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Nicht mehr alle Latten am Zaun Nicht mehr alle Latten am Zaun - eBook-Ausgabe

Lisbeth Sommer
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Ein Schrebergarten-Roman

— Lustiger Roman für alle Gartenfreunde
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Nicht mehr alle Latten am Zaun — Inhalt

Hart, härter, Hobbygärtner

Immerfroh – klingt das nicht nach Erholung und Glück? Vicky, 53, sucht im gleichnamigen Kleingartenverein vor allem ihre Ruhe. Stattdessen muss sie Debatten über korrekte Rasenhöhe und die gefürchteten Vereinssitzungen überstehen, wo jede der 362 Regeln hingebungsvoll umgegraben wird. Als eines Tages neue Kleingärtner anrücken, wird es turbulent: Eine überkandidelte Großstadtfamilie, die Kaninchenzüchter Olli und Toni und weitere Schreckgestalten mischen die Siedlung auf. Erst als die Stadt Immerfroh auflösen will, heißt es für alle: Zusammenhalten und zum Gegenangriff blasen. Ob das gut geht?

Garantiert großer Lesespaß: Der Kleingartenverein Immerfroh e.V: Alle wissen es besser, aber keiner so richtig.

€ 10,00 [D], € 10,30 [A]
Erschienen am 24.02.2022
288 Seiten, Broschur
EAN 978-3-492-31571-5
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€ 8,99 [D], € 8,99 [A]
Erschienen am 24.02.2022
288 Seiten
EAN 978-3-492-60121-4
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Leseprobe zu „Nicht mehr alle Latten am Zaun“

Kapitel 1


Vicky liebte die Erde.

Seit letztem Frühjahr war sie geradezu besessen davon. Mit den Händen rein in den Matsch, Sämlinge setzen, Erde drüberhäufeln, glatt klopfen, angießen und dann, später, die kindliche, unvergleichliche Freude, wenn aus dem Boden etwas Helles hervorspross. Ein erster Trieb, die Vorzeichen eines Pflänzchens, der Beweis für erfolgreich geleistete Arbeit.

Erde erdete. Und wie.

Hätte Vicky jemand vorher gesagt, dass das Arbeiten mit etwas Profanem wie Erde und Saatgut glücklich macht, sie hätte die armen Gestalten mitleidig [...]

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Kapitel 1


Vicky liebte die Erde.

Seit letztem Frühjahr war sie geradezu besessen davon. Mit den Händen rein in den Matsch, Sämlinge setzen, Erde drüberhäufeln, glatt klopfen, angießen und dann, später, die kindliche, unvergleichliche Freude, wenn aus dem Boden etwas Helles hervorspross. Ein erster Trieb, die Vorzeichen eines Pflänzchens, der Beweis für erfolgreich geleistete Arbeit.

Erde erdete. Und wie.

Hätte Vicky jemand vorher gesagt, dass das Arbeiten mit etwas Profanem wie Erde und Saatgut glücklich macht, sie hätte die armen Gestalten mitleidig betrachtet, die wegen eines Salatkopfs oder nach der Ernte von kraftvollen, vor Gesundheit strotzenden Kartoffeln und Möhren in ekstatisches Gestammel verfielen. „Ja, sicher“, hätte sie gesagt. „Und was sonst noch?“

Es war Frühling, und Vicky hatte im Herbst unter anderem auch Blumenzwiebeln gepflanzt. Jetzt, in der Märzsonne, krochen die Narzissen, Tulpen und Hyazinthen zaghaft aus der Erde, und es dauerte sicher nicht mehr lange, bis das ganze Beet und die Terrakottakästen von bunten Blumen überquollen. Herrlich. Sie strich sich das halblange dunkelbraune Haar zurück und hielt das Gesicht in die Sonne. Die Arbeit im Garten war einfach nur herrlich. Und eine gute sportliche Betätigung noch dazu. Vicky hasste Sport, aber im Garten wuselte sie einfach gern herum. Außerdem wollte sie schlank bleiben. In ihren Gummistiefeln, die sie über die Jeans gezogen hatte, ging sie weiter und sah sich nach allen Seiten um.

