Nachbeben Nachbeben - eBook-Ausgabe
Die Pandemie, ihre Folgen und was wir daraus lernen können
Nachbeben — Inhalt
Die fällige Bilanz
Die Pandemie ist vorbei, das Virus ist geblieben. Drei Jahre Ausnahmezustand liegen hinter uns, die geprägt waren von Ungewissheit, von sinnvollen und sinnlosen Maßnahmen, von Warnungen, Mahnungen und Überspitzungen. Wir sollten diese Zeit nicht einfach verdrängen, sondern sie aufarbeiten, aus ihr lernen und die so gewonnenen Erkenntnisse nutzen, nicht zuletzt, um uns auf zukünftige Pandemien und Krisen aller Art besser vorzubereiten.
Essenziell für die richtigen Schlussfolgerungen ist eine ergebnisoffene, ehrliche, aber auch konsequente Aufarbeitung und Benennung von Fehlern und Versäumnissen. Dabei geht es nicht darum anzuklagen – es geht um Glaubwürdigkeit. Denn nur so können wir vermeintlich unversöhnliche Positionen auf dem Pfad eines offenen, diskussionsfreudigen und gar versöhnlichen Diskurses zusammenführen. Das ist nicht nur eine medizinische, sondern auch eine politische und gesamtgesellschaftliche Herausforderung.
Herr Streeck, gleich zu Anfang die große, unausweichliche Frage: Hätten wir die Pandemie verhindern können?
Mit dieser Frage hat sich das internationale, unabhängige Panel der WHO (The Independent Panel For Pandemic Prepardness & Response) vor ein paar Jahren beschäftigt und dort kam man zu einem klaren Schluss: Ja, es wäre möglich gewesen, die Coronapandemie abzuwenden. Es hätte gelingen können, wenn entschlossenes Handeln erfolgt wäre und ein effektiver Informationsaustausch zwischen den betroffenen Ländern und den relevanten Organisationen, insbesondere zwischen China und der WHO, stattgefunden hätte. Auf diese Weise wäre der Ausbruch im Keim zu ersticken gewesen. Doch solche Überlegungen bleiben hypothetisch. Wichtig ist zu erkennen, dass das Risiko einer neuen Pandemie weiterhin und dauerhaft besteht, vor allem wenn ein Virus von Tieren auf Menschen übertragen wird, es also zur Zoonose kommt. Auch deshalb müssen wir Lehren aus der Coronakrise ziehen.
Was müssen wir uns unter einer Zoonose vorstellen?
Schätzungen zufolge gibt es weltweit rund 1,7 Millionen noch unentdeckte Viren, von denen etwa 400 000 das Potenzial besitzen, Menschen zu infizieren. Oft findet eine solche Erstinfektion statt, wenn Viren vom Tierreich auf den Menschen übergehen – ein Vorgang, der als Zoonose bezeichnet wird. Obwohl nicht jede Zoonose zu einer Pandemie führt, birgt sie dennoch häufig ein erhebliches Risiko. Der Übertritt von Viren kann insbesondere dann erfolgen, wenn Tiere unter Bedingungen gehalten werden, die ihnen unnatürlich enge Kontakte sowohl zu anderen Arten als auch zu Menschen aufzwingen, sei es durch den Wildtierhandel oder die Zerstörung ihres natürlichen Lebensraums. Aus diesem Grund spielt der Artenschutz eine entscheidende Rolle bei der Verhinderung von Pandemien. Indem wir uns für den Schutz tierischer Arten einsetzen, leisten wir einen wesentlichen Beitrag zur Prävention von Virenübertragungen auf den Menschen.
Und wann entsteht aus einem solchen „Viren-Übertritt“ eine Pandemie?
Wenn sich innerhalb kurzer Zeit immer mehr Menschen infizieren und das Virus dabei Ländergrenzen überwindet, entwickelt sich aus einem lokalen Ausbruch zunächst eine Epidemie und schließlich eine Pandemie, die dann nur noch schwer einzudämmen ist. Diese Dynamik haben wir beim Coronavirus (SARS-CoV-2) miterlebt, als es sich von China aus zunächst nach Thailand, dann in die USA und kurz darauf auch nach Deutschland ausbreitete. Ein anders gelagerter Fall war der Ausbruch des SARS-1-Virus, bei dem es auch bereits zu einer Pandemie kam, der aber – da SARS-1 schwerer übertragbar ist – in diesem Stadium noch eingedämmt werden konnte.
Nun aber hat das Coronavirus damals die Grenzen von Ländern und Kontinenten überwunden. Hatten wir in Deutschland also überhaupt einen Handlungsspielraum?
Die eigentliche Frage ist doch, ob wir in Deutschland richtig gehandelt haben. Ob wir uns auf die absehbare Pandemie angemessen vorbereitet haben. Oder ob wir vielleicht eine zu abwartende Haltung eingenommen haben.
Haben wir?
Diese Frage beantworte ich in meinem Buch. (lacht)
Der Titel Ihres Buchs lautet „Nachbeben – Die Pandemie, ihre Folgen und was wir daraus lernen können“. Warum finden Sie es persönlich wichtig, Lehren aus der Pandemie zu ziehen?
