Namaste Himalaya!
Wie ein Dorf in Nepal mir die Welt öffnete
— Authentischer Erfahrungsbericht eines jungen WeltreisendenNamaste Himalaya! — Inhalt
Gestrandet im Himalaya – wie die innere Reise beginnt, wenn die äußere Reise zum Stillstand kommt
Treffpunkt Himalaya: Hierhin ist der sorglose Weltenbummler Michael gekommen, um seine Reisebekanntschaft Anna wiederzusehen. Monate sind seit ihrer letzten Begegnung vergangen – Monate, in denen Michael Tausende Kilometer immer auf dem Landweg unterwegs war, in China im Kloster gelebt und in Myanmar Waisenkinder unterrichtet hat. Jetzt wollen die beiden Seelenverwandten beim gemeinsamen Trekking herausfinden, ob ihre Beziehung Bestand hat. Pläne sind seit Langem schon geschmiedet, eine Wanderung rund um die Annapurna steht auf dem Programm, die Visa für Indien und Pakistan haben sie bereits in der Tasche. Doch dann überrascht der Lockdown die beiden in Nepal. Als die Polizei die Städte abriegelt, fliehen Michael und Anna in einer überstürzten Fahrt mit dem Motorroller in ein kleines Bergdorf. Dort, zu Füßen der Achttausender, finden sie Zuflucht und ein Wellblech über dem Kopf.
Vom Weg abkommen, um den Weg zu finden: Ein mitreißender Bericht darüber, was passieren kann, wenn man sich auf das Unabänderliche einlässt.
Zunächst haben sie sich nicht viel zu sagen, und im Dorf steht man den Reisenden zunächst ablehnend gegenüber. Dann werden Bettler, Verkäufer und Bergführer zu Nachbarn. Die Nahrung wird knapp, der Hunger zieht ein. Alle müssen aufs Feld, Reis anbauen. Sie teilen Linsen, helfen beim Bau eines Stalls für den Ochsen, lachen über ihre Ungeschicklichkeit und überleben ein schreckliches Unwetter, bei dem Erdrutsche eine Nachbarsfamilie in den Tod reißen. Sie erhalten Einblicke in das Leben einfacher Familien und kommen den Menschen und ihren Einzelschicksalen nah. Dabei wandeln die beiden sich: von Travellern auf ihrem Trip um die Welt, von verunsicherten, in der Fremde Gestrandeten hin zu Schülern einer naturverbundenen, sich in Akzeptanz übenden Lebensphilosophie.
Immer mehr verlagert sich der Fokus von sich selbst auf die Schicksalsgemeinschaft, bei der sie gestrandet sind und deren Teil sie werden. Dabei finden die beiden bislang ungebundenen Eigenbrötler nicht nur echte Freunde, sondern auch die Liebe zueinander.
„Wer eine Weltreise und dabei nicht nur egoistische Motive im Sinn hat, ist gut beraten mit diesem Buch.“ SZ
„Moritz ist ein ebenso fesselndes und unterhaltsames wie lehrreiches Buch über Nepal, aber auch über Freiheit, Familie, Armut, Altern und harte Arbeit gelungen.“ travelwithoutmoving.de
Leseprobe zu „Namaste Himalaya!“
Prolog
7. Februar 2020, an der Grenze zwischen Myanmar und Indien
Ein trockenes Kratzen zieht durch meinen Hals. Ich unterdrücke den Hustenreiz und halte die Luft für einige Sekunden an. Sollte der Grenzsoldat mit dem Maschinengewehr merken, dass ich krank bin, wird er mich erst gar nicht nach Indien reinlassen. Es fühlt sich in diesem Moment schrecklich an, aber ich muss mir meinen Wunsch erfüllen. Ich muss weiter ins nächste Land, um dem Himalaya und somit auch dem Wiedersehen mit Anna einen Schritt näher zu kommen. Doch seit ich mich als [...]
Prolog
7. Februar 2020, an der Grenze zwischen Myanmar und Indien
Ein trockenes Kratzen zieht durch meinen Hals. Ich unterdrücke den Hustenreiz und halte die Luft für einige Sekunden an. Sollte der Grenzsoldat mit dem Maschinengewehr merken, dass ich krank bin, wird er mich erst gar nicht nach Indien reinlassen. Es fühlt sich in diesem Moment schrecklich an, aber ich muss mir meinen Wunsch erfüllen. Ich muss weiter ins nächste Land, um dem Himalaya und somit auch dem Wiedersehen mit Anna einen Schritt näher zu kommen. Doch seit ich mich als Freiwilligenarbeiter in Myanmar mit einem üblen Husten ansteckte, plagt mich eine unterschwellige Angst: Habe ich Corona?
Als ich vor gerade mal einem Monat, im Januar, zum ersten Mal davon hörte, dass sich in China ein Virus auf die Reise machte, hätte ich nie erwartet, dass davon irgendwann mein eigenes Unterwegssein berührt sein würde. Wie bei so vielen Nachrichten, die täglich auf einen einprasseln, hielt ich auch diese Epidemie für etwas, das woanders passiert. Aber eben nicht hier, bei mir. Als Weltreisender ist man halt unterwegs, ja, meist rastlos unterwegs. Kaum irgendwo angekommen, ist man auch schon wieder weg. Mit all dem Elend, den Krankheiten und Krisen, die auf der Welt passieren, kommt man, wenn überhaupt, nur oberflächlich in Kontakt. Man glaubt daher, selbst nicht betroffen zu sein. Das ist wohl eines der vielen Privilegien, die ich als Reisender aus dem reichen Westen in meinem Multifunktions-Trekkingrucksack überall mit hintrage: Ich kann es mir leisten, da zu bleiben, wo es mir gefällt, und zu gehen, sobald es unangenehm wird. Da gibt es also eine Seuche in China? Na, dann lass uns schnell weiterreisen. Raus aus China, rein ins nächste Land!
Der Soldat winkt mich weiter und zeigt auf den Eingang der Grenzstation. Ich öffne die Tür, und der nächste Grenzsoldat mustert mich, bevor er mich grüßt. Ich meine, seine Gedanken lesen zu können: Schon wieder ein reisender Hippie mit zerrissenen Kleidern und viel zu großem Rucksack. Kaum zu glauben, dass ich mich vor wenigen Jahren noch mit glatt rasiertem Gesicht freiwillig in Anzug und Schlips zwängte. Meine gepflegten Zeiten als Banker kommen mir heute sehr weit weg vor. Mit jedem Schritt auf der Karriereleiter wurde auch meine Kleidung informeller, was sich ziemlich befreiend anfühlte. Bei meinem letzten Job bin ich sogar barfuß durch das Büro gelaufen. Nach der Kündigung meines alten Lebens – des Jobs, Mietvertrags, Bausparvertrags, der Lebensversicherung und dem Hergeben all meiner Möbel – machte ich mich frei von den vorherigen Bekleidungsregeln. Heute trage ich stets dieselbe schwarze, mittlerweile von der Sonne ausgebleichte Trekkinghose. Mein Bart hat in diesem Jahr noch keinen Rasierer gesehen, und das darf gerne auch für die nächsten Monate so bleiben. Die schulterlangen blonden Haare sind vom Leben als Nomade, das fast ausschließlich draußen stattfindet, weiß gesträhnt. Die aufgerissenen Löcher im bunt gemusterten Lieblingshemd erzählen von den Strapazen meiner Reise.
