Nanga Parbat - eBook-Ausgabe
Wahrheit und Wahn des Alpinismus
Nanga Parbat — Inhalt
Der Nanga Parbat, der „Schicksalsberg der Deutschen“: In einer gekonnten Mischung aus Bergreportage und Hintergrundschilderung, gestützt auf zeitgenössische Berichte, Briefe und Tagebücher, erweckt Ralf-Peter Märtin ein packendes Kapitel des Abenteuers Berg zum Leben und erzählt die Geschichte des Alpinismus neu: tödliche Dramen von Ehrgeiz und Eitelkeit – und von übermenschlicher Kraft und Leistung zugleich. Vom ersten Versuch des Engländers Mummery mit Tweedjacke und Hanfseil zum „alpinen Stalingrad“ des Dritten Reichs, vom Triumph des Erstbesteigers Hermann Buhl 1953 zur Tragödie der Messner-Brüder und darüber hinaus.
Leseprobe zu „Nanga Parbat“
AUFSTIEG
Als ich nach fünf Wochen das Diamir-Tal verließ, konnte ich kein Geröll mehr sehen. Das ewige Braun und Grau der schottrigen Berge hing mir zum Hals heraus. Das Donnern der Lawinen nahm ich nicht mehr wahr. Das Weiß der Gipfel der Ganalo- und Mazeno-Kette brannte in meinen Augen. Am Beginn der Schlucht, durch die der schmale Pfad zum Indus hinunterführt, drehte ich mich noch einmal um: Von ungeheurer Massigkeit, hoch, steil, eisgepanzert, wuchtete die Westflanke des Nanga Parbat in einen stahlblauen Himmel. Der letzte Schein der untergehenden [...]
AUFSTIEG
Als ich nach fünf Wochen das Diamir-Tal verließ, konnte ich kein Geröll mehr sehen. Das ewige Braun und Grau der schottrigen Berge hing mir zum Hals heraus. Das Donnern der Lawinen nahm ich nicht mehr wahr. Das Weiß der Gipfel der Ganalo- und Mazeno-Kette brannte in meinen Augen. Am Beginn der Schlucht, durch die der schmale Pfad zum Indus hinunterführt, drehte ich mich noch einmal um: Von ungeheurer Massigkeit, hoch, steil, eisgepanzert, wuchtete die Westflanke des Nanga Parbat in einen stahlblauen Himmel. Der letzte Schein der untergehenden Sonne ließ das Gipfeltrapez golden aufflammen. Die tieferen Regionen versanken in abweisender Dunkelheit. Das Spiel des Lichtes, in den Alpen für eine Kitschpostkarte gut, hatte hier im Himalaja nichts Malerisches. Der Berg lockte und drohte zugleich. Wie ein spöttischer Gruß zum Abschied flackerte noch einmal Helligkeit um den höchsten Grat des „Königs der Berge“. Plötzlich wußte ich: Ich würde wiederkommen.
Zwei Träger hatten meine Bücher und eine alte mechanische Schreibmaschine ins Basislager geschleppt. Ich las bei strömendem Regen und bei brütender Hitze. Manchmal war es so kalt, daß ich meine Notizen mit Handschuhen tippte. Zurückgekehrt nach Europa, fesselte mich das Thema immer mehr.
Kein Berg hat eine so bewegte Geschichte wie der Nanga Parbat. Er war der erste Achttausender, den man zu besteigen versuchte. Man schrieb das Jahr 1895, und der beste Kletterer Englands, Albert Frederick Mummery, besaß die ungeheure Kühnheit, diesen Riesen mit Nagelschuhen, Hanfseilen und in einer Tweedjacke anzugehen.
In den dreißiger Jahren wurde der Berg für die Deutschen, was der Everest für die Engländer war. Beide Nationen wetteiferten darum, „ihren“ Achttausender als erste zu „erobern“, aber nur die deutsche „Heldenrasse“ verwandelte das Objekt ihrer Begierde in ein alpines Stalingrad, dem 26 Bergsteiger und Sherpas zum Opfer fielen. Bei der größten Katastrophe in der Geschichte des Alpinismus starben Willy Merkl, Willo Welzenbach und Karlo Wien. Durch ihren Tod avancierte der Nanga Parbat zum „Schicksalsberg der Deutschen“. Wie konnte es geschehen, daß sich die Elite der deutschen und österreichischen Bergsteiger so willfährig vor den Karren des Dritten Reiches spannen ließ?
