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Neuschweinstein - Mit zwölf Chinesen durch Europa

Neuschweinstein - Mit zwölf Chinesen durch Europa - eBook-Ausgabe

Christoph Rehage
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„Sein Buch ›Neuschweinstein‹ ist auch ein Bericht über das China-Bild der Europäer geworden, (...) eine Geschichte ohne viel Schnörkel und Spektakel, ohne episches Drachenfeuer.“ - Süddeutsche Zeitung

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Neuschweinstein - Mit zwölf Chinesen durch Europa — Inhalt

Immer mehr Chinesen zieht es in den Ferien nach Europa. Christoph Rehage hat sich einer dieser Reisegruppen angeschlossen, um herauszufinden, was die Chinesen wirklich über uns und unsere Heimat denken. Der Vorteil: Er spricht fließend Mandarin und kann so die Erfahrungen der Gruppe intensiv miterleben. Auf dem Programm der vierzehntägigen Erkundungstour stehen kulturelle Pflichtstationen wie Schloss Neuschwanstein, Michelangelos David in Florenz und der Eiffelturm in Paris. Aber auch die heimlichen Lieblingsziele der Chinesen: Outlet-Center und Luxusboutiquen. In seinem klugen und zugleich amüsanten Buch erklärt Christoph Rehage nicht nur die Faszination von Schwarzwalduhren und deutschem Babymilchpulver, sondern ermöglicht interessante Einblicke in eine uns fremde Kultur.

€ 9,99 [D], € 9,99 [A]
Erschienen am 17.10.2016
272 Seiten
EAN 978-3-492-97546-9
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Leseprobe zu „Neuschweinstein - Mit zwölf Chinesen durch Europa“

„Ah!“, machte Tianjiao und atmete tief ein, „die frische Luft!“
Ich blickte mich um: Es war fünf Uhr morgens im Februar, wir standen vor dem Münchner Flughafen, inmitten von Taxis und Bussen, die alle ihre Motoren laufen ließen. Ich sah Abgaswölkchen, die sich über dem Beton in der Kälte auflösten. Die Luft war alles andere als frisch, aber Tianjiao strahlte. Sie kam ja auch aus Beijing.

Ein paar Wochen zuvor war ich in Chinas Hauptstadt geflogen, um eine Reisegruppe zu finden und mit ihr durch Europa zu fahren. Die Idee dazu war in München entstanden, an [...]

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„Ah!“, machte Tianjiao und atmete tief ein, „die frische Luft!“
Ich blickte mich um: Es war fünf Uhr morgens im Februar, wir standen vor dem Münchner Flughafen, inmitten von Taxis und Bussen, die alle ihre Motoren laufen ließen. Ich sah Abgaswölkchen, die sich über dem Beton in der Kälte auflösten. Die Luft war alles andere als frisch, aber Tianjiao strahlte. Sie kam ja auch aus Beijing.