Der Soldat lächelt mir freundlich zu, führt seine Handflächen vor der Brust zusammen, beugt sich leicht nach vorne und begrüßt mich mit „Namaste“. Bis dahin kannte ich den Ausdruck bloß als Abschiedsgruß meiner Yogalehrerin in Deutschland. Doch tatsächlich, in Indien grüßt man sich so auch alltäglich auf der Straße. Direkt übersetzt bedeutet Namaste so viel wie „Ich verbeuge mich vor dir“.
Bevor ich nun offiziell in Indien einreisen darf, gibt mir der Grenzposten zu verstehen zu warten. Ich wippe unruhig von einem Fuß auf den anderen. Vor einigen Monaten verließ ich meine Heimat, reiste nach Russland, durchquerte die Mongolei, stand wenig später auf chinesischem Boden und kreuzte in Südostasien alle paar Wochen eine weitere Landesgrenze. Doch im Gegensatz zu den letzten zwölf Grenzübergängen läuft dieses Mal irgendetwas anders.
„Ein Arzt muss überprüfen, ob Sie gesund sind, Sir“, erklärt mir der Soldat. Der Satz wirkt wie ein Schlag gegen meine gereizte Kehle. Ich tauche im selben Moment ab, als würde ich etwas in meinem Rucksack suchen. Tatsächlich verstecke ich das Geräusch meines trockenen Hustens hinter meinem schwarzen Halstuch, das mit einem dicken Knoten an meinem Gepäck befestigt ist. Das alles fühlt sich an, als würde ich gerade illegal in ein fremdes Land einreisen. Der Soldat starrt mich weiterhin an, ohne den Blick einmal abzuwenden.
„Der Nächste, bitte!“, schallt es aus dem Zimmer mit der weißen Tür. Mein Puls rast. Ich begrüße den Mann im weißen Kittel wortlos mit einem kurzen Nicken. Seit Tagen bin ich heiser. Während der letzten Wochen in Myanmar arbeitete ich als Englischlehrer an einer Klosterschule für Waisenkinder. Die Kinder steckten mich nicht nur mit ihrer puren Lebensenergie an, sondern eben auch mit einer hartnäckigen Atemwegsinfektion. Die Erfahrung an der Schule machte mich im doppelten Sinne sprachlos.
Der Arzt nimmt eine weiße Pistole aus der Schublade und drückt sie mir direkt an meine Stirn. Eine rote Zahl blinkt auf, 37,2 Grad. Glück gehabt, wenigstens mein Fieber ist wieder runtergegangen.
„Haben Sie irgendwelche Erkältungssymptome, Sir?“, fragt er mich mit ernstem Blick, als würde es gerade darum gehen, die Ausbreitung einer globalen Pandemie zu verhindern. Wie sehr das zutrifft, ist mir in dem Moment nicht klar. Ich schüttele den Kopf und schäme mich. Zu diesem Zeitpunkt mache ich mir keinerlei Gedanken, was tatsächlich gerade auf dem Spiel steht. Das Bewusstsein für den Ernst der Lage einer Massenerkrankung existiert noch nicht. Ob ich mich selbst möglicherweise in Myanmar mit Corona infiziert habe, werde ich nie herausfinden. Es ist die Angst, irgendwo im Nirgendwo mit einem Husten stecken zu bleiben, die mich antreibt und mich den ersten Inder, den ich treffe, anlügen lässt.
Ich muss es zügig nach Nepal schaffen, denn dort habe ich ein Date mit Anna, die endlich wieder zur Reise mit dazustößt. Unser letzter Abschied vor einem halben Jahr in der endlosen Steppe der Mongolei war schwer; wir hatten nicht die leiseste Ahnung, wann, ja vielleicht sogar, ob wir uns überhaupt wiedersehen würden. Bisher fand unsere Beziehung entweder auf gemeinsamen Reisen statt oder eben in Form einer überkontinentalen Fernbeziehung, inklusive Zeitverschiebung von bis zu acht Stunden; ein normaler Alltag war uns immer fremd.
Kennengelernt hatten wir uns am allerersten Tag meiner lang geplanten Reise auf dem Jakobsweg in Spanien. Ich fand dort meine Seelenverwandte und floh danach dennoch vor meinem alten Leben. Es war ein schwermütiges halbes Jahr, in dem wir uns gar nicht sahen. Sogar seltene Telefonate wurden zur Qual. Was uns nun erwartet, wenn wir uns in Nepal wiederbegegnen, wissen wir beide nicht. Doch eins ist sicher: Wegen eines Hustens an der indisch-burmesischen Grenze hängen zu bleiben und Anna am Flughafen in Kathmandu sitzen zu lassen, wird die Beziehung sicherlich nicht aushalten.
Der taumelige Kampf zwischen Wahrheit und Lüge geht in die nächste Runde.
„Waren Sie während Ihrer Reise auch in China?“, löchert mich der Arzt an der Grenze. Erneut schüttele ich den Kopf, während mir die Bilder der chinesischen Shaolin-Mönche durch den Kopf schießen, mit denen ich einige Wochen zusammenlebte. Vor meinem inneren Auge sehe ich mich wieder als Erntehelfer auf den Feldern des vegan lebenden Klosters ackern, wo ich etliche Schubkarren mit Bananen, Kakis und Sternfrüchten füllte. Bloß wenige Kilometer entfernt und kurz nach meinem Aufenthalt zog von einem Viehmarkt in Wuhan ein winziges Virus los, um die ganze Welt zu erobern.
Während meiner Tagträumereien blättert der Arzt durch meinen Pass. Irgendwo da, zwischen all den gesammelten Stempeln der letzten Länder, prangt auf einer Seite auch die chinesische Flagge.