Schneeglöckchen hatte sie neu gekauft, die würde sie heute einsetzen. Die Mehrjährigen waren Vickys liebste Pflanzen, sie mochte es, die Zwiebelchen nach dem Verblühen zu trocknen und einzulagern, um sie ein paar Monate später wieder in die Erde zu stecken. Das hatte sie zu Hause auf ihrem Balkon auch schon immer gemacht, und hier setzte sie es fort. Wunderbar!

„Hellou!“ Eine langbeinige Blonde winkte Vicky vom Gartenzaun aus linkisch zu. Vicky kannte sie nicht, wusste aber, wer sie war. Eine Jessy, Michi, Mandy oder Kiki, jedenfalls irgendein Name, der mit i oder y endete. Eine Vicky war noch nie dabei gewesen, was sie freute, da sie sich nicht mit den Damen auf eine Stufe stellen wollte, die einer der Parzellennachbarn, nur „der schöne Edgar“ genannt, auf einem seiner Streifzüge durch einschlägige Lokalitäten oder im Internet aufgegabelt hatte. Dort war er auf diversen Plattformen mit dem wahnsinnig attraktiven Namen „SuperGrizzlyZarthart“ unterwegs. Das erzählte der schöne Edgar gern allen, die es nicht wissen wollten. Die Damen, die er ab- und anschleppte, hießen alle ähnlich und sahen alle gleich aus: blonde, lange Haare, gern schon rausgewachsene Extensions, und dann hatten sie lauter so Filzknoten im Haar. Sie waren dünn, hatten eine enorme Oberweite und Strass überall dort, wo sich Strass unterbringen ließ, wahrscheinlich auch im Gehirn oder in dem Rest, der noch übrig war. Vicky würde sowieso nie begreifen, warum die Menschheit alles bedrucken oder mit Strass verzieren musste. Wieso stand auf einem Teebecher Teapot? Warum musste auf einem Sweatshirt ein perlenäugiges Koalabärchen an strassverzierten Eukalyptusblättern nagen?

Das waren die Fragen, auf die Vicky keine Antwort bekam.

„Ich bin die Cindy.“

Bingo.

Vicky stand auf und blieb vor ihrem Beet stehen. „Hallo“, sagte sie freundlich wie immer.

„Ich will gar nicht stören, ich war hier nur noch niiiie.“ Hilfe suchend sah sich die Blondine um.

„Ich will nur wissen, wo das Knusperhäuschen vom Eddi ist.“ Die Cindy strahlte Vicky aus blauen Augen an. Sie hatte wirklich „Knusperhäuschen“ gesagt.

Irgendetwas an Cindy irritierte Vicky, die sie stirnrunzelnd musterte. Dann wusste sie, was es war: Cindys Augenbrauen waren abrasiert und durch einen gemalten Bogen mit pechschwarzem Augenbrauenstift ersetzt worden, ein merkwürdiger Kontrast zum weißblonden Haar. Wieso, bitte, wieso hatte sie dann die echten abrasiert? Warum tat man so etwas? Das waren Fragen, die Vicky auch nicht beantworten konnte.

„Dort drüben.“ Vicky deutete in die Richtung von Edgars Parzelle. Die Cindy winkte ihr fröhlich zu, stöckelte davon und machte dauernd „Huch“, „Ups“ und „Ui“, weil sie auf den nietenverzierten feschen Zwölf-Zentimeter-Absätzen überall einsank oder dauernd stolperte. Warum lief sie auch nicht auf dem Gehweg, der mit Kieseln ausgelegt war? Warum musste sie links davon im Matsch herumlatschen?

„Eddiiiiiiiie!“, rief sie nun verzweifelt und blieb stehen. „Hiiiilfäää!“ Und da kam er auch schon gemächlich und breitbeinig in seiner Samenstrang-Jogginghose anstolziert, der solariumgebräunte schöne Edgar, und fletschte das frisch gebleachte Gebiss.