Ein paar Wochen zuvor war ich in Chinas Hauptstadt geflogen, um eine Reisegruppe zu finden und mit ihr durch Europa zu fahren. Die Idee dazu war in München entstanden, an einem sonnigen Wintertag. Ich spazierte gerade über den Marienplatz, als ich hinter mir Stimmen hörte, die mir vertraut erschienen, ohne vertraut zu sein. Es waren chinesische Stimmen.
„Kleiner Wang, mach ein Foto von mir!“, rief eine Dame.
Ich drehte mich um und erblickte eine Reisegruppe von etwa zwei Dutzend Männern und Frauen mit ein paar Kindern. Sie waren dabei, sich für Schnappschüsse vor dem Rathaus aufzustellen, und riefen einander Kommandos zu: „Einen Schritt nach links! Nein, nicht DEIN Links, sondern MEIN Links!“
„Guck in die Kamera!“
„Lächeln!“
Versonnen blieb ich stehen und schaute zu. Die meisten von ihnen trugen Outdoor-Jacken und Rucksäcke. Ich sah schicke Sonnenbrillen, außerdem die neuesten Smartphones und Digitalkameras. Sie lachten viel, waren ziemlich laut und machten anscheinend gern mit den Fingern das V-Zeichen. Ich fand sie sehr sympathisch.
Und während ich dort stand, während ich ihnen zusah und die anderen Menschen an ihnen vorbeihasteten, ohne sie zu beachten, bemerkte ich zwei Dinge: zum einen, dass ich gern mehr über die Teilnehmer dieser Reisegruppe erfahren hätte. Wie gefiel ihnen München? Welche anderen Orte lagen noch auf ihrer Reiseroute? Was waren ihre Träume und Hoffnungen, woher kamen sie, was machten sie, und was ging in ihnen vor?
Zum anderen: Ich vermisste China.
Und plötzlich war da die Idee.
Ich lief zu meinem Verlag und fragte, ob sie sich vorstellen könnten, dass ich nach Beijing ginge, um mit einer Reisegruppe wiederzukommen.
„Sprich weiter“, sagten die Leute im Verlag, und ich sprach weiter.
Die Idee war, dass ich als normaler Tourist mit meiner Reisegruppe durch Europa fahren würde, um zu gucken, was passierte. Dank meiner Chinesischkenntnisse würde ich mich unerkannt in die Gruppe einschleichen können. Wir würden uns wie wild selbst fotografieren, das war schon mal klar. Wir würden uns durch die Maximilianstraße kaufen und durch die Champs-Élysées. Vielleicht würden wir beklaut werden oder unser Gepäck verlieren, und vielleicht, vielleicht würden auch noch ein paar von uns in den Puff gehen. „Wäre das nicht ein toller Stoff für ein Buch?“
„Hm …“, sagten die Leute im Verlag.