Diese Pandemie war weltweit, aber auch für uns in Deutschland ein Jahrhundertereignis. Rückblickend ist es unerlässlich zu hinterfragen, ob wir angemessen reagiert haben. Was waren gute Strategien und welche Fehler haben wir gemacht? Es ist wichtig, aus dieser Analyse Lehren zu ziehen, um in zukünftigen Pandemien oder andersartigen Krisen besser agieren zu können. Während einige behaupten, wir hätten alles richtig gemacht, vertreten andere die Meinung, unsere Reaktion sei überzogen gewesen. In meinem Buch bemühe ich mich, ein ausgewogenes Bild dessen zu zeichnen, was gut verlief und worin wir besser werden könnten, um uns für die Zukunft widerstandsfähiger zu machen, ohne dabei Schuldzuweisungen vorzunehmen. Eine solche offene Analyse schulden wir insbesondere jenen, die unter den Pandemiemaßnahmen gelitten haben – sei es durch Vereinsamung, die Unmöglichkeit, Angehörige in Krankenhäusern oder Pflegeheimen zu besuchen, existenzbedrohende Lockdowns, die Schließung ihrer Betriebe oder Überforderung durch die Impfkampagne. Es ist von entscheidender Bedeutung, dass wir zukünftig sowohl Befürworter als auch Gegner der damaligen Maßnahmen einbinden. Ihnen allen gegenüber sind wir eine gründliche Aufarbeitung schuldig, um die während der Pandemie entstandene gesellschaftliche Spaltung zu überwinden.
Um noch einmal an den Anfang zurückzukehren: Zu welchem Zeitpunkt nach dem Ausbruch des Coronavirus war Ihnen klar, dass wir es mit einer Pandemie zu tun haben?
Als die ersten Fälle in China bekannt wurden, hatte ich noch die Hoffnung, dass es möglich sein würde, die Ausbreitung des Virus innerhalb der Landesgrenzen zu kontrollieren und so eine internationale Verbreitung zu verhindern. Die anschließende Meldung des ersten Falls in Thailand löste bei mir zwar Nervosität aus, aber noch blieb ich optimistisch, dass der Ausbruch auf Asien beschränkt bleiben könnte. Jedoch änderte sich meine Einschätzung grundlegend, als die ersten Infektionen in den USA bestätigt wurden. Ab da war mir bewusst, dass es nur eine Frage der Zeit war, bis auch Deutschland betroffen sein würde. Das war der entscheidende Moment, in dem wir auch sofort mit der Einführung von Coronatests in unserem Labor begannen.
Hätten wir schon an diesem Punkt etwas besser machen können?
Ich glaube schon. In der Anfangsphase haben wir in Deutschland eine abwartende Haltung eingenommen. Wir haben zwar nach Personen gesucht, die aus China kommen und die betreffende Symptomatik aufweisen, aber wir waren nicht proaktiv. Wir haben die Dinge auf uns zukommen lassen und abgewartet. So sind Wochen vergangen, dabei hätten wir uns längst schon vorbereiten und wichtige Dinge beschaffen können: Schutzkleidung, Masken, Pipettenspitzen, Enzyme, Beatmungsgeräte und, und, und.
In den Folgewochen und -monaten wurden verschiedene Strategien diskutiert, um das Virus in Schach zu halten, darunter die No-Covid-Strategie oder auch die Zero-Covid-Strategie. Wären wir erfolgreich gewesen, wenn wir nur konsequenter in den Maßnahmen gewesen wären?
Das Konzept von No-Covid oder Zero-Covid sieht ja vor, dass man versucht, jede Infektion zu verhindern. Das ist zunächst natürlich ein nobler Ansatz, aber praktisch unmöglich umzusetzen, wie man deutlich an China gesehen hat, wo man es versucht hat. Das Vorgehen war zum Teil unmenschlich, würdelos und aus der Zeit gefallen. Bei diesen ganzen Überlegungen und Machbarkeitsdiskussionen hat man andere wichtige Belange der Menschen ausgeklammert. Wir haben manchmal den Schutz vor einer Infektion über alles andere gestellt.
Was meinen Sie damit?
Wolfang Schäuble hat 2020 etwas sehr Wichtiges gesagt: „Wenn ich höre, alles andere habe vor dem Schutz von Leben zurückzutreten, dann muss ich sagen: Das ist in dieser Absolutheit nicht richtig. Grundrechte beschränken sich gegenseitig. Wenn es überhaupt einen absoluten Wert in unserem Grundgesetz gibt, dann ist das die Würde des Menschen. Die ist unantastbar. Aber sie schließt nicht aus, dass wir sterben müssen.“ Damit beschreibt er genau den Balanceakt, dem wir damals nicht immer gerecht geworden sind und den ich in meinem Buch versuche, differenziert darzulegen: Wann sollte der Infektionsschutz Priorität haben und wann sollten womöglich andere Werte oder Rechte in den Vordergrund rücken?
Hätten Sie sich aus diesem Grund gewünscht, dass noch mehr Wissenschaftler und Experten aus anderen Fachgebieten in die Beratungen der Regierung einbezogen werden?