Ich halte die Luft an, denn ein Hustenanfall kündigt sich an. Mir wird schwarz vor Augen. Schon benebelt höre ich seine Worte: „Willkommen in Indien, Mister Moritz.“
Mit dem Kompass Richtung Ferne
10. Januar 2020
Von keinem anderen Land der Erde wurde mir während meines Unterwegsseins mehr berichtet, keines scheint Reisende so zu polarisieren wie Indien. Es wirkt auf mich wie eine geheimnisvolle, fremde Welt. Ich traf Menschen, die in mit Räucherstäbchen benebelten Höhlen ihre scheinbare Erleuchtung und das wahre Glück fanden. Und andere, die in der Milliardenrepublik schlichtweg verrückt wurden und heute nur noch auf Drogen mit ihrem Leben klarkommen. Mein eigentliches Ziel in Indien war gewesen, irgendwo ein buddhistisches Kloster zu finden, um dort meinen ewig rastlosen Geist zu bändigen. Bis ich dann in Thailand einem buddhistischen Mönch begegnet war, der mich verwundert gefragt hatte, warum ich dafür nach Indien wollte. Dort herrsche doch eher die hinduistisch geprägte Weltanschauung vor und eben nicht der Buddhismus. Ich hatte ja keine Ahnung, was mich auf dieser großen Reise erwartete. Aber so muss es einem wohl ergehen, wenn man überstürzt in die Fremde aufbricht, ohne sich vorher darauf vorzubereiten.
Ich sehe es als ein Privileg der heutigen Zeit, als Spontanreisender ohne einen wirklichen Plan zu reisen. Die Technik macht es möglich: Mit Google Maps kann jeder ein Entdecker sein. Orientierung auf der Reise gibt mir eine in Gedanken gemalte Weltkarte in Schwarz-Weiß-Schattierungen. Über einige Ecken habe ich schon mal gelesen und mir selbst etwas darüber zusammengereimt. Doch die meisten Stellen der Karte sind unbekannt und dunkel. Länder, Landschaften und Ozeane, abgebildet in verschwommenen Graustufen, wie im Toner-Sparmodus gedruckt. Sobald ich jedoch ein Land erreiche, beginnt sie sich mit Farben zu füllen. All die strahlenden Menschen, die mir begegnen, ihre magischen Rituale und die blühende Natur sind wie Malereien, die meine Weltkarte bunt werden lassen.
Das Ziel meiner Reise? Es gibt kein Ziel. Auch wenn mein Kompass eher gen Osten zeigt und mich Asien schon immer neugierig machte, begleitet mich eine Frage, seit ich denken kann: Wo will ich hin? Eine Antwort zu haben würde im selben Moment wahrscheinlich bedeuten, am Ende meiner Reise zu sein. Ein Gedanke, der mich ängstigt. Denn was, wenn Ankommen mit Sesshaftsein gleichzusetzen ist? Eine gruselige Vorstellung.
Nicht selten spielen flüchtige Begegnungen am Wegesrand eine wichtige Rolle, wo die Reise weiter hingeht. In einem Nachtbus in Myanmar treffe ich auf Pieti aus Helsinki. Es sind erst wenige Tage vergangen, seit man mir im thailändischen Waldkloster die ernüchternde Nachricht eröffnet hatte, dass ich im hinduistischen Indien wohl kaum einen buddhistischen Tempel finden würde. Enttäuscht sitze ich im voll besetzten Bus, der die südlichste Stadt Myanmars Kawthaung mit dem nördlicher gelegenen Mergui verbindet.
Die schmale Rüttelpiste durch kurviges Gebirge existiert erst seit wenigen Jahren. Bevor es diese Fernverkehrsroute gab, nahmen reisende Burmesen das Schiff, um von einem Ort in den nächsten zu gelangen. Der Bus braucht für die fast 450 Kilometer über zwölf Stunden. In meinem alten Leben in Deutschland wäre ich mit dem Rennrad wohl noch schneller unterwegs gewesen. An den abrupten Wechsel des Verkehrsmittels haben sich die empfindlichen Mägen der Einheimischen bis heute nicht gewöhnt. Denn den rund fünfzig Burmesen um mich herum geht es trotz Schneckentempo viel zu schnell. Sie übergeben sich immer wieder in schwarze Plastikbeutel. Bloß mein auf deutschen Autobahnen groß gewordener Magen kommt mit den Turbulenzen klar. Und der von Pieti. Ein kleiner, unauffälliger Finne mit Stupsnase sitzt in der ersten Reihe und ist mit mir der einzige Westler und gleichzeitig der einzige nicht kübelnde Fahrgast.
Kurz nach Mitternacht hält der Nachtbus an einem kleinen burmesischen Straßenrestaurant an. Ich bin nicht hungrig, dennoch lotst mich mein Kompass auf die mit bunten Plastikstühlen gesäumte Außenveranda des Restaurants. Was ich suche, weiß ich nicht. Während der letzten Monate und Länder habe ich andere europäische Reisende meistens gemieden, als zu anstrengend empfand ich den Kontakt zu den oft gehetzten Urlaubern. Doch in dieser Nacht geht alles ganz schnell. Ich steuere intuitiv Pietis runden Tisch an. Er sitzt allein, die anderen drei Stühle sind nicht besetzt.
„Ist bei dir noch frei?“ Pieti freut sich über die nächtliche Gesellschaft irgendwo im burmesischen Nirgendwo. Ich erzähle ihm von meiner Zeit in Thailand und den verworfenen Indienplänen. Die Aussage, dass es in Indien keinen Buddhismus gebe, verwundert Pieti.
„Aber du weißt schon, dass im äußersten Nordosten Indiens, in Tawang, das größte buddhistische Kloster außerhalb von Tibet liegt? Es ist ein wundersamer Ort“, entgegnet er. Kein Reiseführer, keine Bewertungsplattform, keine Internetrecherche, nein, ein kleiner sympathischer Finne malt seine eigenen Farbtupfer in meine Weltkarte. Die Begegnung mit ihm ebnet mir meinen weiteren Weg.
23. Februar 2020
Die Route nach Tawang führt mich an einem schwülheißen Februartag über ein kleines Hostel in der indischen Millionenstadt Guwahati in Assam, im Nordwesten des Landes. Es sind noch genau zwei Wochen, bis Anna nach Nepal fliegt. Vier Tage muss ich einplanen, um von Tawang zum Treffpunkt, dem Flughafen in Kathmandu, zu gelangen. Also bleiben mir insgesamt etwa zehn Tage, um den Geheimnissen des Buddhismus auf die Spur zu kommen. Kaum zu glauben. Ganz unverhofft werde ich Tibet nun doch noch sehr nahe kommen. Tawang gehört zum umkämpften indischen Distrikt Arunachal Pradesh. Seit Jahrhunderten erhebt China Anspruch auf das Territorium als Teil des Autonomen Gebiets Tibet. Bis heute führt der schwelende Grenzkonflikt immer wieder zu Militärmanövern auf beiden Seiten der Grenze.