In den fünfziger Jahren geriet der Berg zum Symbol des „Wir sind wieder wer“ der jungen Bundesrepublik Deutschland, zum ersten Sieg nach dem Zusammenbruch 1945. Hermann Buhl, der Gipfelsieger von 1953, war der erste moderne Bergsteiger, unpolitisch, naiv und leistungsorientiert. Später, in den siebziger Jahren, ist der Nanga Parbat auch zum Schicksalsberg Reinhold Messners geworden, der hier seinen Bruder Günther verlor und mit der ersten Solobesteigung eines Achttausenders Alpingeschichte schrieb.
Aus den Büchern und Aufzeichnungen der Toten, aus Interviews mit den lebenden Akteuren habe ich Biographien, Motive und Expeditionen rekonstruiert. Ich verfolgte ihre Spuren durch die Archive und die zeitgenössische Presse überallhin, wo es nötig war: zum Nanga Parbat, Kangchendzönga und Everest, zum Eiger, Hidden Peak und zur Annapurna, zum englischen Alpine Club, dem Akademischen Alpenverein München und zur Deutschen Himalaja-Stiftung, zum Reichssportfest nach Breslau, in die NS-Ordensburg Sonthofen und in die Dokumentenschränke auf Messners Schloß Juval.
Nicht ausgewichen bin ich der „anderen“ Geschichte des Berges, die sich in endlosen Streitereien, Prozessen und persönlichen Verunglimpfungen niederschlug. Vom „Ehrengericht“ über die zwei „feigen“ Österreicher Aschenbrenner und Schneider im Jahr 1935 bis zu den gerichtlichen Auseinandersetzungen, die Buhl 1953 und Messner 1970 mit dem Organisator des deutschen Expeditionsbergsteigens nach dem Zweiten Weltkrieg, Karl Maria Herrligkoffer, führten. Doch diese im Rückblick begrenzten Fehden verblassen vor dem ein Jahrzehnt geführten Streit zwischen den „Bergkameraden“ der 1970er Expedition und Reinhold Messner, der sich zeitweise zu einem alpinistischen Glaubenskrieg entwickelte. Ich habe ihn von Beginn an persönlich miterlebt, und er sollte – zufällig und unbeabsichtigt – sowohl bei meinem ersten (2000) als auch bei meinem zweiten Besuch (2005) des Nanga Parbat eine entscheidende Rolle spielen.
Wie in einem Brennglas konzentriert sich in der Geschichte des Nanga Parbat die Geschichte des Achttausender-Bergsteigens überhaupt. Von Mummery bis Messner erlebte er sämtliche Stile und Taktiken des Höhenbergsteigens. Von vierzehn Tonnen Ausrüstung, die Merkl 1934 mit 600 Trägern ins Basislager schaffte, bis zu den zwanzig Kilo, die Messner für seinen Alleingang brauchte, reicht die Skala der Möglichkeiten. Von Mummerys „by fair means“ mit Seil und Pickel bis zum Einsatz einer Ju 52 zur Versorgung der Hochlager probierte man an diesem Berg alles aus, und hier wurden die Fragen gestellt, die noch heute die Öffentlichkeit bewegen.
Wie „funktionieren“ Extrembergsteiger, warum quälen sie sich durch hüfthohen Schnee und lawinengefährdete Eiswände, riskieren Erfrierungen und tödlichen Absturz? Was treibt sie auf die hohen Berge, und was haben sie davon? Geht es wirklich um die „Eroberung des Nutzlosen“, wie der französische Bergführer Lionel Terray einmal behauptet hat, oder ist das Achttausender-Bergsteigen nicht ein höchst einträgliches Geschäft, das für die Erfolgreichen Ruhm, Geld und Karrieren in Politik und Showgeschäft bereithält?
Sind Bergsteiger die besseren Menschen, machen sie intensivere Erfahrungen, ist man in den Bergen „freier“ als anderswo und solidarischer, weil es die Bergkameradschaft gibt? Oder geht es auch in der „Todeszone“ zu wie im richtigen Leben, einschließlich Neid, Eitelkeit und Konkurrenzdruck, Ehrgeiz und dem unbedingten Willen, nach oben zu kommen?
