalle verließ, wurden Bruno und seine Mitreisenden von der winterdunklen Nacht umhüllt. Er betrachtete die regennasse Stadt, auf deren Straßen sich die Lichterketten spiegelten.
„Guten Abend, hier spricht Ihr Zugchef.“ Die Durchsage ließ Bruno aufhorchen. Eine freundliche Stimme hieß alle zugestiegenen Fahrgäste willkommen, wies auf das reichhaltige Angebot im Speisewagen hin und kündigte den nächsten Halt in Hannover an. Bruno hörte nur mit halbem Ohr zu und widmete sich wieder dem, was er draußen noch erkennen konnte.
Mit Ausnahme einiger Taxis und Busse waren keine Fahrzeuge mehr unterwegs. Er sah die Fassaden von verwaisten Bürogebäuden und die Schaufenster von Geschäften, die längst geschlossen hatten. In der Ferne blitzten die Lichter der Kräne an den Kaianlagen auf. Das sonore Dröhnen eines Signalhorns drang an sein Ohr und kündigte das Auslaufen eines Schiffs an. Es gab also doch mehr Menschen, die wie er nicht Heiligabend zu Hause unter dem Christbaum feierten.
Ein Lachen ließ ihn aufhorchen. Er wandte sich um. Das Pärchen hatte mit dem Knutschen aufgehört und amüsierte sich über einen weiteren Passagier. Auch Bruno huschte ein Lächeln über die Lippen, handelte es sich bei diesem doch um keinen Geringeren als den Weihnachtsmann höchstpersönlich. Das karminrote Kostüm hatte zwar nicht ganz seine Größe: Der Weihnachtsmann trug Hochwasserhosen. Auch die Zipfelmütze wirkte ein paar Nummern zu klein, dafür saß der weiße Rauschebart perfekt und ließ vom Gesicht nur die Augenpartie erkennen. Der Weihnachtsmann verteilte aus einem grauen Leinensack kleine Schokonikoläuse, über die sich die Verliebten sofort hermachten, indem sie sich gegenseitig damit fütterten.
Bruno hatte Zweifel daran, ob der Weihnachtsmann im offiziellen Auftrag der Deutschen Bahn handelte, dafür sah seine Aufmachung einfach zu laienhaft aus. Trotzdem nahm auch er die geschenkte Schokolade an, als der großzügige Spender gleich darauf an seinem Platz vorbeikam. Eine nette Geste, fand Bruno und wickelte die Folie von der Schokolade. Mit zwei Bissen war der süße Snack verspeist.
Der ICE geriet ins Schaukeln, als er das Gleis wechselte. Bruno, der gerade aufgestanden war, um sich ein Buch aus dem Koffer zu holen, musste sich festhalten. Dann zog er den Roman aus einem Seitenfach des Koffers und setzte sich wieder.
Als Reiselektüre hatte sich Bruno für einen Klassiker entschieden: Agatha Christies Mord im Orientexpress. Während der Zug die Hamburger Außenbezirke passierte, schlug er das Buch auf und vertiefte sich in die Geschichte. Der Schmöker, den er bisher nur in der verfilmten Version von Sidney Lumet kannte, zog ihn schon im ersten Kapitel in seinen Bann. Während der kalte Regen gegen die Scheibe klatschte und schattenhaft Hausfassaden und Brückenelemente an ihm vorbeihuschten, tauchte er tief ein in den Zauber der Fahrt im legendären Orientexpress. Vergeblich versuchte er, sich zu erinnern, wer das spätere Opfer war und aus welchen Motiven der oder die Täter gehandelt hatten.
Doch schon nach wenigen Minuten wurde er unterbrochen. „Ihren Fahrschein bitte“, sagte ein Mann in der dunkelblauen Uniform eines Schaffners. Der Stimme nach zu urteilen handelte es sich allerdings um den Zugchef, der vorhin die Durchsage gemacht hatte. Aufgrund seines grauen Haars und des zerknitterten Gesichts schätzte Bruno ihn auf etwa sechzig, vielleicht sogar älter. Ein Mann kurz vorm Rentenalter. Er hatte freundliche Gesichtszüge und legte eine ruhige, gemütliche Art an den Tag. Bruno entfaltete seine ausgedruckte Fahrkarte, woraufhin der Zugbegleiter den Code einscannte und das Papier anschließend auf altbewährte Art abzwickte.