„Harhar, meine Schöne ist da, harhar!“ Die Schöne stolperte ihm entgegen und sank betont kraftlos an seine Brust. Und Edgar, ganz Gentleman, nahm sie auf die Arme wie einst Rhett Butler die schöne Scarlett O’Hara und trug sie, wenn auch nicht über eine große Treppe, sondern über den Kiesweg zu seinem Knusperhäuschen.

„Hab ich dir nicht gesagt, dass mein Wochenendhaus schöner ist als eins auf den Bahamas? Hab ich es dir nicht gesagt? Harhar!“

Vicky schüttelte den Kopf. Wie brachte Edgar es bloß fertig, immer wieder Frauen abzuschleppen? Nun ja, sie konnte sich damit trösten, dass diese Frauen nicht die schärfsten Messer in der Besteckschublade waren. Es hätte sie mal interessiert, was er in den Anzeigen schrieb. Ganz sicher war seine Potenz ein Thema. Seine Allgemeinbildung eher nicht. Wer von sich selbst behauptete, ganz schön „integent“ zu sein, war es irgendwie dann doch nicht. Aber Kraft hatte er, der schöne Edgar. Musste er auch haben, denn er war Beamter im Justizvollzug, also Gefängnisaufseher, und dort angeblich für besonders harte Fälle zuständig. Jedenfalls erzählte der schöne Edgar das immer wieder mal. Auch dass die Knackis einen Riesenrespekt vor ihm hätten und vor ihm kuschten. Vicky war sich nicht sicher, ob sie das glauben sollte.

 

Jetzt waren der schöne Edgar und seine Cindy in Edgars Häuslein verschwunden, und gleich würde der Sektkorken knallen.

Vicky kannte das, seit sie im letzten Jahr ihr hübsches kleines Grundstück mit dem süßen Haus geerbt hatte. Ihre Oma Lisbeth hatte ihr die Parzelle vermacht, und es hatte einen ziemlichen Wirbel im Klgv. Immerfroh gegeben, so wie eigentlich immer, wenn irgendetwas ein klein wenig anders lief als gewohnt. Ähnlich war es beim schönen Edgar gewesen, als er die Parzelle von seinem Bruder Toto erstanden hatte, der nach Syrien gezogen war, weil er dort megagünstig ein Haus gekauft hatte. Das hatte Vicky schon in der ersten Saison mitbekommen. Auf einen freien Garten hatte man jahrelang bangend und bibbernd zu warten. Da konnte nicht einfach die Oma der Enkelin die Parzelle vermachen oder ein Bruder einfach nach Syrien ziehen, bloß weil es da gerade billig war. Wo war man denn bitte?! Die Alteingesessenen pochten auf alte Rechte, und „so war es immer schon gewesen“. Aber so wie immer stand das Erbrecht dann doch höher im Ranking als die Meinung der Grundstückseigentümer.

Vicky schaute nach dem Feldsalat, der erntereif war. Morgen Abend würde sie sich einen frischen Salat machen, mit Pinienkernen, Walnüssen, Granatapfelkernen und ein wenig Schafskäse im Schinkenmantel, das konnte sie gut auf dem kleinen Spirituskocher zubereiten. Für heute hatte sie sich eine Suppe mitgebracht. Sie strich über die von Oma mit Blumen und Ranken selbst bestickte Schürze, die sie liebte, weil sie so immer das Gefühl hatte, Oma sei noch da.

Schön, dass Freitag war! Und gerade etwas Ruhe ringsum. Es war immer herrlich, freitags schon um dreizehn Uhr die Arbeit zu beenden. Vicky mochte ihren Job als Praxismanagerin in einer orthopädischen Gemeinschaftspraxis, aber sie war auch glücklich, wenn der Freitag nahte und sie seit Kurzem wieder in den Garten konnte. Es war ihr zweites Gartenjahr, und sie hatte in den vergangenen Wintermonaten schon gemerkt, dass ihr etwas fehlte. Es war herrlich gewesen, an den ersten warmen Tagen in den Garten zu kommen.