Was reizt den Bergsteiger am Berg? Warum riskiert der Kletterer sein Leben? Wer weiß die Antwort? Im Zweifel immer der Berg. Steigen wir auf.
Der Tod durch Absturz gehört zweifellos
zu der angenehmsten Art, sein Leben zu beenden.
– Frank S. Smythe
DER ENGLÄNDER
Mummery & Co.
An einem Frühlingsmorgen des Jahres 1895 rannte ein Telegrammbote die Hauptstraße von Dover hinunter und läutete stürmisch am Maison Dieu House. Das hochherrschaftliche, im 17. Jahrhundert errichtete Gebäude gehörte dem Besitzer einer der größten Gerbereien der Stadt. Der Butler öffnete, nahm die Depesche entgegen und brachte sie sofort dem Hausherrn: Albert Frederick Mummery hatte Post aus Indien bekommen.
Der hochaufgeschossene, 1,85 Meter große Mummery trug wegen seiner extremen Kurzsichtigkeit eine Brille mit dicken Gläsern, was ihm das Aussehen eines Intellektuellen gab, war aber ein guter Kaufmann. Den vom Vater geerbten Betrieb führte er zusammen mit seinem zehn Jahre älteren Bruder William so erfolgreich, daß er ernsthaft überlegte – er war 39 Jahre alt –, sich aus dem aktiven Geschäftsleben zurückzuziehen und sich ganz seinen Neigungen zu widmen. Die waren zahlreich. Mummery interessierte sich für Militärgeschichte und -strategie, für politische Ökonomie und Philosophie, vor allem aber fürs Bergsteigen. Gerade feilte er an den letzten Seiten seines Buches, worin er seine Touren in den Alpen und im Kaukasus beschrieb. Unter dem trockenen Titel My climbs in the Alps and Caucasus sollte es im Sommer herauskommen und rasch zu einem Klassiker der Alpinliteratur werden. Angesichts des Autors verwunderte das niemand. Mummery galt als der beste Bergsteiger Englands.
Jetzt war die Verwirklichung seines größten Traums greifbar nahe. Der Generalgouverneur und Vizekönig von Indien, Sir Victor Alexander Bruce, neunter Earl of Elgin, erteilte ihm persönlich die Erlaubnis, Kaschmir zu bereisen, und wünschte ihm Glück für ein Vorhaben, das noch kein Mensch vor ihm gewagt hatte: die Besteigung eines Achttausenders. Mummery hatte sich den achthöchsten Berg des Himalaja, den 8125 Meter hohen Nanga Parbat, ausgesucht.
Noch am gleichen Tag schrieb er überglücklich an seine Freunde Norman John Collie und Geoffrey Hastings. Beide hatten mit ihm in den letzten Jahren die schwierigsten Touren in den Alpen gemacht. Sie waren ein bewährtes Team. Einer konnte sich auf den anderen blind verlassen. Der Schotte Collie, auf den Tag genau vier Jahre jünger als Mummery, war nur zu froh, seinen Job als Naturkundelehrer am Cheltenham Ladies College in London für eine Weile an den Nagel zu hängen. Er versprach, wegen der zu erwartenden Kälte in den Höhenlagen des Berges für ausreichend Shetland-Pullover zu sorgen und sich mit dem Rauchen zurückzuhalten. Mummery haßte Raucher. Aber der hagere, schlaksige Collie sah nicht nur aus wie Sherlock Holmes, er behielt auch seine Pfeife selbst bei den härtesten Klettereien stoisch zwischen den Zähnen. Dagegen war der „Benjamin“ des Trios, Hastings, ein athletischer Sportlertyp. Er war berühmt für sein schnelles Stufenschlagen im Eis, kletterte famos und kochte passabel. Böse Zungen behaupteten, er trage Mummerys Rucksack, denn der hatte in seiner Jugend an einer Wirbelsäulenschwäche gelitten und konnte keine schweren Lasten tragen.