Es ist fünf Uhr in der Früh. Meine Nächte im Hostel habe ich gestern Abend schon bezahlt. Alles, was ich jetzt noch brauche, ist ein Ticket nach Tawang und dringend ein Paar neue Socken. Denn als ich dem Hostelbesitzer gestern von meinen Plänen erzählte, fragte er mich erstaunt: „Du willst echt im Winter in die nordindischen Berge reisen?“ Ja, will ich. Aber in meinem riesigen, hundert Liter fassenden schwarzen Trekkingrucksack sind bloß noch zwei Paar zerrissene Socken. Meine dünnen Sportstrümpfe habe ich vor einem Jahr fast täglich auf meiner langen Radreise zum Nordkap getragen. Sie waren so hauchdünn, dass sie mittlerweile an den Fersen durchgescheuert sind. Auch meine grünen Kniestrümpfe aus Wolle, die ich mir in Norwegen für die bevorstehende Nordkapexpedition zugelegt habe, sind kaputt. Es waren meine Lieblingssocken. Zwischen Moskau, Irkutsk, Ulan-Bator und Peking, auf Wanderungen am Baikalsee, durch die mongolische Steppe und in engen Gassen chinesischer Millionenmetropolen sind sie mir immer weiter aufgerissen. In China fiel dann mein Entschluss, bloß noch barfuß in die Schuhe zu schlüpfen. Der Sommer, dem ich einfach hinterhergereist war, hat es möglich gemacht. Doch nun wartet der Schnee des Himalayas auf mich. Ich brauche dringend etwas Warmes um die Füße.
Als ich über den Gemeinschaftsraum das kleine Hostel Richtung Bahnhof verlassen will, schlafen alle noch. Dann schallt es plötzlich durch den Raum, als hätte jemand eine spontane Erscheinung: „Deuter!“ Ich habe keine Chance. Es ist schon wieder passiert. Denn egal, wohin ich auch reise, an meinem kleinen Extra-Rucksack, den ich zusätzlich zum Hauptgepäck auf der Brust trage, erkennt man mich immer wieder als Deutschen. „Ach, du trägst einen Deuter-Rucksack? Aus welcher Stadt in Deutschland kommst du?“, wird man an den entlegensten Orten dieser Welt entlarvt. Je weiter ich komme, desto mehr scheint es sich zu bewahrheiten: Deuter-Deutsche gibt es überall. Es gibt keine Steppe, keine Wüste, kein Gebirge und vor allem kein Hostel, wo man nicht auf Deutsch sprechende Backpacker trifft.
„Reist du schon ab?“, fragt mich der junge Kerl mit kahl rasierten Schläfen und blondem Springbrunnen-Zopf mitten auf dem Kopf direkt auf Deutsch.
„Nee, ich will heute nach Tawang. Aber dort liegt noch Schnee, und ich brauche unbedingt noch ein Paar warme Socken aus der Stadt“, erzähle ich ihm.
Er lacht laut und greift zu seinem dunkelgrünen, ausgefransten Deuter neben ihm auf der Couch.
„Mir ging es genauso. Ich reiste ohne Socken. Aber jetzt geht’s mit dem Zug nach Nepal in die Berge. Hier, nimm dir gerne ein Paar, ich komme auch nur mit einem klar“, übergibt er es mir freudestrahlend. Die Wolle fühlt sich weich an. Verrückte Begegnung. Da schickt mir das Universum in aller Früh doch glatt ein Paar neue Socken von einem Deuter-Deutschen.
Mit einem Schmunzeln verlasse ich die Unterkunft. Ich gehe zu Fuß zum Bahnhof, denn die kleinen grün-weißen Stadtbusse sehen auch um diese Tageszeit schon überfüllt aus. Müde und halb in Trance trotte ich durch die lärmenden Gassen. Mein riesiger Rucksack überragt meinen Scheitel wie immer um etwas mehr als eine Kopfhöhe. In diesem Zustand noch das Gleichgewicht zu halten, ohne umzufallen, ist das Ergebnis von monatelangem Training. Meine ausgefransten Kung-Fu-Schuhe erschweren das Vorhaben, heil durch die Straßen der indischen Metropole zu kommen. Die Schuhe, die ich letztes Jahr im chinesischen Shaolin-Kloster geschenkt bekam, ehe sie allerdings in Myanmar von hungernden Straßenhunden halb zerfressen wurden, hängen mittlerweile wie Badelatschen locker an meinen Füßen. Die hintere Kappe, welche normalerweise die Ferse umschließt, ist nach unten umgeklappt, sodass ich einfach in die Treter rein- und rausschlüpfen kann.
Auch an diesem Morgen schleifen die Schuhsohlen wieder Schritt für Schritt, wie zwei asiatische Langlaufski, ohne auf dem staubigen Boden von Guwahati ein einziges Mal den Bodenkontakt zu verlieren. Der Untergrund des Gehwegs besteht aus breit gegossenen, gelbgrauen Betonplatten. Ungefähr bei jedem vierten Schritt folgt nach einem kleinen Spalt die nächste Betonplatte. Meistens sind die Platten nicht gleich tief im Boden versenkt. Eine ist höher, die nächste wieder tiefer. Was auf den ersten Blick harmlos wirkt, wird zur Stolperschwelle für mich gepäckbeladenen, reisenden Esel.
An meinen Zehen spüre ich den harten Widerstand der nächsten Platte, ich strauchele. Die dreißig Kilo auf meinem Rücken drücken mich mit aller Gewalt Richtung Boden. Den harten Aufprall federe ich mit meinen Händen und Knien ab. Winzige Steinchen schieben sich in meine aufgeschürfte Hand. An den Knien rinnt Blut durch meine durchlöcherte Trekkinghose.
Es dauert bloß wenige Sekunden, ehe sich ein spontanes Publikum um mich einfindet. Eine kleine indische Arena, bestehend aus starrenden, reglosen Männern. Die Nachricht von meinem Sturz scheint sich wie ein Lauffeuer verbreitet zu haben. Während die Zuschauer meinen Versuch aufzustehen gebannt beobachten, kauen sie auf ihren Betelnüssen herum. Die stimulierende Arbeiterdroge Indiens regt einen blutrot gefärbten Speichelfluss an, von dem die Männer sich durch ständiges Auf-die-Straße-Spucken befreien. Bei regelmäßigem Konsum der Kaugummi-Nüsse nimmt auch die sonst weiße Farbe der Augenhaut ein feuerrotes Schimmern an. Ein gruseliges Erlebnis, die Umstehenden scheinen wie Geister durch den Geruch meines Blutes angezogen worden zu sein. Um mich herum markieren sie mit ihrer Spucke einen roten Ring, in dem ich vor wenigen Momenten k. o. in die Knie ging.
Ich muss hier raus, weg von diesen quälenden Blicken. Ich stemme mich nach oben. Der wackelige Turm auf meinem Rücken schwankt hin und her. Im Storchenschritt bahne ich mir meinen Weg durch die starrende Menge, raus in Sicherheit.