„Na, Frau Jordan, fertig für heute?“ Paul Müller stand in seinem grünen Gartenkittel kerzengerade vor ihr, ein achtzigjähriger ehemaliger Major oder General oder irgendwas bei der Bundeswehr oder den Fremdenlegionären. Was genau er gewesen war, konnte Vicky nur mutmaßen, denn Paul machte ein Geheimnis daraus. Der schöne Edgar hatte mal behauptet, Paul sei ein Geheimagent für die DDR gewesen, das würde man doch merken. Außerdem hatte Edgar ein Foto gesehen, auf dem Paul Müller einen schwarzen Ledermantel trug, da musste also was dran sein an den Gerüchten.

Paul hatte schlohweißes Haar, ebenso weiße, buschige Augenbrauen und eine Gesichtshaut, der man ansah, dass er in seinem Leben viel Zeit im Freien verbracht hatte. Er war eher klein als groß und versuchte, dies zu vertuschen, indem er ständig auf den Zehenspitzen wippte.

Vicky nickte. „Hallo, Herr Müller!“, erwiderte sie freundlich, weil man zu Paul Müller immer freundlich sein musste, denn sonst war mit ihm nicht gut Kirschen essen, und Kritik, auch konstruktive, prallte an ihm ab. Er sah die Dinge vergleichbar mit Heinrich dem Achten, also nicht sonderlich reflektiert. Wenn Heinrich nicht weitergewusst hatte, wurden seine Frauen entweder abgeschoben, oder er ließ sie köpfen. Wenn Paul bei Diskussionen nicht weiterwusste, hatte er einen Lieblingssatz, den er mehr brüllte als sprach: „Ich kann auch mein Gewehrrr holen!“ Mit rollendem R, wie es sich, so schien Paul zu glauben, für jemanden gehörte, der ein Gewehrrr besaß. Da niemand wollte, dass das Gewehrrr geholt wurde, sagte irgendwann immer jemand: „Ist ja gut, Paul, ist ja gut.“ Und Paul Müllers Frau Hanni sagte: „Denk an deinen schlimmen Fuß, Paul, denk dran! Uiuiui.“ Niemand wusste, was sie damit meinte. Vielleicht, dachte Vicky manchmal, wippte er einfach zu viel.

Eigentlich duzten sich alle bei Immerfroh, aber bei Paul Müller musste man sich das Du erst verdienen, so hatte man Vicky mitgeteilt, als sie im letzten Jahr die ersten Frühlingstage in der Anlage verbracht hatte. Oma Lisbeth hatte ihr ein wirklich hübsches Gartenhäuschen hinterlassen, einen sehr gepflegten Garten und akkurate, gut bestellte Beete. Vor Lisbeth hatten alle Respekt gehabt, denn sie war die Einzige gewesen, die den Schnecken beigekommen war, und zwar mit einem Geheimrezept, niedergeschrieben auf Büttenpapier. Das behauptete zumindest Hanni, die es angeblich schon gelesen hatte und Lisbeth das Schneckenrezept hatte abkaufen wollen. Aber die hatte gesagt: „Nur über meine Leiche.“ Nachdem sie gestorben war, ging Hanni sofort zu Vicky und wollte das Rezept nun endlich haben, weil es ja mittlerweile eine Leiche gab. Aber Vicky hatte das Rezept bislang nicht gefunden. Das glaubte ihr Hanni natürlich nicht und bezeichnete Vicky unter anderem als hinterhältiges, missgünstiges Weib.

„Schönes Wetter heute, was?“, fragte Herr Müller.

„O ja, die Sonne ist wunderbar warm“, antwortete Vicky fröhlich. „Da macht das Herumwerkeln richtig Spaß. Wie schön, dass man jetzt endlich wieder draußen sein kann!“

„Man kann bei jedem Wetter draußen sein!“, bellte Herr Müller und wippte. „Das härtet ab. Ich wäre bestimmt nicht so alt geworden, hätte ich nur in der Stube gehockt und Maulaffen feilgehalten.“

„Sicher“, stimmte Vicky zu und lächelte ihn an.

„Nun“, sagte Paul Müller, „dann bis heut Abend!“

„Ja.“

„Sie wissen doch, Pächterversammlung“, knarzte er.

„Sicher“, wiederholte Vicky und lächelte weiter.

„Als Pächter muss man teilnehmen“, erklärte er weiter.