Mummerys Frau Mary hatte Mühe, den strahlenden Optimismus ihres Mannes zu teilen. Nach ihrer Heirat 1883 hatte sie sich von seinem Enthusiasmus für die Alpen anstecken lassen und war ihm aufs Matterhorn und auf die Gipfel rund um Chamonix gefolgt. Sie kannte die Fähigkeiten von Mummery in Fels und Eis, seine Ausdauer und seine exzellente Kondition. Sie wußte, daß die Suche nach immer neuen Herausforderungen zu seinem Lebensprinzip gehörte. Bereits 1891 traf er sich mit Douglas William Freshfield, der den höchsten Berg des Kaukasus, den Elbrus, bestiegen hatte, und Martin Conway, der eine Himalaja-Expedition plante, und sie verabredeten einen Gipfelversuch am Kangchendzönga, dem dritthöchsten Berg der Erde. Aus dem Plan wurde nichts, aber im darauffolgenden Jahr lud ihn Conway zu einer Expedition in den Karakorum ein, die er im Auftrag der Royal Geographical Society durchführte. Mummery war begeistert, denn in den „Schwarzen Bergen“ liegt die Eispyramide des zweithöchsten Berges, des K2.
Klugerweise testeten die beiden ihre unterschiedlichen Temperamente und Ansichten auf einer Probetour in den Grajischen Alpen. Schnell stellte sich heraus, daß sie bei aller gegenseitigen Wertschätzung Welten trennten. Conway war der klassische Forscher, der mit Barometer und Theodolit genauso gern hantierte wie Mummery mit Seil und Pickel. Mummery wiederum wollte klettern und nicht forschen. Lange Fußmärsche waren ihm zuwider, und er ertrug sie nur, wenn an ihrem Ende eine Wand oder ein Gipfel winkte. Er hatte beste Erfahrungen damit, allein zurechtzukommen. Also entschloß er sich, seine eigene Expedition zu organisieren und zu finanzieren. Ihm fehlte nur noch die Genehmigung der britischen Regierung in Indien. Nun hatte er sie. Es konnte losgehen.
Erste Kunde von den Achttausendern
Wirkliche Vorläufer, von denen Mummery hätte lernen können, gab es nicht. Die Riesenberge des Himalaja waren spät ins Bewußtsein der abendländischen Menschheit gerückt. Als Alexander von Humboldt 1802 den Chimborazo in den ecuadorianischen Anden zu besteigen versuchte, tat er es in dem Glauben, den höchsten Berg der Erde vor sich zu haben. Mit 6267 Metern ist der imposante Gipfel jedoch nicht einmal der höchste Amerikas. Erst als die Briten im 19. Jahrhundert Stück für Stück den indischen Subkontinent annektierten, kamen sie in die Nähe jener Berge, die den Einheimischen als Sitz der Götter heilig waren und deren Schnee- und Eispanzer drohend jeden Zugang verwehrten. Vom Beginn ihrer Herrschaft warfen die Briten ein feinmaschiges Vermessungsnetz über Indien, gründeten eine eigene Behörde, den Great Trigonometrical Survey (G.T.S.), der ein Beamter im Generalsrang vorstand, und arbeiteten sich in dreißig Jahren, bis 1846, an den Fuß des Himalaja heran. Es war Sir George Everest, der in seiner zwanzigjährigen Amtszeit als Leiter des G.T.S. das Instrumentarium entwickelte, mit dem man immer besser messen, vor allem aber Höhen bestimmen konnte, ohne sie zu betreten, ja sogar ohne in ihre Nähe gekommen zu sein – was gerade im Falle von Nepal und Tibet entscheidend war, die ihre Grenzen lange Zeit kategorisch für Ausländer geschlossen hatten. Everests Methode, aus über 150 Kilometern Abstand die Gipfelhöhen des Himalaja mit verblüffender Exaktheit zu justieren, führte 1852 zur „Entdeckung“ des höchsten Berges der Erde, des nach ihm benannten 8846 Meter hohen Mount Everest.
Waren die Höhenzüge des östlichen und mittleren Himalaja in groben Zügen bekannt, so wußte man fast nichts über den westlichen Teil, die Region von Kaschmir und den sich nördlich anschließenden Karakorum. Es waren drei Brüder aus Bayern, Adolph, Hermann und Robert Schlagintweit, die diese Gebiete im Dienste der englischen Ostindienkompanie zwischen 1854 und 1856 erforschten und erstmals Klarheit über den Verlauf der dortigen Gebirgszüge herstellten. Die Brüder Schlagintweit waren als Geographen ausgebildet und verstanden sich als Wissenschaftler, hatten aber durch ihre Vermessungsarbeiten in den Ostalpen Lust am Klettern entwickelt. Angesichts der Berge, die sie umgaben, und eingedenk ihres großen Vorbilds Alexander von Humboldt, mit dem sie befreundet waren, versuchten sie einen Siebentausender im indischen Himalaja, den Kamet (7756 m). Sie schafften zwar nicht den Gipfel, aber mit 6785 Metern den Höhenweltrekord.