Ich erreiche schließlich die mit hupendem Verkehr verstopfte Hauptstraße. An den Stadtbussen hängen in den offenen Türen dürre Männer, die laut irgendetwas durch die Straßen rufen. Wie Marktschreier der verschiedenen Linien und unterschiedlichen Fahrtrichtungen versuchen sie sich in der Lautstärke gegenseitig zu überbieten. Motorräder schlängeln sich überall da hindurch, wo sich kurz ein schmaler Spalt auftut. Auch der Gehweg wird für die waghalsigen Manöver benutzt. Die Fahrer der vielen Rikschas und Fahrräder scheinen sich im Chaos aufs nackte Überleben zu konzentrieren. Und die Heerscharen an Tuk-Tuk-Fahrern legen nicht mal eine Armlänge weg von mir gezielte Vollbremsungen hin, um mir im nächsten Moment schreiend die für überforderte Reisende wohl penetranteste aller Fragen „Tuk Tuk?“ an den Kopf zu werfen.
Spätestens nach dem fünfzigsten aufdringlichen Taxi-Tuk-Tuk würde ich nichts lieber, als einfach noch lauter zurückzuschreien: „Verschwinde, verdammt noch mal, mit deinem blöden Tuk Tuk! Ich habe zwei Beine und bewege mich damit dreimal schneller fort als jedes stinkende, im Stau stehende Tuk Tuk!“ Doch stattdessen ignoriere ich den Fahrer, so gut es geht.
Im Weitergehen versuche ich, alle Eindrücke zu verarbeiten. Wie kann es an einem Ort eigentlich derart nach Kot und Verwesung riechen, während in derselben Straße Menschen bei ohrenbetäubendem Lärm inmitten giftiger Abgase mit ihren Händen essend den Reis zum Frühstück genießen? Eine Antwort scheint hier keiner für mich zu haben. Denn die Menschen reden nicht mit mir. Nein, sie starren mich nur unentwegt kauend an. Ich manövriere weiter im Slalom um riesige weiße Säcke herum, gefüllt mit getrockneten Kichererbsen, Linsen, Reis, Hirse und Chili, welche den Gehweg bis zum Bahnhof immer wieder versperren.
Als ich die verglasten Ticketschalter des Bahnhofs erreiche, merke ich, dass sie alle geschlossen sind. Ich halte dennoch Ausschau nach dem Schild mit der Aufschrift Guwahati to Tawang. Neben Hindi ist Englisch die zweite Amtssprache – ein Vorteil der unglaublichen Größe Indiens. In der Republik leben etwa sechzehnmal so viele Menschen wie in Deutschland. Aber dennoch, auf Englisch funktioniert die Verständigung hier fast überall einwandfrei.
An jedem Ticketschalter hängen ungefähr zwanzig verschiedene Ausdrucke mit möglichen Verbindungen. Doch meine finde ich nicht. Stattdessen sehe ich hinter einer Glasscheibe einen älteren Herrn, den Kopf weit in seinen Schoß geneigt, als würde er sich verstecken wollen.
„Entschuldigen Sie, Sir?“, versuche ich ihn aus seiner Versenkung zu lösen. Vergebens, das Handy zwischen seinen Beinen ist offenbar interessanter als ich. Noch einmal klopfe ich energischer gegen die Scheibe: „Sir, ich brauche ein Ticket, Guwahati to Tawang.“
Ohne aufzusehen, kontert er: „Keine Tickets, rufen Sie hier an.“ Mit dem Zeigefinger zeigt er auf eines der vielen bedruckten Blätter an der Scheibe. Ich ziehe mein Handy aus dem Deuter-Rucksack auf meiner Brust, in dem sich meine wertvollsten Gegenstände befinden, wähle die Nummer, und jemand nimmt den Anruf entgegen. Keine Chance – ich höre zwar, dass der Mann am anderen Ende der Leitung Englisch spricht, aber durch den indischen Akzent und die Geschwindigkeit verstehe ich dennoch kein Wort.
„Können Sie das bitte noch einmal langsam wiederholen?“ Der Mann zeigt sich zuerst geduldig und wiederholt seinen Satz noch zweimal für mich. Doch in genau dem gleichen Tempo. Die wichtigsten Brocken kann ich mir zusammenreimen: „Abfahrt sechs Uhr, hinter dem Bahnhof.“
Ich verlasse die Verkaufshalle und nehme die Überführung, um hinter den Bahnhof zu gelangen, als mich plötzlich etwas am Bein packt. Mein Gepäck auf dem Rücken lässt mich erneut schwanken. Um nicht hinzufallen, versuche ich einfach weiterzugehen. Einen Schritt nach dem anderen. Der Blick hinunter zu meinem linken Bein macht allerdings abrupt all meine Vorsätze zunichte. Ein kleines, von der Sonne dunkel gebräuntes Mädchen, mit schulterlangen Locken und bloß einem dreckigen weißen Leinenkleid bekleidet, hängt fest an meinem Bein. Sie starrt mich mit ihren rehbraunen Kulleraugen an und klammert sich dabei mit beiden Armen fest an meinen Oberschenkel. Mit ihren nackten Füßen steht sie auf meinen halb zerfetzten Kung-Fu-Latschen. Unsere Haut berührt sich an einer Stelle.
In mir steigt eine diffuse Angst auf. Ich fürchte mich vor dem bettelnden Mädchen. Ich weiß mir nicht anders zu helfen und versuche, mit dem kleinen Körper am Bein weiterzulaufen. Schritt für Schritt wehre ich mich gegen das, was gerade passiert. Und dann die Erlösung. Ein mit Anzughose und Hemd bekleideter Inder, der kaum älter ist als ich, scheint meine Verzweiflung zu spüren, packt das Mädchen fest am Arm, reißt es weg von mir, schreit es laut an und schubst es weg. Ich bin erstarrt, bloß noch meine Beine tun das, was sie am besten können: weitergehen. Ich drehe mich nicht einmal um. Ein grünweißer Bus biegt vor mir in die Straße ein, mit einem dürren Mann in der offenen Tür, der die immer gleichen Wörter in die Dämmerung der Stadt brüllt. Ein Motorrad kreuzt den Gehweg, um auf dem Schotterplatz neben mir zu parken. Ein gelbes Tuk Tuk bremst mich einen Moment lang aus. Der Fahrer streckt seinen Kopf aus dem Dreirad und fragt emotionslos: „Tuk Tuk?“
Ist es das, was ich als Kind der westlichen Gesellschaft gelernt habe? Dem Leid mit Ignoranz zu begegnen? Auf die Hilflosigkeit des Mädchens reagierte ich mit einem spontanen Stoßgebet, dass es doch einfach aus meinem Leben verschwinden möge. War ich nicht selbst gerade eben noch Kind? Ein Kind jener Generation, welcher vieles ermöglicht und wenig verboten wurde. Erzogen, um die Welt zu erobern. Aufgewachsen in einer Familie des Mittelstands, mit Überfluss als zentralem Merkmal. Urlaube verschwommen ineinander, zu viel gekochtes Essen lag in der Mülltonne, und Plastikspielzeug stapelte sich bis zur Decke des Dachbodens.