„Ich nehme ja auch teil“, erklärte Vicky freundlich.

„Man sieht es nicht gern, wenn Pächter fehlen.“

Vicky nickte. „Dann bis heute Abend um neunzehn Uhr“, sagte sie lieb. „Wir sehen uns im Vereinsheim.“

„Pünktlichkeit ist auch wichtig“, schwadronierte Paul Müller weiter.

„Ich werde pünktlich sein. Kann ich sonst noch etwas für Sie tun, Herr Müller?“ Vicky wollte das Gespräch nun nicht weiterführen.

Paul überlegte kurz und kratzte sich am Kinn.

„Ich kann auch mein Gewehrrr holen“, kam es plötzlich völlig grundlos, aber das war man hier ja schon gewöhnt. Vicky hob beide Hände.

„Nicht nötig, Herr Müller, nicht nötig! Und jetzt muss ich weitermachen. Also dann, bis später.“ Sie drehte sich um und ging einfach. Paul Müller salutierte vor einem imaginären Vorgesetzten und stampfte davon, und zwar mitten auf dem angelegten Kiesweg. Knirsch knirsch knirsch, im Gleichschritt marsch. Alles musste seine Ordnung haben!

Vicky sah ihm nach. Manchmal nervte der Müller schon gewaltig, aber es war sinnlos, sich mit ihm anzulegen. Er war stur wie ein Esel und altersstarrsinnig noch dazu. Außerdem hatte Vicky keine Lust, dass bei einer Meinungsverschiedenheit kurze Zeit später seine Frau Hanni auftauchte. Hanni hatte einfach zu viel Zeit, und wenn man nicht aufpasste, redete sie ihr Gegenüber in Grund und Boden. „Mein Mann hinten und mein Mann vorn“ und „mein armer Mann, was muss der sich alles anhören von den undankbaren Pächtern, dabei meint er es doch nur gut, und der schlimme Fuß“ und überhaupt. Sah man Hanni und Paul allerdings zusammen, war es aus mit „mein Mann“ hinten und vorn. Die beiden keiften und gifteten sich an, als bekämen sie es bezahlt. Manchmal über Stunden. Angeblich, so hatte es deren Tochter Vicky im letzten Herbst erzählt, sei das schon seit der Hochzeit so mit ihren Eltern, und es würde erst aufhören, wenn einer von beiden den Löffel abgegeben hätte. Selbst dann würde der oder die Hinterbliebene wahrscheinlich am Grab stehen und weitermeckern. Oder das Gewehrrr holen. Na ja, Vicky dachte immer daran, wie sie wohl mit achtzig sein würde, und ließ Hanni und Paul so, wie sie waren. Ihr wurde ja kein Schaden zugefügt. Davon abgesehen patrouillierte Paul um die Gärten herum, sah stets nach dem Rechten, und einmal hatte er zwei entsetzte Tippelbrüder mit dem Gewehrrr verscheucht, die es sich in Elviras Haus mit mehreren Flaschen Korn und ihrem gesamten Hab und Gut gemütlich machen wollten.

Eigentlich, so hatte Vicky vor ihrem ersten Gartenbesuch gedacht, hätte man hier doch gut seine Ruhe haben können. Nach der Praxis ein wenig herumpusseln und den lieben Gott einen guten Mann sein lassen. Mehr brauchte sie nicht.

Aber seitdem sie beim Klgv. Immerfroh e. V. Omas kleine Parzelle übernommen hatte, die noch dazu in der Mitte der Anlage lag, hatte sie sehr oft keine ruhige Minute mehr. Dauernd war was los. Sie wollte nur Himbeeren, Erdbeeren, Gemüse sowie Blumen pflanzen und ihre eigenen Kohlrabis essen.