Als ich ein paar Wochen später tatsächlich in Beijing ankam, tat ich erst einmal gar nichts. Ich suchte mir ein Hotel in der Nähe des Viertels, in dem ich einige Jahre zuvor, während meines Studiums an der Filmakademie, gewohnt hatte. Das Hotel war speziell: Es bestand aus einem Geflecht von Fluren und Zimmern direkt über einem Elektromarkt, und wenn ich zum Fenster ging und den Vorhang beiseiteschob, blickte ich auf die Rückseite einer Reklametafel. Aber es war günstig – so günstig, dass viele Leute einfach nur kamen, um hier ein paar Stunden Zeit miteinander zu verbringen. Wenn ich nicht gerade auf dem Bett lag und ihnen beim Zeitverbringen zuhörte, spazierte ich durch die Stadt. Oder zumindest durch einen Teil davon. Beijing war früher schon gigantisch gewesen, und es schien sich mit jedem Tag noch zu vergrößern.
Leider erinnerte ich mich schnell daran, dass ich nicht die beste Zeit für meinen Besuch gewählt hatte: Jedes Jahr im Januar und Februar war die Luft in Beijing nicht nur besonders kalt, sondern auch noch besonders schlecht – ein bisschen wie in einem Kühlhaus mit einem Auspuff darin.
Und doch zog es mich jeden Tag nach draußen. Ich hatte das Gefühl, dass wir ein bisschen Zeit brauchten, um uns wieder kennenzulernen, die Stadt und ich. Manchmal blieb ich dabei auf einer der Fußgängerbrücken stehen und blickte nach unten. Es gab mehr Autos als früher, und der Verkehr war langsamer geworden. Er floss nicht, er bestand nur noch aus einem Ächzen und Wühlen. Aber vielleicht war das auch besser so.
Denn nachts, wenn die Straßen frei waren und die Autos schnell, passierten merkwürdige Dinge. Zwei junge Männer landeten in den Nachrichten, weil sie sich in einem Tunnel ein Rennen geliefert hatten. Das Ergebnis: ein zerstörter Ferrari, ein schrottreifer Lamborghini und eine verletzte Frau. Vor Gericht hieß es dann, es handele sich bei den beiden Fahrern auf keinen Fall um Söhne wichtiger Männer, sondern um aufstrebende Jungunternehmer. China rieb sich die Augen.
Und einmal, als ich nachts selbst in einem Taxi unterwegs war, tauchte vor uns mitten auf der Fahrbahn eine einsame Gestalt auf. Es war eine junge Frau im Nachthemd. Im gelben Licht der Straßenlaternen stand sie in einer Kurve, sehr bleich und sehr klein, die Arme leicht ausgebreitet. Aus irgendeinem Grund fiel mir noch auf, dass sie keine Schuhe anhatte, dann waren wir auch schon an ihr vorbei. Der Fahrer hatte es gerade noch geschafft, ihr auszuweichen.
„Manche Leute wollen einfach sterben“, flüsterte er und schüttelte den Kopf. Seine Hände umklammerten das Lenkrad, die Fingerknöchel waren weiß.
Ich ging lieber zu Fuß, als mit dem Auto zu fahren, besonders wenn ich mit etwas haderte. Und ich haderte oft in diesen Tagen. Mit dem Alltag in Deutschland. Mit dem sich verändernden China. Mit meinem Reisegruppenplan.
Mein größtes Problem waren meine zukünftigen Mitreisenden. Was sollte ich ihnen nur über mich erzählen? Was für einen Grund konnte ich als Deutscher schon haben, mit ihnen eine Gruppenreise durch Europa zu machen? Wenn ich ihnen die Wahrheit über meine Pläne sagte – wenn ich zugab, dass ich ein Buch schreiben wollte –, dann würden sie sich bestimmt beobachtet fühlen. Sie würden sich vielleicht ein bisschen anders geben, als sie in Wirklichkeit waren, und am Ende würde ich ihnen den ganzen Urlaub verderben! Aber belügen mochte ich sie auch nicht. Was also sollte ich sagen? Ich beschloss, diese Frage erst einmal zu ignorieren, bis ich meine Reisegruppe gefunden hatte.
Und dann war da noch die Sache mit meinem „Ruhm“. Über die Jahre hinweg war ich im chinesischen Internet bekannt geworden. Nicht sehr bekannt, aber ein bisschen. Am Anfang stand mein Versuch, nachdem ich mein Studium an der Filmakademie abgeschlossen hatte, zu Fuß von Beijing bis nach Bad Nenndorf zu laufen. Nach einem Jahr und mehreren Tausend Kilometern stand ich irgendwo in der westchinesischen Wüste und gab auf. Ich machte ein Video über die Reise und den dabei entstandenen Bart und stellte es unter dem Namen „The Longest Way“ ins Internet. Und da es erstaunlich vielen Leuten zu gefallen schien, folgten darauf ein Buch, ein Bildband und Vorträge, zuerst in Deutschland und dann auch in China.
Meine Bekanntheit hatte jedoch noch mit etwas ganz anderem zu tun: mit Politik. Weil mir China fehlte (und weil ich dort Bücher verkaufen wollte), hatte ich mich auf chinesischen sozialen Medien angemeldet. Es gab dank der Regierung in China kein Google, kein YouTube, kein Twitter und kein Facebook, aber die Leute hatten ihre eigenen Netzwerke. Eins davon hieß Weibo, es war eine Art Twitter-Klon. Dort guckte ich, worüber die Leute redeten, und ab und zu sagte ich selbst auch etwas dazu.
Am Anfang sprach ich vor allem über Themen, die etwas mit Deutschland zu tun hatten, doch nach einer Weile begann ich, immer öfter auch etwas zu chinesischen Angelegenheiten zu sagen. Ich nahm mit dem Smartphone Videos auf, in denen ich mal sarkastisch, mal ernsthaft über Dinge sprach, die mich beschäftigten. Zum Beispiel über Korruption oder über den Umgang mit der eigenen Geschichte. Oder über Straßenverkehr. Nach einer Weile hatte ich ein beachtliches Publikum, Hunderttausende sahen sich regelmäßig meine Kommentare an.
Über eins brauchte ich mir dabei keine Illusionen zu machen: Viele Leute interessierten sich vor allem dafür, dass hier ein Ausländer irgendetwas auf Chinesisch in die Kamera sprach, da war es nicht so wichtig, was genau das war. Doch es gab auch Menschen, denen es wirklich um den Inhalt ging, um das, was Leike erzählte. Leike, das war mein chinesischer Name, er bestand aus den Zeichen für „Donner“ und „erobern“. Unter diesem Namen wurde ich in China manchmal sogar auf der Straße angesprochen, was mich vor ein neues Problem stellte: Was sollte ich tun, wenn jemand aus meiner zukünftigen Reisegruppe eines meiner Videos gesehen hatte?
Nach einer Weile ging mir auf, dass ich mir darüber überhaupt keine Sorgen zu machen brauchte. Denn so, wie die Dinge lagen, würde ich sowieso nie eine Reisegruppe finden. Zwei Wochen lang war ich in Beijing spazieren gegangen und hatte meine Videos gedreht, hatte Journalisten getroffen und mich mit Freunden verabredet, und schließlich hatte ich noch einen Medienpreis entgegengenommen (bei einer Veranstaltung, auf der ich es für eine lustige Idee hielt, eine Dankesrede an Marx und den Sozialismus zu halten). Aber hatte ich irgendetwas dafür getan, eine Reisegruppe zu finden? Nein. Ich hatte im Internet ein bisschen herumgesucht, und jedem, der es irgendwie hören wollte, hatte ich erzählt, wie schwierig es war, eine Reisegruppe für einen Trip nach Europa zu finden.
Einmal traf es eine Journalistin, der ich auf einem Rockkonzert zufällig über den Weg lief. Sie sagte, sie interessiere sich für die Idee hinter meinen Videos, ob ich dazu nicht etwas sagen könne. Ich war angetrunken, also sprach ich lieber ausgiebig darüber, dass es mir nicht gelang, eine Europareise zu buchen. Sie lachte: Sie kenne einen Reiseleiter, sagte sie, vielleicht würde der mir helfen können. In welchen Reisebüros ich denn bisher gewesen sei? Ich schluckte: Reisebüros?