Und ich weiß nicht einmal, was das Mädchen wirklich wollte. Hat es gebettelt, war es in Not, wurde es bedroht? Doch ich will es nicht wissen. Zu unangenehm ist der ewige Konflikt, das Elend zu sehen und doch nichts dagegen zu tun. Meine reisende Seele will davon nichts hören.
Ich betrete einen großen asphaltierten Platz, der voll ist mit gehetzten Menschen und einigen wartenden Bussen. Vor einem läuft ein Mann hektisch hin und her. Er scheint der Busfahrer zu sein, telefoniert und wedelt zornig mit den Händen. Vor ihm bleibe ich stehen, um auf das Ende des Telefonats zu warten. Dann wendet er sich mir zu und zieht kurz seine Augenbrauen hoch, um mich zum Reden aufzufordern.
„Ich möchte nach Tawang“, fasse ich mich kurz, um ihm keine Zeit zu stehlen.
Er kontert: „Kein Tawang. Tawang erst nächste Woche wieder.“ Er dreht sich weg, weiter mit Telefon am Ohr.
„Sir, am Ticketschalter sagte man mir …“, stammele ich und merke, wie ich wütend werde. Mit einer kleinen Geste seiner offenen Hand und einem leichten Kopfschütteln gibt er mir zu verstehen, dass er mir nicht weiterhelfen wird. Frustriert verlasse ich die Haltestelle und gehe weiter zum nächsten Bus. Der Betelnuss spuckende Fahrer, der an der Seite gerade die Gepäckklappe zuhaut, schenkt mir einen kurzen Blick aus blutunterlaufenen Augen.
„Bus nach Tawang?“
Seine Antwort fällt ähnlich flüchtig aus: „Tickets am Schalter.“
Ich bleibe hartnäckig: „Sir, gibt es einen Bus nach Tawang?“ Und ernte ein erneutes Kopfschütteln. Man ignoriert mich, ich gebe auf.
Frustriert setze ich mich auf die Bordsteinkante einer kleinen Seitenstraße des Bahnhofsvorplatzes. In der Ferne, zwischen all den angespannten Menschen, sehe ich hinter einem Anhänger, der von einem Ochsen gezogen wird, das weiße Kleid des bettelnden Mädchens und seine nackten Füße.
„Tawang, Tawang, Tawang!“, schallt es plötzlich über den ganzen Bahnhofsvorplatz, während einer der weißer Sumos, wie die indischen Allradjeeps genannt werden, langsam in die Straße rollt. Ich schrecke auf: Tibet, mein Kindheitstraum! Mein Blick geht weg vom Mädchen zum Fahrer des Wagens, der erneut seinen Kopf aus dem Fenster streckt: „Tawang, Tawang, Tawang!“
Nach etwa sechs Stunden ohne Pause ist es so weit: Shiva, der Fahrer, entpuppt sich als Betelnuss-Suchti. Seine Augen sehen müde aus. Statt für einige Minuten anzuhalten, beißt er hektisch auf der blutroten Nuss herum und spuckt immer wieder aus dem Fenster. Der Fahrstil wird rasanter. Dann dreht er das Radio laut, dieses Mal ertönt indische Schlagermusik. Streicher spielen für meine Ohren schräg klingende Töne, eine mit einzelnen Fingern gespielte Trommel setzt schwungvoll ein. Der Takt kommt leicht versetzt, ein pulsierender Rhythmus entsteht.
Meine Blicke wandern über die weiß bedeckten Gipfel, die uns umgeben. Ich bin zum ersten Mal im Himalaya. Das Dach der Welt ist nun zum Greifen nah. Die Berge scheinen den tiefblauen Himmel zu berühren. Alles kahl, so weit das Auge reicht. In der Ferne quält sich eine Herde Yaks die Steilhänge hoch, auf der Suche nach Nahrung. Hier oben wächst nichts außer ein paar gelbgrünen Grashalmen. Der grauenhafte Zustand der Straße ist wenig überraschend, so ausgesetzt, wie der Weg hier verläuft. Der Belag wechselt ständig zwischen Pfützen und Schotter. Eine Serpentinenstraße führt uns hinauf zum über 4170 Meter hohen Sela-Pass.
Spätestens jetzt ist es Gewissheit, was ich schon länger ahnte: Gesetzliche Lenkzeiten wie in Deutschland gibt es hier nicht. Pausen braucht der Fahrer auch nach zehn Stunden keine zu machen, denn er hat ja die stimulierende Betelnuss im Mund. Seit Stunden habe ich bis auf meinen Kopf noch kein einziges Körperteil bewegt, wir sitzen zu viert hinten auf einer Rückbank im Kofferraum. Zwischenzeitlich waren zwölf Personen in diesem Auto. So viele, dass Shiva für einige Kilometer sogar auf dem Schoß eines Fahrgastes sitzen musste, um seinen Sumo zu lenken. Nun sind wir wieder zu elft. Es ist immer noch so eng, dass Shiva den Schaltknüppel zwischen den Beinen seines Nebenmannes betätigen muss. Dass unser Fahrer ausgerechnet wie einer der wichtigsten Götter des Hinduismus heißt, ist eine Ironie des Schicksals. Welchen Weg das Schicksal heute nimmt, scheint dennoch noch nicht entschieden zu sein – Shiva bedeutet nämlich einerseits „der Glückverheißende“, andererseits ist er auch als „der Zerstörer“ bekannt.
Das Tempo nimmt zu, während wir auf die nächste 180-Grad-Kurve zurasen. Beim Wagen vor uns sehe ich, dass er die Kurve bloß auf den beiden äußeren Rädern nimmt. Der Wagen scheint jeden Moment zu kippen, als ich spüre, dass auch unser Sumo auf der Innenseite die Bodenhaftung verliert. Doch ich habe keine Wahl. Shiva mit ernsten Worten zu erklären, wie unverantwortlich er als Fahrer doch handelt, während die restlichen zehn Passagiere tiefenentspannt und träumend aus dem Fenster starren, kommt nicht infrage. Stattdessen schließe ich die Augen und warte, bis mich in der nächsten Kurve das Gewicht meiner drei Sitznachbarn wieder gegen die Fensterscheibe drückt.
Dann fängt plötzlich alles an zu rumpeln. Shiva bringt das Auto zum Stehen. Zwangspause, alle aussteigen. Ich sehe, was passiert ist. Der hintere linke Reifen scheint nach der letzten Kurve geplatzt zu sein. Langsam gehe ich um den Wagen herum und stelle fest, dass keiner der Reifen mehr Profil hat. An manchen Stellen ist sogar der letzte Rest des schwarzen Gummis schon verschlissen, und die weiße Innenschicht kommt zum Vorschein. Wäre der Reifen dreißig Meter früher geplatzt, wären wir wahrscheinlich im freien Fall in die Hunderte Meter tiefe Schlucht gestürzt. Doch aus irgendeinem Grund scheint keiner der anderen Fahrgäste meine Aufregung zu teilen. Alle warten entspannt, bis es weitergeht. Ist es der Glaube, der meine Mitinsassen so ruhig bleiben lässt? Stehen in ihren Augen die Kapitel im ewigen Kreislauf des Lebens bereits geschrieben? Oder nimmt ihnen das Vertrauen in die Wiedergeburt ihre Angst vor dem Tod?