Gartenarbeit sollte beruhigen und entspannen, deswegen hatte sie sich das so vorgestellt: Nach einem langen Arbeitstag kam man in seinen Garten, die Vögel zwitscherten, und man hing seinen Gedanken nach, während man mit dem Spaten Muttererde auflockerte und Schnecken zu dezimieren versuchte. Das Rezept von Oma gegen die Schnecken hatte sie immer noch nicht gefunden, und das wunderte sie wirklich, denn so groß war das Häuschen nicht. Aber vielleicht hatte Oma Lisbeth es vernichtet, weil sie Hanni die Schnecken gegönnt hatte. Die beiden hatten nicht das beste Verhältnis gehabt, und in den fünfzig Jahren ihrer Nachbarschaft war das eher schlechter als besser geworden. Angeblich hatte Hannis Paul Oma Lisbeth mal schöne Augen gemacht, hieß es. Aber Genaues wusste keiner.

Und leider klappte das mit dem Ruhehaben nicht immer, denn die Parzellennachbarn waren so was Ähnliches wie eine Familie. Jeder kannte jeden, und man wusste viel über die anderen. Manch einer hatte einen leichten Knall, manch einer einen gewaltigen. Aber ihre Gärten liebten sie alle. Oft fing samstags einer an zu grillen, dann gesellten sich die anderen dazu, und man hatte einen netten Abend oder auch nicht, denn hin und wieder fetzten sich die einzelnen Parteien heftig. Dann ging es um die Höhe der aufgehängten Lampions oder um ein bestimmtes Holzöl, das angeblich umweltschädlich war. Es wurde über die Bienen diskutiert, die immer weniger wurden, und die Menschheit würde ja mit den Bienen sterben. Oder es ging einfach darum, dass jemand recht haben wollte. Früher oder später vertrug man sich aber wieder, wobei reichlich Bier, Rotwein und Apfelwein eine tragende Rolle spielten. Natürlich wurde auch über die anderen Pächter getratscht, die ihre Parzellen nicht in unmittelbarer Nähe hatten. Die Colland, die mit den beiden Berner Sennenhunden, die war schon wieder schwanger, ja, ja, das dritte Kind vom dritten Vater. Von dem kannte sie angeblich noch nicht mal den Namen. Bestimmt einer aus Eritrea, behaupteten böse Zungen, Zustände waren das. Und die Hunde waren so groß, da bekam man ja Angst. Und der Gustaf Gründorf, ja, der, der immer allein dahockte und rauchte, der Nichtsnutz, war jetzt schon wieder arbeitslos, nie hielt er es länger als ein paar Wochen aus. Dann warf er die Flinte ins Korn, und Schuld hatten immer die anderen. Sogar seinen Aushilfsjob in einer Bäckerei hatte er aufgegeben, weil er ganz plötzlich eine Weizenintoleranz bei sich entdeckte. Konnte man glauben oder nicht. Jedenfalls, meinten Paul und Hanni Müller, hatte es früher keine Weizenintoleranz gegeben. In einer zum Glück vergangenen braunen Zeit hätte es nämlich nicht mal Toleranz gegeben, ließen die beiden jeden wissen, der vorbeikam. Hanni sagte auch immer gern, dass die Trümmerfrauen einem was gehustet hätten, wenn man mit einer Lebensmittelunverträglichkeit bei ihnen zwischen den Ruinen aufgetaucht wäre. Hanni erklärte, wer sich einmal über einen längeren Zeitraum von Kartoffelschalen und Kohlstrünken ernährt habe, der wisse, was Hunger sei, und der esse, was auf den Teller komme. Um ihren Worten Nachdruck zu verleihen, schlug sie dabei gern auf den Tisch.

Schneiders ließen sich scheiden, na, das hatte man ja kommen sehen, wie die sich plötzlich auftakelte, klar, dass die einen anderen hatte. Mal sehen, ob er den Garten behielt, denn sie, so sagte man, würde aus dem gemeinsamen Haus in Bad Nauheim ausziehen, wahrscheinlich zu ihrem Neuen. Der hatte ein Autohaus in Kassel, pah, da würde sie bestimmt demnächst im Porsche rumfahren, den sie nicht selbst bezahlen musste. Nun, man würde sehen.

Vicky beteiligte sich selten an solchen Gesprächen und stellte auch keine Mutmaßungen an, aber sie hörte wie fast jeder gern die Klatschgeschichten. Das passte hier einfach dazu.