Ein Jahr später, Mitte September 1856, reiste der Jüngste der Brüder, der 28jährige Adolph, durch den Norden Kaschmirs, um einen Weg über die Gebirgsketten des Himalaja, des Karakorum und des Kunlun nach Turkestan zu finden. Er benutzte einen alten Karawanenweg, der von Gilgit am Indus über den Flecken Astor nach Srinagar führte. Auf dieser Route mußte er den Nanga Parbat passieren. Er erblickte das Massiv vom Gue-Paß aus, auf etwa 3700 Meter Höhe, und fühlte instinktiv, daß er einen der ganz großen Berge vor sich hatte. Er stieß bis zu seiner Südwand vor und vermaß ihn nach allen Regeln der Kunst. Tiefbeeindruckt zeichnete er ein Panorama des Berges, die erste aussagekräftige Abbildung des Nanga Parbat überhaupt, sieht man von einer mehr als flüchtigen Skizze ab, die ein gewisser Colonel Bates 1854 veröffentlichte. Schlagintweit berechnete die Höhe mit 26629 Fuß, was fast genau den heute gemessenen 8125 Höhenmetern entspricht. Als 1862/63 die Vermessungstrupps des G.T.S. das Gebiet um den Nanga Parbat in die offizielle Karte aufnahmen, bestätigten sie seine Ergebnisse. Als erster überlieferte Schlagintweit auch die zwei Namen des Berges: Diamir, was im örtlichen Shin-Dialekt „König der Berge“ bedeutet, und Nanga Parbat, der „Nackte Berg“, wie ihn indische Reisende auf Sanskrit nannten. Dicht neben einer vielbegangenen Handelsroute gelegen, war seine Existenz den Einheimischen im nordwestlichen Indien wohlbekannt. Vereinzelte englische Abenteurer hatten den Berg schon vor Schlagintweit erwähnt, darunter der Forschungsreisende Godfrey Thomas Vigne, dessen Bericht 1842 in London erschien. Aber keiner von ihnen hatte die Höhe des Berges richtig erkannt. Vigne schätzte sie auf nur 6000 Meter.
So blieb der Himalaja bis in die achtziger Jahre des 19. Jahrhunderts hinein die ausschließliche Domäne der Geographen, Geologen und Vermessungsbeamten. Man suchte und fand die wichtigsten Verbindungspässe in den Gebirgen, erkundete die Fluß- und Gletschersysteme, beschrieb Flora und Fauna und überließ im übrigen die Gipfel denen, die sie schon immer bewohnt hatten: den Göttern.
Conway, Bruce und andere Briten
Es gab freilich eine Ausnahme, und Mummery hat sich ohne Zweifel über diesen ersten rein bergsteigerischen Versuch in Asien kundig gemacht. Das war einfach, denn der fragliche Himalaja-Alpinist war wie Mummery Mitglied des exklusiven britischen Alpine Club und hatte seine Erlebnisse im Jahrbuch des Vereins, dem Alpine Journal, ausführlich niedergelegt. William Woodman Graham war 1883 nach Indien gereist und hatte sich das Gebiet um den Kangchendzönga vorgenommen. Da er über ausreichende Geldmittel verfügte, engagierte er für seine Expedition nicht weniger als drei Schweizer Bergführer. Freimütig bekannte er, die Reise aus sportlichen und abenteuerlichen Gründen und nicht aus wissenschaftlichen Motiven unternommen zu haben. Seine Besteigungen fanden ihren Höhepunkt im Aufstieg auf den Kabru, der mit 24002 Fuß (7340 m) dem Rekordbedürfnis Grahams exakt entsprach. Da sein Umgang mit Karte und Kompaß äußerst dilettantisch war, fiel die Wegbeschreibung völlig wirr und nicht mehr nachvollziehbar aus. Heute nimmt man an, Graham habe sich vertan und statt des Kabru den Forked Peak (6201 m) bestiegen. Jedenfalls war Graham nach eigenem Bekunden im Himalaja „auf keine großen Schwierigkeiten“ gestoßen. Auf- und Abstieg auf den „Kabru“ bewerkstelligte er in nur drei Tagen.