Jeden Tag kurz nach Sonnenaufgang bringen unzählige Fahrer dieser weißen Geländewagen viele Dutzend Menschen lebend über diesen Pass. Doch ich frage mich, werde ich heute einer von ihnen sein?
Später muss Shiva wieder anhalten, dieses Mal, um Schneeketten auf die abgefahrenen Reifen zu ziehen. An schneereichen Tagen wird die Route auch schon mal komplett gesperrt, erzählt der Fahrer. Und die Passstraße ist Tawangs einzige Verbindung zur Außenwelt, denn die Stadt liegt eingekesselt zwischen dem Königreich Bhutan und China.
Im Schneesturm geht es bloß im Schritttempo weiter. Wenigstens kann der Wagen in der Kurve jetzt nicht mehr umkippen. Als wir kurz vor Mitternacht die auf fast 3000 Metern gelegene Stadt Tawang erreichen, habe ich seit achtzehn Stunden in der linken hinteren Ecke des weißen Geländewagens gesessen. Shiva hat uns fast ohne eine Pause sicher zum Ziel gebracht. Klar bin ich am Leben – daran hegte doch, außer mir, niemand ernsthaft Zweifel?
Es ist mitten in der Nacht. In der Straße, in der eigentlich mein Hotel sein sollte, scheint alles geschlossen zu sein. Die Stadt ist wie ausgestorben. Ich rufe die Telefonnummer an, die in der Buchungsbestätigung steht.
Der freundliche Inder, der drangeht, weiß auf Anhieb, wer ich bin: „Warte zehn Minuten, dann bin ich am Hotel.“
Um mir die Zeit bis zu seiner Ankunft zu vertreiben, bleibe ich in Bewegung. Mit dem Rucksack auf dem Rücken gehe ich die schmale Straße, in der kein einziges parkendes Auto steht, hoch und runter, um mich aufzuwärmen. Ich schätze, es ist weit unter null Grad kalt. Der Schnee, der fällt, bleibt liegen.
Nach Minuten des Wartens biegt ein junger Kerl am anderen Straßenende um die Ecke und trabt mir mit großen Schritten entgegen.
Leicht aus der Puste begrüßt er mich: „Namaste, mein Freund, ich bin Rahul!“ Er redet ohne Unterbrechung drauflos: „Pass auf, mir ist leider ein kleiner Fehler unterlaufen.“ Ab morgen feiern die Menschen in Tawang Losar, das tibetische Neujahrsfest. Rahul erklärt mir, dass deshalb die meisten Einheimischen für zwei Wochen in die Berge fahren, um das Fest der Familie mit allen Verwandten zu feiern. Eigentlich wollte er das Hotel in der Stadt währenddessen geschlossen halten, denn normalerweise kommen um diese Jahreszeit keine Touristen, allerdings hat er dummerweise vergessen, seine Zimmer aus den Buchungsportalen rauszunehmen.
Mist, ich fühle mich nicht willkommen und entgegne: „Kein Problem, morgen früh suche ich mir eine andere Bleibe.“
Rahul zieht seine dunklen Augenbrauen hoch. „Bruder, du wirst nichts finden.“ Alles ist in diesen Tagen geschlossen. Hotels, Restaurants, Märkte – jeder ist bei der Familie.
Rahul nennt mir zwei Optionen, um die Situation zu lösen. Entweder schicke er morgen früh seinen Cousin vorbei, der eh keine Lust auf die Familie habe. Der könne den ganzen Tag für mich hier sein, mir das Tor öffnen, heißes Wasser bringen und den Generator anwerfen, falls ich Strom bräuchte. Dann hätte ich für circa dreißig Minuten Licht. Rahul meint, ich könne so lange bleiben, wie ich will. Option Nummer zwei, er organisiere mir für morgen ein privates Taxi, welches mich ins anderthalb Stunden entfernte Jang bringe.
„Du bist eingeladen, unser Gast, und feierst einfach mit uns ins neue Jahr.“
Alles, was ich dafür bräuchte, sei eine ordentliche Portion Trinkfestigkeit. Denn Rahuls Uropa brennt noch seinen eigenen Schnaps. Neujahr bedeutet in Rahuls Familie, sich zwei Wochen lang zu betrinken. Er lacht laut auf und klopft mir voller Vorfreude auf die Schultern. Unglaublich, der kennt mich seit zwei Minuten, und schon bin ich für das Fest der Familie mit eingeplant. Dennoch bin ich überfordert, mitten in der Nacht, nach achtzehn Stunden Fahrt, eine Entscheidung zu treffen.
Rahul spürt meine Verunsicherung: „Keine Sorge, komm erst einmal an, schlaf eine Nacht, und schreib mir morgen, wie es aussieht.“
Mit beiden Händen zerrt er kräftig am verrosteten Rolltor des Hotels und zieht es mit einem ohrenbetäubenden Krachen nach oben auf. „Ich muss das Tor für die Nacht leider wieder hinter dir absperren“, erklärt er, während wir die Treppe zur ersten Etage hinaufsteigen. Die einzige Lichtquelle im dunklen Flur ist Rahuls Handydisplay, mit dem er uns den Weg leuchtet. „Mit dem Generator hast du für eine halbe Stunde Strom.“ Rahul erklärt, dass wegen einer Baustelle alle benachbarten Häuser bis nach den Feiertagen keinen Strom hätten. Mit einem Ruck startet er die mit Benzin betriebene Maschine. Es hört sich an, als würde ein indischer Lkw, dem gerade der Auspuff abgefallen ist, durch den Hotelflur rattern. Doch wenigstens ist es nun hell. Zum ersten Mal blicke ich in Rahuls rote, glasige Augen, die mich fragend anschauen.
„Brauchst du heute noch etwas?“
„Schlaf“, kontere ich einsilbig.
Der Countdown läuft; während ich eine Etage tiefer das Schließen des krachenden Rolltors höre, ist die erste Minute der Helligkeit bereits vorbei. Als wäre die lange Autofahrt im Käfig nicht genug gewesen – jetzt bin ich schon wieder eingesperrt. Der Generator dröhnt. Eine Heizung im Raum suche ich vergebens. Im Fenster des Badezimmers ist nicht mal Glas drin. Da ist einfach nur ein großes rechteckiges Loch in der Wand. Durch die etwa einen Meter fünfzig breite und einen Meter hohe Öffnung weht kalte Luft herein.