„Sie reisen bis nach München?“, fragte der Schaffner und reichte Bruno das Ticket zurück. „Dann werden wir uns heute Abend öfter sehen. Ich wünsche eine angenehme Reise im ›Santa-Express‹.“
„Danke“, sagte Bruno. „Ich dachte allerdings, der ICE ist auf ›Hans Fallada‹ getauft.“
„Ja, so lautet die offizielle Bezeichnung. Aber intern nennen wir vom Bordpersonal ihn an diesem Tag im Jahr den ›Santa-Express‹. Passend, finden Sie nicht auch?“ Der Zugchef zwinkerte ihm zu und ging zum nächsten Fahrgast.
Bruno schüttelte leicht verwundert den Kopf. „Santa-Express“ – ausgerechnet einen modernen ICE-Zug mit einem solch nostalgischen Namen zu versehen war schon verwegen. Andererseits passte das zur Stimmung an diesem Abend, denn es handelte sich ja wirklich um eine besondere Fahrt. Und außerdem wurde nun auch die Landschaft um ihn herum zusehends winterlicher …
Schon wollte er sich wieder in den Krimi vertiefen, da erhaschte er einen Blick auf eine Mitreisende, die ihren Platz im Zug wohl noch nicht gefunden hatte: eine hübsche Enddreißigerin, die mit leichtem Gepäck durch den Gang eilte und dabei seltsam gehetzt wirkte. Bruno konnte nicht anders, als ihr nachzusehen und ihre Figur zu bewundern, dann war sie bereits wieder verschwunden.
Das Klappern eines Trolleys störte ihn kurz danach erneut in seiner Konzentration. Bruno sah von seinem Buch auf, weil neben ihm eine rollende Verkaufstheke auftauchte, geschoben von einem Mann im Kellnerdress. Hochgewachsen, dürr und schlaksig war er, die vielen kleinen Narben in seinem Gesicht sprachen für schlecht verheilte Akne, das schwarze Haar hing ihm strähnig in die Stirn.
„Butterbrezeln, Wiener Würstchen, Softdrinks, Bier oder Wein?“, zählte der Verkäufer lustlos auf.
Bruno wollte eigentlich abwinken, dann aber dachte er: Warum eigentlich nicht? Immerhin war Weihnachten, also würde er sich ein Glas Wein gönnen. Zur Feier des Tages. „Was für einen Rotwein führen Sie denn?“, erkundigte er sich.
Daraufhin zog der Verkäufer eine Miniaturflasche aus einer Schublade und hielt sie Bruno hin. „›Merlot‹ steht drauf“, sagte er überflüssigerweise, denn lesen konnte Bruno ja selbst.
Bruno nahm eine Packung gesalzene Erdnüsse dazu und bezahlte den stattlichen Preis, der ihm genannt wurde. Er legte sogar ein Trinkgeld drauf. Als sich der Trolley wieder in Bewegung setzte, klappte Bruno den schmalen Tisch an der Lehne des Vordersitzes aus und stellte seine Einkäufe darauf ab. Er riss die Erdnusstüte auf und öffnete den Schraubverschluss des Fläschchens. Dann hob er sein Plastikglas mit Rotwein und prostete seinem Spiegelbild in der Fensterscheibe zu.
Schon nach dem ersten Schluck merkte er, wie sein stressbedingter Missmut allmählich wich. Als er wieder zu seinem Buch griff, begann er, die Bahnfahrt durch die Heilige Nacht zu genießen.
HAMBURG — HANNOVER
Melanie Weber fühlte sich kopflos. Sich in einem nahezu leeren ICE nicht für einen Sitzplatz entscheiden zu können und stattdessen minutenlang durch die Gänge zu irren passte jedoch zu ihrer momentanen Verfassung. Denn sie hatte diese Fahrt völlig überstürzt angetreten und den Zug buchstäblich in letzter Sekunde erwischt. Entsprechend aufgewühlt war sie noch. Deshalb gelang es ihr auch nicht, zwischen der Anonymität eines Großraumwagens und der Geborgenheit eines Abteils zu wählen.
Die Entscheidung fiel schließlich ganz spontan auf ein Abteil in Wagen 8. Kein leeres, denn sie mochte jetzt nicht allein sein. Die Gesellschaft ihrer Wahl bestand aus zwei älteren Menschen, einer Frau und einem Mann. Die beiden waren noch dabei, sich in der neuen Umgebung einzurichten: Winterjacken aufhängen und Handschuhe verstauen, verschiedene Dinge aus der Reisetasche nehmen und ausprobieren, ob es sich besser mit heruntergeklappter Armlehne sitzen ließ oder ohne.