Mummery hielt nicht viel von Graham. 1880 hatte er den Dent du Géant in der Montblanc-Gruppe versucht und war knapp unterhalb des Gipfels umgekehrt, weil er ihn „by fair means“, das heißt in freier Kletterei und ohne Hilfsmittel, für unersteigbar hielt. Zwei Jahre später „eroberte“ ihn Alessandro Sella unter Einsatz eines halben Warenlagers mit Leitern, Zugseilen und Eisenstiften. Vierzehn Tage später war ihm Graham auf dieser „Treppe“, wie andere Bergsteiger Sellas Konstruktionen höhnisch nannten, gefolgt, um den zweiten Gipfel des Berges „zu machen“. Wenn Graham auf einen Siebentausender kam, würde Mummery mit Leichtigkeit einen Achttausender schaffen.
Bessere und genauere Informationen kamen von Martin Conway. Dessen 1892er Expedition in den Karakorum hatte zu glänzenden Ergebnissen geführt. Conway beging nicht nur die drei längsten Gletscher der Erde in ihrer Gesamterstreckung, überquerte vereiste Hochpässe von über 5000 Metern und lieferte die erste vollständige Karte dieser Region, er bestieg auch zwei Berge – den Crystal Peak, knapp 6000 Meter hoch, und den Pioneer Peak, dessen Höhe er mit 6890 Metern berechnete. Auf dem Weg in den Karakorum kam er am Nanga Parbat vorbei, war voller Bewunderung für diese ungeheure Masse Berg und fertigte eine Zeichnung an, die er in seinem Bericht publizierte. Die Einheimischen erzählten ihm die Sage vom Kristallpalast, den die Götter auf dem Gipfel erbaut hätten. Vor langer Zeit sei ein waghalsiger Jäger zu ihm vorgedrungen, habe aber nur zahllose Schlangen vorgefunden und rasch den Rückzug angetreten.
Nützlicher war der Hinweis auf einen jungen Offizier, Leutnant Charles Granville Bruce, der Conway in logistischen Fragen so hervorragend unterstützt hatte, daß dieser ihn „den Güterzug plus Lokomotive“ der Expedition nannte. Bruce, damals 26 Jahre alt, diente in einem britischen Regiment im Pandschab. Es bestand aus Gurkhas, einem kleinwüchsigen Bergvolk aus Nepal, das die Briten seit 1815 als ihre eingeborene Elitetruppe einsetzten. Ihre Kampfkraft, Ausdauer und Zähigkeit waren legendär. Bruce beherrschte ihre Sprache, schulte sie im Gebirgskampf und war der erste, der ihre Eignung auch für zivile Zwecke – als Lastenträger bei Expeditionen im Hochgebirge – erkannte. Er machte sich einen Sport daraus, sie im Bergsteigen auszubilden, und war mit seinen vier besten Soldaten zu Conway gestoßen, der ihre Fähigkeiten und ihre Kaltblütigkeit an den steilsten Bergflanken nicht genug zu loben wußte. Mummery war fasziniert. Das war sein Mann. Er schrieb an seinen Vorgesetzten, General William Lockhart, er möge ihm Bruce und zwei Gurkhas für die Nanga-Parbat-Expedition zur Verfügung stellen. Ein zweiter Brief ging an Bruce mit der Bitte, für einen Koch, einen Dolmetscher und Transportpferde zu sorgen. Zelte, Steigeisen und Seile waren rasch zusammengepackt, die Rucksäcke schnell gefüllt. Am 20. Juni 1895 brachen Mummery, Collie und Hastings von Dover auf. Fast vierzig Jahre später wird der mittlerweile pensionierte Brigadegeneral Bruce mit der Erfahrung von drei gescheiterten Everest-Expeditionen über das Unternehmen urteilen: „Eine riskantere und wahnwitzigere Heldentat hat es in der ganzen Geschichte des Bergsteigens kaum gegeben.“
Mummerys Entscheidung für den Nanga Parbat hatte vor allem praktische Gründe. Von allen Achttausendern war er am leichtesten zu erreichen. Der Everest und die nepalesischen Berge waren Ausländern aus politischen Gründen verschlossen. Der Weg zu den Achttausendern des Karakorum, soeben von Conway begangen, war lang, unsicher und führte in völlig unbewohnte Gebiete, so daß sämtliche Lebensmittel mitgenommen werden mußten. Zudem waren die Anstiege weitgehend unbekannt. In Kaschmir erwartete sie dagegen eine zuverlässige Infrastruktur. Gangbare Wege bis fast direkt zum Berg, stabile, durch die britische Präsenz garantierte politische Verhältnisse und jegliche Unterstützung, die der berühmteste Bergsteiger Englands nur erwarten durfte.