Aus dem untersten Fach meines Trekkingrucksacks ziehe ich meinen Ultralight-Sommerschlafsack raus und lege ihn unter die noch dünnere Bettdecke. Auch meinen Kleiderbeutel mit meinen dickeren Sachen krame ich aus dem Rucksack. Ich hole meinen sandfarbenen Pullover aus Yakwolle und die lange Unterhose aus Kamelwolle heraus. Über meine nackten Füße streife ich die schwarzen Wollsocken, die ich im Hostel in der Stadt geschenkt bekommen habe. Beim Zähneputzen drehe ich den Drehknopf für das warme Wasser auf, vergebens. Das Warmwasser tropft nicht einmal. Die Entscheidung ist gefallen, während meiner Zeit in Tawang wird mich ganz sicher keine Dusche nackt sehen.
Die Winter hier sind hart. Nicht mal die Einheimischen mögen diese Jahreszeit, die eigentlich Trockenzeit bedeutet und in der die Temperaturen auch tagsüber oft unter null Grad bleiben. Im Gegensatz dazu sind die Sommer in Tawang feucht und mild.
Ich liege im Bett, das durch meine eigene Körperwärme sogar schon etwas aufgewärmt ist, als sich der Generator und eine Sekunde später das Licht verabschieden. Stille kehrt im Zimmer ein. Bloß noch durch das Loch im Badezimmer zischt Wind herein. Ich schließe meine Augen, aber ich schlafe nicht in dieser Nacht. Tibet feiert ab morgen das Fest der Familie, und ich liege Tausende Kilometer weg von zu Hause eingesperrt in einer kalten Geisterstadt im Bett.
Beim letzten Fest der Familie meines eigenen Kulturkreises, dem Weihnachtsfest vor zwei Monaten, saß ich auf einer thailändischen Insel und verdrängte meine Gedanken an daheim ganz rituell in einer einwöchigen Schweigemeditation. Dort, wo Denken bei der meditativen Praxis stört, wuchs die Distanz zu den Liebsten in Deutschland. Der einzige Zugang zur Heimat, mein Handy, lag versperrt in einem Schrank des Klosters. Ich hatte meine Wohnung, Versicherungen und Job gekündigt, das meiste verschenkt oder verkauft und meinen Freunden monatelang den Rücken zugekehrt, doch an Weihnachten nicht heimzukommen war wohl die größte Abnabelung von meinem alten Leben.
Mein Weg, der mich bis fast nach Tibet führte, hatte früh begonnen. Es muss Weihnachten kurz nach der Jahrtausendwende gewesen sein. Ich war elf, zwölf Jahre alt. Geschenke gab es wie immer im Übermaß. Ein buntes Meer aus Geschenkpapier, leuchtenden Lichtern und im Hintergrund vertrauten Liedern. Es fing am ersten Weihnachtstag an, als ich als Playmobil-Lokführer meiner neuen Modelleisenbahn auf eine Reise ging.
Mein Bruder fragte mich aufgeregt: „Wo geht die Reise hin?“
Ich blätterte Seite für Seite im Kinderatlas, der neben mir lag. „Nach Tibet!“
Das Vorhaben misslang. Ich musste feststellen, Asien war zu fern. Die Fremde musste warten. Aus dem mit Playmobil spielenden Jungen mit seiner sandfarbenen Hose und dunklem Lederhut wuchs ein junger Mann heran. Gute Noten in der Schule bedeuteten die Aussicht auf ein gutes Leben, gutes Einkommen, auf eine glückliche Familie, darauf, ein Haus zu bauen, Urlaub zu machen. Die Reise zum Dach der Welt verschob ich vorerst auf später. Das Gebot der Stunde hieß Anpassung. Ich machte mein Abi, wurde Bankkaufmann und studierte Betriebswirtschaftslehre. Ich tauschte das Zugticket der Playmobil-Eisenbahn gegen einen Autoschlüssel, die Trekkinghose gegen die Anzughose und begab mich in die Hände der Algorithmen von Google, YouTube und Facebook. Meine Reise nach Tibet rückte in immer weitere Ferne und machte viele Umwege. So viele, dass mir Tinnitus, Magenschmerzen und Angstzustände die kindliche Lust am Reisen nahmen. Ich wollte nicht mehr nach Tibet. Frust wuchs, ich wurde müde.
Ich bin unendlich müde, und dennoch kriege ich in dieser eiskalten Nacht im verlassenen Hotel kein Auge zu. Mittlerweile dürften es im Raum minus zehn Grad sein. Mein Weg, der mich in dieses verlassene Hotel im indischen Hochland führte, hat mich ausgelaugt. Nun bin ich endlich hier, und alles ist anders als erwartet. Um dem oft fehlenden Elan auf meiner Reise entgegenzuwirken, hatte ich irgendwann beschlossen, keine einzige Einladung von Einheimischen mehr abzulehnen. Doch die Aussicht, das Fest der Familie zwei Wochen lang mit Rahuls betrunkener Verwandtschaft zu feiern, lässt mich zweifeln. Ich erinnere mich an meine Zeit in Vietnam.
Ich sollte als Freiwilligenarbeiter auf einer Kaffeeplantage in den Bergen helfen. Was ich als Kaffeetrinker des Westens nicht wusste: Das Land am Südchinesischen Meer ist eine begeisterte Kaffeenation. Zur Kolonialzeit erkannten die Franzosen die optimalen Wuchsbedingungen. Heute ist Vietnam zweitgrößter Kaffeeproduzent der Welt, wobei der Anbau hauptsächlich auf traditionelle Weise von Familien auf kleinen Plantagen betrieben wird. In genau so einem Familienbetrieb landete ich für mein Volunteer-Projekt. Der Vater und Chef des Betriebs zerstörte jedoch eines Nachts im Suff alle Pflanzen der Plantagen. Statt Kaffeebohnen zu pflücken, schob ich als Handlanger die Schubkarren für den Neubau eines Hauses. Jeden Abend verlangten die Männer der Familie, mich mit ihnen mit hochprozentigem Schnaps zu betrinken. Ich lehnte ab und hatte einen schweren Stand. Mein Dilemma war groß. Denn wo ich während meiner Reise auch hinkam, ich wollte meinen Gastgebern Respekt und Offenheit in Form von Anpassung an ihre Rituale bekunden. Ich sang in Russland Karaoke, obwohl ich Karaoke hasse, ich aß Käse in der Mongolei, obwohl ich sonst vegan lebe, und ich fuhr Motorrad in Vietnam, obwohl ich nicht mal einen Führerschein für Zweiräder habe. Doch mit Alkohol tat ich mir schwer. Nach vier Tagen guter Miene zum bösen Spiel beichtete ich dem vietnamesischen Vater mein Unwohlsein und reiste ab.
Meine Motivation, nun das tibetische Neujahr mit selbst gebranntem Schnaps und einer besoffenen Familie zu verbringen, hält sich stark in Grenzen. Die Entscheidung fällt in meiner schlaflosen Nacht im Hotel: Ich werde Rahuls Einladung nicht folgen.
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