Es dauerte ein paar Tage, bis ich endlich meinen Weg in ein Reisebüro fand. „Nordreisen“ oder „North Travel International“, wie es auf Englisch hieß, lag zwar nicht weit von meinem Hotel entfernt, aber es war zwischen Imbissbuden und Geschäften derartig gut versteckt, dass man es nur allzu leicht übersehen konnte.
Nachdem ich mich durch einen Eingang gezwängt hatte, der mehr Spalt als Tür war, stand ich vor einem Tresen. An den Wänden glänzten Wasserfälle und Strände, und überall wiesen Werbetafeln darauf hin, dass dies die LETZTE und wirklich ALLERLETZTE Möglichkeit sei, einen BESONDERS GUTEN PREIS zu erhaschen. Die Decke war niedrig und der Raum so eng, dass ich das Bedürfnis verspürte, möglichst schnell einen Urlaub zu buchen, nur um wieder aus diesem Reisebüro herauszukommen.
Ich war nicht der einzige Kunde. Neben mir stand ein Mann mit einer Herrenhandtasche, der in ein Gespräch mit zwei Damen verwickelt war. Eine der beiden lächelte mich entschuldigend an, dann wandte sie sich wieder an den Mann.
„Nur Sie allein?“, wollte sie wissen.
Er nickte: „Fünf Tage.“
„Wissen Sie, das Problem ist, dass wir in die Provinz Yunnan keine einzelnen Herren mitnehmen dürfen. So ist leider die Regelung!“
„Oh“, machte der einzelne Herr und wand sich noch ein bisschen, dann verließ er kleinlaut das Reisebüro.
„Warum dürfen Männer nicht allein nach Yunnan?“, fragte ich und versuchte mir vorzustellen, was alles an Übertretungen stattgefunden haben musste, dass zu solch drastischen Maßnahmen gegriffen wurde.
Die Dame zuckte mit den Schultern: „Männer kaufen nichts.“
„Aber was sollen sie denn kaufen?“
„Alles Mögliche.“
Es stellte sich als rein kaufmännisches Problem heraus: Allein reisende Frauen gaben Geld aus – für Souvenirs, Luxusartikel und Unterhaltungsangebote. Männer, die mit ihren Frauen zusammen verreisten, gaben ebenfalls Geld aus – um die Wünsche ihrer Partnerinnen zu erfüllen. Wenn jedoch Männer allein verreisten, dann guckten sie sich alles an und machten von allem eifrig Fotos, gaben aber fast kein Geld aus. Aus diesem Grund waren sie bei den meisten Veranstaltern, die sich gegenseitig preislich unterboten und ihr Geld dann bei den „Extras“ wieder hereinzuholen versuchten, überaus unbeliebt oder gleich ganz verboten.
Als die Dame meinen fragenden Blick bemerkte, winkte sie ab: „Das ist eine ganz allgemeine Regelung, hat überhaupt nichts mit unserer Firma zu tun!“
Dann schien ihr noch etwas einzufallen: „Wohin genau möchten Sie denn eigentlich in Yunnan?“
„Ich? Aber ich will doch gar nicht nach Yunnan!“
„Aber Sie haben doch nach Yunnan gefragt!“
„Ich wollte nur wissen, warum der Herr von vorhin nicht allein dorthin fahren darf.“
„Aber das darf er ja!“
„Nur nicht mit Ihrem Veranstalter?“
„Nur nicht mit unserem Veranstalter.“
„Weil er dort nichts kauft?“
„Weil … wegen der REGELUNG!“ Sie überlegte einen Moment. „Was wollen Sie überhaupt hier? Möchten Sie mit uns eine Reise machen?“
„Ja.“
„Und wohin?“
„Nach Europa.“
„Nach … und wo kommen Sie her?“
„Aus Deutschland.“
„Aber Deutschland liegt doch mitten in Europa! Warum will denn bitte schön ein Europäer eine Reise von China aus nach Europa machen?“
Da war sie, die Frage, vor der ich mich gefürchtet hatte. Alle im Raum starrten mich an, während ich versuchte, in meinem Kopf die Ausreden zu sortieren: Ich würde sagen, dass ich mein ganzes Leben lang im Ausland gewohnt hätte und dass es jetzt an der Zeit sei, endlich einmal die Heimat zu sehen. Außerdem fühlte ich mich in China derartig zu Hause, dass ich mir einfach nicht vorstellen könne, ohne Chinesen nach Deutschland zu fahren!
„Also“, fing ich an, „es ist so, dass ich vielleicht ein Buch schreiben will, und …“
„Sie sind Journalist?“
„Nein, ich schreibe Reisebücher, aber für dieses Buch habe ich noch nicht einmal einen Vertrag unterschrieben, es ist quasi nur so eine Idee …“
Ich bekam skeptische Blicke und eine Visitenkarte, dann wurde ich mit dem Versprechen entlassen, dass mich das Team von Nordreisen benachrichtigen werde, sobald eine passende Reisegruppe gefunden sei.
Ich hörte nie wieder etwas von ihnen.