Da Collie Mitte September wieder den jungen Londoner Damen Chemie und Physik beibringen sollte, sparten sie Zeit, wo sie konnten, reisten per Bahn ins italienische Brindisi und gingen erst dort an Bord eines britischen P&O-Dampfers. Passenderweise war es, eingedenk Collies schottischer Herkunft, die „Caledonia“. Die Reise verlief sehr angenehm, weder im Roten noch im Arabischen Meer war es allzu heiß, und am 5. Juli gingen sie in Bombay an Land. Das beste Eisenbahnnetz Asiens, das die Briten in den letzten dreißig Jahren in Indien gebaut hatten, beförderte sie in einem komfortablen Schlafwagenzug nach Norden, und schon am 7. Juli erreichten sie das mehr als 1500 Kilometer Luftlinie entfernte Rawalpindi, das die Engländer als Garnisonsstadt nach europäischem Muster zur Kontrolle des Pandschab völlig neu angelegt hatten.
Von Rawalpindi nach Murree, ihrer nächsten Station, benutzten sie zweirädrige, von drei Pferden gezogene Wagen, sogenannte Tongas oder Murree-Carts, die auf den schmalen Bergstraßen Kaschmirs eine sagenhafte Geschwindigkeit entwickelten. Alle drei bis vier Stunden wurden die Pferde gewechselt. Die Straße war außerordentlich befahren, und Mummery traf zu seiner Verblüffung mehr Engländer, als er jemals in den Alpen zu Gesicht bekommen hatte.
In Murree empfing sie General Lockhart mit militärischen Ehren. Alle Wünsche Mummerys wurden erfüllt. Die kommandierenden Offiziere in den Stützpunkten rund um den Nanga Parbat hatten Anweisung, sich um die Expedition zu kümmern, der Vizekönig schaltete sich fördernd ein, und Bruce, mittlerweile zum Major befördert, hatte schon für Pferde, Diener und Köche gesorgt und Reis und Mehl eingekauft. Noch auf dem Schiff machte Mummery die Bekanntschaft zweier englischer Kaufleute, die sich gegenseitig darin überboten, die Expedition mit allem erforderlichen auszurüsten. Den Proviant zum Nanga Parbat zu schicken sei kein Problem, zahlen könne er nach seiner Rückkehr. Mummerys appetitanregende Einkaufsliste ist erhalten. Von Bass Bier über Huntley & Palmers Zwieback, englisches Mehl und Fleischkonserven, dazu viel frisches Gemüse und Obst, war alles aufgeführt, was den Magen eines Gentleman erfreuen konnte. „Unsere Weiterreise“, schrieb er am 10. Juli an seine Frau, „wird königlich sein! Jeder gibt sich die größte Mühe, uns zu helfen.“ Traten einmal Probleme auf, etwa wenn sich ein Dorfoberhaupt weigerte, für frische Pferde zu sorgen, genügte die Androhung eines Telegramms an die britischen Behörden, und schon standen mehr Ponys zur Verfügung, als Mummery brauchte.
Am 14. Juli überschritten sie den Kamri-Paß und sahen von der Paßhöhe zum ersten Mal den Nanga Parbat. „Nichts in den Alpen“, schrieb Collie, „kommt seiner Erhabenheit gleich. Oft ist es schwer, zu beurteilen, ob ein Berg wirklich groß ist oder nur so erscheint. Nicht beim Nanga Parbat. Er ist riesig, nein ungeheuerlich, sein schimmernder weißer Glanz überstrahlt alle umliegenden Bergzüge.“ Ergriffen von seinem Anblick, zogen alle drei wie auf einen geheimen Befehl ihre Hüte.
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