Die kurze Antwort lautet: Ja, unbedingt. Die etwas längere: Die Bekämpfung einer Pandemie hat nur bedingt etwas mit der Virologie zu tun, auch wenn ein Virus die Hauptrolle spielt. Im Kern geht es darum, das Leben zu ermöglichen und gleichzeitig schwere Krankheitsverläufe oder gar Infektionen zu verhindern. Die Entscheidung, ob eine Pandemie vorliegt oder für beendet erklärt wird, basiert maßgeblich auf der kollektiven Wahrnehmung. In diesen Überlegungen spielen soziologische und psychologische Aspekte eine wesentliche Rolle. Es gilt zu erörtern, wie man eine Reduktion der Kontakte in der Bevölkerung erreichen kann, welche Maßnahmen als vertretbar gelten und welche unerwünschten Nebeneffekte auftreten können. Zudem ist zu berücksichtigen, inwieweit Menschen bereit sind, Änderungen ihrer Lebensgewohnheiten zu akzeptieren und umzusetzen. Hierbei sind sogenannte Enablingstrategien von entscheidender Bedeutung. Obwohl die Virologie täglich mit Pandemien und ihren Erregern befasst ist, stellt sie doch nur einen Teil eines umfassenden Systems aus diversem Fachwissen dar.
Wie haben Sie Ihre Rolle als Wissenschaftler während der Pandemie erlebt?
Anfangs gab es auf der einen Seite die Wissenschaft und auf der anderen die Politik. Wir Wissenschaftler waren zunächst beratend tätig. Aber dann wurde das Virus politisch. Die Politik hat irgendwann angefangen, sich hinter wissenschaftlichen Aussagen zu verstecken. Sie hat sozusagen die Wissenschaft vorgeschoben, als Argument für bestimmte Maßnahmen. Das war falsch. Wissenschaftler sollten nur beraten und keine politischen Entscheidungen treffen müssen. Ich habe erlebt, dass sehr viele Fragen an einen herangetragen wurden und wenn man einwandte: „Das ist aber nicht mein Fachgebiet – hier kenne ich mich nicht ausreichend aus“, wurde man trotzdem häufig dazu gedrängt, sich zu äußern. Wichtige Entscheidungen für bestimmte Maßnahmen oder Gegenmaßnahmen sollten aber meiner Meinung nach Politiker und gewählte Volksvertreter treffen. Schließlich leben wir in einer Demokratie und nicht in einer Expertokratie.
Gleichzeitig wurde aber auch immer wieder das Auftreten der Wissenschaft kritisiert. Wie sollten Wissenschaftler daher künftig ihre Erkenntnisse übermitteln? Wie sieht eine gute wissenschaftliche Kommunikation aus?
Während der Coronapandemie wurden wissenschaftliche Ergebnisse und Erkenntnisse häufig als absolute Wahrheiten ausgegeben und so auch von vielen aufgefasst. Wissenschaft ist aber in den seltensten Fällen absolut und Studienergebnisse besitzen in den seltensten Fällen dauerhafte Gültigkeit. Gerade während der Pandemie, als alle unter zeitlichem Druck standen, waren viele Ergebnisse eher von vorläufiger Gültigkeit. Gute wissenschaftliche Kommunikation besteht meiner Meinung nach darin, genau die Einschränkungen offenzulegen. Sie sollte transparent sein und deutlich machen, was gesichert ist und was nicht. Und genauso gehört es dazu, zu sagen, wo die Grenzen der eigenen Expertise liegen, und davon abzusehen, die Politik zu beeinflussen. Aber auch der Wissenschaftsjournalismus spielt eine wichtige Rolle in der Einschätzung von Studien und da kam der abwägende Charakter manchmal zu kurz.
In einer so schwierigen Gemengelage haben diejenigen leichtes Spiel, die Fake News verbreiten. Wie können wir zukünftig verhindern, dass falsche Fakten den Diskurs bestimmen?
Wir brauchen vor allem Institutionen, denen die Bürgerinnen und Bürger vertrauen, und wir müssen aufpassen, dass diese Institutionen deren Vertrauen nicht verspielen. Das gelingt ihnen nur, wenn sie eine gute wissenschaftliche Kommunikation aufrechterhalten und sich an ihren eigenen Standards messen lassen. So können sie aktiv auf Fake News reagieren und die Menschen können sich auf die Informationen von dort verlassen. Institutionen wie das RKI oder die Leopoldina haben leider während der Pandemie einen Teil ihres Vertrauens verspielt. Solche Institutionen sind keine Aktivisten. Die Entwicklung sehe ich als höchst problematisch an. Auch diese Situation muss rückblickend aufgearbeitet werden. Das kostet Energie und es bedeutet, dass Fehler eingestanden werden müssen. Doch nur so kann man Vertrauen zurückgewinnen.
Herzlichen Dank, Herr Streeck, für dieses Gespräch!
Sicher wieder ein realistisches, tolles Buch von Herrn Professor Doktor Hendrik Streeck.???? Ich wünsche Ihm alles, alles Gute!! Ich hoffe ich kann das Buch auch in der Schweiz kaufen!?
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