Mit dem Gefühl, bereits unheimlich viel erreicht zu haben, kehrte ich zu meiner Lieblingsbeschäftigung zurück: dem Spazierengehen durch das eisige Grau von Beijing. Ich hatte einen Park nicht weit von meinem Hotel entdeckt, in dem es einen kleinen Kanal und einige Bäume gab, zwischen denen es still war. Das gefiel mir. Stille war Luxus geworden in den Städten Chinas, die unentwegt die Massen aus ihrem Umland in sich aufsogen und auf ihre Straßen hinausspien.
Ich war nicht der einzige Spaziergänger. Außer Rentnergruppen gab es noch viele einzelne Männer, die scheinbar ziellos im Park herumschlenderten. Einmal blieb ich auf einer Lichtung stehen, und jemand trat zu mir. Er sah aus wie ein Geschäftsmann. Wir standen nebeneinander und blickten ins Leere, ohne einen Ton zu sagen. Irgendwann ging er weiter, und es dauerte einen ganzen Tag, bis ich verstand, was er wahrscheinlich gewollt hatte.
Es war am nächsten Morgen, ich ging wieder in dem kleinen Park spazieren. Diesmal schlenderte ich zwischen den Rentnern am Kanal entlang und dachte über den Inhalt eines neuen Videos nach – als mir ein junger Mann entgegenkam.
„Hello“, sagte er auf Englisch, und ich antwortete mit „Hello“.
Dabei beließ ich es. Ich war mit meinen Gedanken bei dem Text für mein Video. Ich wollte darüber sprechen, dass im chinesischen Internet politische Gedanken gnadenlos zensiert wurden, während man Bilder und Videos von brutaler Gewalt oft einfach stehen ließ.
Nach einer Weile kam mir der junge Mann wieder entgegen, und um nicht unhöflich zu erscheinen, lächelte ich ihm zu. Ah, wir haben uns doch eben schon einmal gesehen!, sagte mein Lächeln.
Er lächelte zurück.
„Excuse me“, fragte er dann, „are you gay?“
Der Park war ein Treffpunkt der Schwulenszene, und jeder wusste es – außer den Rentnern und mir.
Als ich einer Freundin namens Yuanyuan begeistert von dieser Entdeckung erzählte, unterbrach sie mich: „Solltest du dich nicht lieber darum kümmern, eine Reisegruppe zu finden? Dafür bist du doch hergekommen!“
Yuanyuan war chefig. Ich hatte sie bei einem Meet & greet zur Veröffentlichung meines letzten Buches kennengelernt. Sie arbeitete in einem Zeitschriftenverlag, aber viel lieber trieb sie sich im Westen des Landes herum, wo sie von Ort zu Ort driftete. Ich mochte sie, denn sie war klug, witzig und ohne falsche Höflichkeit.
„Was willst du denn überhaupt in einem Reisebüro?“, brummte sie, als ich ihr von meinem Problem erzählte. „Heutzutage bucht doch keiner mehr da, das läuft alles übers Internet!“
Am nächsten Tag bekam ich eine Nachricht von ihr: 13 TAGE EUROPA – 14 000 YUAN (das entsprach etwa eintausendachthundert Euro) – DEUTSCHLAND, ITALIEN, SCHWEIZ, FRANKREICH – AM CHINESISCHEN NEUJAHRSTAG ZURÜCK NACH BEIJING. OKAY?
Ich bat um etwas Bedenkzeit, worauf ich als Antwort ein stirnrunzelndes Smiley erhielt. Dann ging ich in den Park, um zu überlegen. An diesem Tag war es kälter als sonst, und trotzdem waren sie alle da, die Rentnergrüppchen und die diskret herumschlendernden Männer. Eigentlich hatte Yuanyuan ja völlig recht: Es gab nichts zu überlegen. Ich wollte mit einer chinesischen Reisegruppe nach Europa, und da war eine. Warum sollte ich eine andere wollen?
Ich blieb noch eine Weile, bis ich durchgefroren war, dann kehrte ich in die stickige Wärme meines Hotels zurück und schickte ihr eine Nachricht: Ja, ich wollte die Reise.
Gut, kam als Antwort zurück, sie habe schon gebucht. Das Geld könne ich ihr dann bei Gelegenheit wiedergeben. Ich ging zum Fenster, schob den Vorhang beiseite und spähte durch einen Spalt in der Reklametafel hinaus auf die Straße. Ich hatte meine Reisegruppe! Es war kaum zu glauben.
Doch ganz so einfach war es dann doch nicht. Yuanyuan teilte mir mit, jemand vom Reisebüro habe bei ihr angerufen, um noch etwas mit der Anmeldung zu klären. Dabei habe sich herausgestellt, dass ich erkannt worden war.
„Wie denn das?“
„Irgendwer dort hat dein Buch gelesen. Du bist eben berühmt!“ Sie lachte, und es hörte sich ein bisschen schadenfroh an und auch ein wenig spöttisch.
„Und was bedeutet das jetzt?“
„Was weiß ich denn? Nichts, glaube ich. Sie wollten nur genauer wissen, was du vorhast.“
Kurz darauf rief die Journalistin an, die ich angetrunken auf dem Rockkonzert kennengelernt hatte. „Stell dir vor, die Welt ist ja so klein!“, gluckste sie, und irgendwie ahnte ich bereits, was sie sagen würde. „Es ist kaum zu glauben, aber der Leiter von deiner Reisegruppe ist genau DER Freund, den ich für dich um Hilfe bitten wollte! Er hat mich gerade angerufen.“
„Ach was!“, sagte ich und versuchte, es nicht zu sehr wie „Scheiße“ klingen zu lassen.
„Ja, witzig, oder? Das Problem ist aber: Er hat ein bisschen Angst!“
„Angst? Wovor denn?“
„Na, vor dir! Davor, dass du schlechte Sachen über ihn und seine Firma schreiben könntest.“
„Ach was!“