Da sich die zwei auf verschiedene Ecken des Abteils verteilten – er am Gang auf der einen Seite, sie gegenüber auf einem Fensterplatz –, schloss Melanie, dass es sich bei ihnen nicht um ein Paar handeln konnte. Für Eheleute wirkten die beiden auch zu unterschiedlich, fand sie. Zwar hätte es vom Alter her durchaus gepasst, aber der Mann sah mit der schmal geränderten Brille auf der Nase und einer FAZ in den Händen eher intellektuell aus, während der gleichmütige Gesichtsausdruck der Frau auf ein schlichteres Gemüt schließen ließ. Doch das waren natürlich bloße Vorurteile, wie Melanie wusste.
„Verzeihen Sie bitte“, sagte der ältere Herr, als er beim Aufschlagen der Zeitung gegen Melanies Hüfte stieß.
„Macht nichts“, sagte Melanie und setzte sich auf die Seite der Frau, wobei sie den Platz zwischen ihnen frei ließ. Die alte Dame nahm die Lücke sogleich in Anspruch und belegte den Sitz mit allerlei Handarbeitsmaterial, das sie aus ihrer Tasche kramte. Stricknadeln, ein Wollknäuel in Moosgrün sowie eines in Marineblau. Schließlich zog sie noch einen halb fertigen Schal heraus. Oder sollte es etwas anderes werden?
„Eine Mütze für meinen Neffen“, sagte die Frau, die Melanies fragenden Blick richtig deutete, mit knarziger Stimme. „Der Junge bekommt so schnell kalte Ohren.“
„Da kann er sich ja freuen“, sagte Melanie und wandte sich von der Mitreisenden ab. Sie presste sich in die Lehne, als wollte sie sich in einer Ecke verkriechen, und hielt sich das Smartphone vors Gesicht. Es war ein deutliches Zeichen: Sprecht mich bloß nicht an, ich will meine Ruhe! Eigentlich merkwürdig, wie sie sich selbst eingestehen musste. Denn hätte sie Isolation gewollt, wäre ein abgeschiedener Platz im Großraumwagen doch besser gewesen. Aber gerade darin bestand ja ihr Dilemma: Sie wollte zugleich unter Menschen sein und in Frieden gelassen werden.
Nun saß sie hier und würde sich so schnell nicht vom Fleck bewegen. Unruhe hatte sie ja heute wahrlich genug gehabt, dachte sie, während sie wahllos durch Instagram-Bilder scrollte, ohne sie wirklich wahrzunehmen. In ihrem Inneren liefen gleichzeitig die Ereignisse der vergangenen Stunden vor ihr ab. Und sie fragte sich, wie es so weit hatte kommen können. Ungeplant und ungewollt war sie in Hamburg aufgebrochen, die Fahrt im ICE war eine Art Flucht. Ein überstürzter Ausbruch aus ihrem bisherigen Leben – und aus der Beziehung mit Stephan.
Stephan. Er war in den letzten dreizehn Jahre ihres Lebens immer an ihrer Seite gewesen. Dreizehn Jahre lang, das musste man sich mal vorstellen! Als sie sich damals kennenlernten, am Rande des Hafengeburtstages 2007, war sie fünfundzwanzig gewesen und hatte gerade im Berufsleben Fuß gefasst. Stephan steckte sogar noch mitten in seinem Ingenieurstudium. Melanies Erwartungen für die Zukunft waren ziemlich bürgerlich gewesen: eine Ehe und Kinder, dazu ein eigenes Haus mit kleinem Garten. Allerdings liefen Stephans Vorstellungen, wie sich nach und nach herausstellte, ihrem Traum diametral entgegen – so hatte er es einmal selbst formuliert. Sein Job als Brückenbauer bei einer international tätigen Firma stand für ihn im Mittelpunkt, und wenn er einmal nicht arbeitete, wollte er seine rare Freizeit genießen, mit Sport, Reisen und Treffen mit seinen Kumpels. Melanie ließ es ihm durchgehen, auch sie fuhr ja gern in den Urlaub und powerte sich mit Stephan auf dem Tennisplatz aus. Und so stellte sie um seinetwillen ihre Zukunftsplanung zurück und ließ Stephan seinen Freiraum. Fünf Jahre lang, zehn Jahre. Inzwischen war sie achtunddreißig, und das Maß war einfach voll. Die Streitereien über ihre unterschiedlichen Lebensvorstellungen häuften sich, eine Auseinandersetzung folgte der nächsten. Stephan warf Melanie Torschlusspanik vor.
Und damit hatte er sogar recht! Sie sah ihre Felle davonschwimmen, ihre Zukunftsträume zerplatzen.
Gerade heute hatten sie sich wieder darüber gestritten. Doch diesmal hatte Melanie nicht klein beigegeben wie sonst. Es kam zum Eklat. Zu der fürchterlichsten Auseinandersetzung, die sie sich jemals geliefert hatten. Deshalb gab es für sie im Moment nur eines: Sie musste weg von Stephan, um mit sich und ihrer Situation ins Reine zu kommen.
Weg von ihm, sehr weit weg.
Zwei Cola, ein Wein und eine Tüte Nüsse, mehr hatten sie ihm in Wagen 9 nicht abgenommen. Eine magere Bilanz, zumal es in den anderen Waggons nicht besser ausgesehen hatte. Clemens Schottmeier konnte nur hoffen, dass das Geschäft im Laufe der Fahrt zulegte, denn er war auf diesen Verdienst angewiesen. Auch beim Trinkgeld könnte die Kundschaft gern freigiebiger sein. Hieß es denn nicht, zu Weihnachten seien die Leute besonders spendabel? Bislang hatte er davon nichts gemerkt.
Clemens schob den Verkaufstrolley durch den Gang des nächsten Wagens und leierte seinen Spruch herunter. Dabei ließ er auch die wenigen Passagiere in den spärlich besetzten Abteilen nicht aus, die meist entspannt und gelassen wirkten: Ein Rentnerehepaar, das ihm immerhin zwei Wienerle abkaufte, und einige junge Business-Typen, wahrscheinlich auf dem Weg zu ihren Frauen oder Freundinnen. Bei denen konnte Clemens mit seiner Ware allerdings nicht landen, denn einer hatte seine eigene Thermoskanne dabei, aus der der süßliche Geruch von Glühwein aufstieg, ein anderer vor sich eine Box mit Thai-Food, die er wohl am Bahnhof gekauft hatte. Für Leute wie Clemens war das schlimm, denn je besser die Bahnhöfe mit Imbissen ausgestattet waren, desto schlechtere Karten hatte die Bordgastronomie. Clemens fürchtete, dass der Service, wie er ihn bot, über kurz oder lang ganz abgeschafft werden würde.
Ein Abteil weiter traf er eine komplette Familie an: Vater, Mutter, Tochter, Sohn. Die Kleinen waren wohl noch im Vorschulalter, vermutete Clemens, der selbst keine Kinder hatte. Sie hatten sich im ganzen Abteil ausgebreitet, überall lag etwas herum. Auch hübsch verpackte Geschenke, kleine wie große. Ob sie ernsthaft vorhatten, hier im Zug Bescherung zu feiern? Aus einem tragbaren Lautsprecher plärrten Kinderweihnachtslieder, die schrillen Töne drangen bis in den Gang. Clemens klopfte an die Glastür, um auf sich aufmerksam zu machen, worauf sich fröhliche Kinderaugen auf ihn richteten. Lautstark verlangten die Kleinen nach Süßigkeiten. Obwohl die Mutter energisch den Kopf schüttelte, kramte der Vater bereits sein Portemonnaie hervor und spendierte dem Nachwuchs zwei Schokoriegel. Clemens strich das Geld ein und zog weiter.
Schon verrückt, an einem solchen Abend arbeiten zu müssen, dachte er und fühlte sich wieder einmal wie ein Verlierer. Aber verrückt musste auch der arme Irre sein, der heute im Santa-Kostüm durch die Gänge flitzte, er war ihm seit der Abfahrt schon zweimal begegnet. Und dort kam er schon wieder!
„Lass mich mal durch, Kumpel“, sagte der Typ in Verkleidung und wollte sich an Clemens’ Wagen vorbeizwängen.
Diesmal blieb Clemens stur. „Momentchen“, sagte er und blockierte den Durchgang. „Wir sehen es hier nicht sehr gern, wenn jemand etwas verteilt. Haben Sie dafür überhaupt eine Genehmigung?“
Ein irritiertes Augenpaar richtete sich durch einen Wust weißer Kunsthaare auf Clemens. „Genehmigung für meine Schokolade? Mann, es ist Weihnachten! Gönn den Leuten doch die kleine Freude.“
„Es ist Ihnen schon klar, dass Sie mir das Geschäft vermasseln, oder? Ich könnte Sie dem Zugchef melden.“
Der andere zögerte mit seiner Reaktion, sodass Clemens schon fürchtete, zu weit gegangen zu sein. Dann jedoch legte ihm der falsche Weihnachtsmann die Hand auf den Oberarm und sagte ganz ruhig: „Ich komme dir nicht in die Quere und du mir auch nicht, okay? Merry Christmas.“ Damit zwängte er sich an ihm vorbei.