Ein paar Tage später saß ich in einem Restaurant einem gewissen Reiseleiter Huang gegenüber. Leider hatte ich es irgendwie geschafft, mich zu verlaufen und eine halbe Stunde zu spät zu kommen. Ich war untröstlich.
„Ist schon okay“, sagte er auf Deutsch, wobei er jede Silbe einzeln betonte. Er machte eine einladende Handbewegung über den Tisch hinweg: Es gab Entenscheibchen mit kross gebratener Haut, dazu Lauchzwiebeln und eine dunkle Soße. Das Ganze wurde in hauchdünne Pfannkuchen gerollt.
„Traditionelle Pekingente“, sagte er und lächelte.
Er trug einen Bürstenhaarschnitt und Brille, und es stellte sich heraus, dass er Panzer und Kampfflugzeuge ebenso liebte wie das Wort „korrekt“, welches er sehr korrekt aussprach. Er war mir sofort sympathisch.
„Weißt du“, sagte er, „die chinesische Reisebranche ist ein ganz schön schwieriges Geschäft. Die Leute wollen immer nur das günstigste Angebot haben. Deshalb unterbieten sich die Veranstalter mit den Preisen. Aber irgendwo muss das Geld ja herkommen!“
„Extras“, sagte ich und nickte bedeutungsvoll. Seit meinem Gespräch mit den Leuten von Nordreisen wusste ich ja, wie das Ganze funktionierte.
„Genau, Extras. Du bezahlst einen Preis, um irgendwo hinzufahren, und wenn du dann erst mal da bist, gehst du einkaufen oder beteiligst dich an Aktivitäten wie Bootsfahrten oder Führungen. Und der Reiseveranstalter verdient daran.“
„Und wenn die Leute das nicht wollen?“
„Ach was! Wir Chinesen kaufen unheimlich gern ein, das müsstest du doch wissen! Und was die Aktivitäten angeht: Wir lassen wirklich nur höchst selten eine Gelegenheit aus, um uns an einem interessanten Ort selbst zu fotografieren.“ Er lachte: „Ein Selfie machen, das sagt man doch so, oder?“

Christoph Rehage

Über Christoph Rehage

Biografie

Christoph Rehage, Jahrgang 1981, verbrachte nach seinem Abitur ein Jahr in Paris, wo er unter anderem als Pommesmann bei McDonald’s und als Sicherheitsmann im Louvre arbeitete. Nach einer spontanen Wanderung durch Europa begann er, in München Sinologie zu studieren und verbrachte zwei Studienjahre...

Pressestimmen
Schaufenster (Die Presse) (A)

„Harte Arbeit mit vielen Buskilometern, Verkaufsvorführungen, Abspeisungen und Sights wie Neuschweinstein.“

VdB Magazin

„Man kann den Autor mit Fug und Recht als China-Kenner bezeichnen. (...) Man bekommt einen guten Eindruck über die chinesische Denk- und Handlungsweise und vor allem über den Eindruck, den wir Europäer auf die Chinesen machen. Leise lässt er dabei manchmal auch ein wenig Systemkritik anklingen. Aller chinesischer Zensur zum Trotz.“

Süddeutsche Zeitung

„Sein Buch ›Neuschweinstein‹ ist auch ein Bericht über das China-Bild der Europäer geworden, (...) eine Geschichte ohne viel Schnörkel und Spektakel, ohne episches Drachenfeuer.“

Heilbronner Stimme

„Locker, leicht, witzig und klug.“

Buch Aktuell Taschenbuch

„In seinem neuen, amüsanten Buch beschreibt er die Begeisterung der chinesischen Touristen für Kuckucksuhren sowie Babypulver und liefert interessante Einblicke in eine - aus westlicher Perspektive - fremde Kutur.“

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