Clemens schaute ihm nach, bis er am Übergang zum nächsten Waggon verschwand. Ein echt seltsamer Kerl, dieser Fake-Santa, dachte er noch. Dann versetzte er seinem Verkaufswagen einen Tritt. Das tat er in regelmäßigen Abständen immer wieder, als würde das etwas ändern. Tat es natürlich nicht. Der blöde Trolley mochte zwar sein Hassobjekt sein, doch Clemens war sich sehr wohl bewusst, dass er diesen Job dringend brauchte. So sehr sogar, dass er sofort den Finger gehoben hatte, als die Schichten für die Feiertage eingeteilt wurden. Das brachte ihm einen Zuschlag ein, auf den er weder verzichten wollte noch konnte. Und so riss er sich nun am Riemen und nahm sich fest vor, von jetzt ab einfach nur seine Arbeit zu machen, anstatt sich weiter in seinen Ärger und Frust hineinzusteigern. Hauptsache, er hatte am Ende der Schicht ein paar Euro mehr auf dem Konto.
Sein Vorsatz, sich nicht länger mit Zweifeln und Selbstmitleid zu plagen, hielt bis zum nächsten Wagen an. Dort traf er auf einen Fahrgast, der sich die Schuhe ausgezogen und seine Beine auf den freien Sitz neben sich gelegt hatte. Er war etwa in Clemens’ Alter, also Mitte dreißig. Der Mann schnippte mit den Fingern, als er Clemens kommen sah, und orderte ein Bier. Allerdings, ohne Clemens’ Begrüßung auch nur mit einem Wort zu erwidern und ohne dass ihm ein „Bitte“ über die Lippen kam. Auch ein „Danke“ ersparte sich der Fahrgast, nachdem er seine Pilsdose bekommen hatte, ebenso wie das Trinkgeld.
Clemens konnte solche Kunden nicht ausstehen. Sie hielten sich für etwas Besseres und behandelten ihn wie einen Dienstboten. Als ob jegliche Höflichkeit an ihn verschwendet wäre! Auf diese Weise gedemütigt zu werden, das ging Clemens jedes Mal aufs Neue nah. Es führte ihm seine eigene Unzulänglichkeit vor Augen: Die Tatsache, dass er nichts aus seinem Leben gemacht hatte, obwohl er die Realschule abgeschlossen und eine Lehre als Bürokaufmann absolviert hatte. Doch er wusste auch, dass er nie wieder in seinem angestammten Beruf arbeiten konnte. Die Brücken zu seinem alten Leben waren unwiederbringlich abgebrochen, nachdem er einen einzigen Fehler begangen hatte. Einen unverzeihlichen.
Mit hängendem Kopf schob Clemens den Trolley durch die Tür zum Bereich mit den Abteilen. Wie auch in den anderen Waggons waren die meisten nicht belegt, und er drückte aufs Tempo, um den Großraumwagen dahinter zu erreichen, als er im letzten Abteil doch noch potenzielle Kundschaft erspähte: Durch die Scheibe, die die Kabine vom Gang trennte, konnte er drei Fahrgäste sehen, einen älteren Mann und zwei Frauen. Er wollte schon die Hand auf den Griff legen, um die Tür zu öffnen und seine Ware anzubieten, doch mitten in der Bewegung hielt er inne. Ihm war, als würde sein Herzschlag aussetzen.
Wie eingefroren stand er da, den Blick starr auf den Mann gerichtet, der nun seinerseits von seiner Zeitung aufsah. Als er Clemens entdeckte, legte er die Zeitung auf die Knie und hob eine Hand.
„Hallo, Sie!“, hörte Clemens die Stimme des Mannes durch das Glas der geschlossenen Abteiltür. „Ich möchte einen Kaffee, bitte.“
Clemens sah sich außerstande, zu reagieren. Seine Kehle war wie zugeschnürt.
Denn er kannte diesen Mann. Und hatte gehofft, ihm nie mehr im Leben begegnen zu müssen.
„Hören Sie, guter Mann? Einen Kaffee bitte.“
Nun richteten auch die anderen beiden Fahrgäste, eine jüngere Frau und eine Oma mit Strickzeug in den Händen, ihre Aufmerksamkeit auf Clemens. Ihn überkam schiere Panik.
Was sollte er nur tun? Sich taub stellen? Clemens löste die Bremse des Trolleys. Dann schob er so schnell davon, als wäre er gerade dem Teufel persönlich begegnet.
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