Eigentlich könnte alles so bleiben, wie es war, dachte Vicky zufrieden, während sie Feldsalat erntete und ihn zum Waschen unter den Wasserhahn hielt. Dann ging sie in ihre Hütte, goss aus der Thermoskanne Tee in einen Becher, holte eine Decke und setzte sich raus in die Hollywoodschaukel auf der kleinen Veranda. Das Holzhäuschen hatte Opa Ludwig selbst gebaut. Oma Lisbeth hatte damals unbedingt eine Veranda haben wollen, also hatte der Opa ihr eine gezimmert.

„Oh, wie bei Pippi Langstrumpf!“, hatte Vicky später immer gesagt und fortan Blumen auch bei Regen gegossen, genau wie Pippi. Denn was man sich vorgenommen hatte, musste man ja auch machen. Das Häuschen war sahnefarben gestrichen und hatte dunkelgrüne Klappläden. Es bestand aus einem einzigen Raum und hatte, abgeteilt hinter einem Vorhang, noch Platz für ein Stockbett, das der Opa ebenfalls gezimmert hatte. Als kleines Kind hatte Vicky hier immer mit ihren Großeltern übernachtet, sie oben, Oma unten und der Opa auf der ausklappbaren Eckbank. Das war herrlich gewesen. Die Bettwäsche mit Kornblumenmuster hatte immer so gut nach Zitrone und Seife gerochen, und morgens hatte der Opa mit dem Fahrrad Brötchen, die Zeitung und samstags für Oma das neue Rätselheft, für sich aber Zigarren geholt. Der Opa konnte aus dem Rauch Kringel formen, die kamen dann aus der Nase und aus den Ohren raus, und es gab selbst gemachte Marmeladen, Gelees und Honig. Für die Oma Lisbeth Corned Beef aus dem PX, einem Laden der Amerikaner, die in Bad Nauheim stationiert waren. Die hatten so wundervolle exotische Dinge, und wenn man sich mit den Amis gut stellte, brachten sie einem sogar ganz günstig Levis-Jeans und Big-Red-Zimtkaugummi mit oder eben Corned Beef aus der Dose für die Oma. Da Oma und Opa direkt gegenüber der Siedlung lebten, wo auch die Straßen amerikanische Namen trugen, Lee Boulevard beispielsweise, kannte man sich, und der nette Chuck brachte der Oma immer die Dosen vorbei. Das liebte Oma, obwohl Vicky immer fand, dass der Inhalt nach Hundefutter roch.

Eier gab es in der Gartenanlage auch, die durfte Vicky immer beim Nachbarn holen, der hatte sechs Hühner und die Parzelle gepachtet, die inzwischen der schöne Edgar gemietet hatte. Vicky durfte die Eier immer selbst suchen und einsammeln. Manchmal waren sie noch warm.

In der Hütte von Oma und Opa gab es neben der ausklappbaren Eckbank einen alten Holztisch, in den ein jeder, der mal dran gesessen hatte, seinen Namen oder einen Spruch reingeritzt hatte, samt Datum, es gab Stühle und eine schön verzierte alte Petroleumlampe, die von der Decke herabhing, eine Spüle, Kocher, Schränke mit uraltem Zwiebelmustergeschirr, das schon einiges erlebt und viele Sprünge hatte, und Töpfen, die mit Windmühlen bedruckt waren. Und es gab im Boden eine Klappe, die man öffnen konnte, dort hatte Opa Ludwig damals geschaufelt und ihnen ihren eigenen unterirdischen Kühlschrank gebaut, der wunderbar funktionierte. Selbst im heißesten Sommer blieben die Lebensmittel und Getränke dort kühl. Selbst mitgebrachte Eiswürfel hielten sich recht lange. Manchmal schauten einen aber auch Maulwürfe oder Marder an, die – keiner wusste wie – den Weg in den Kühlschrank gefunden hatten und alles annagten.

An den Wänden hingen gerahmte Fotos von der Familie und von Freunden, die in dieser Hütte gesessen und gefeiert hatten. Das älteste Foto stammte aus dem Jahr 1945, es war aufgenommen worden, nachdem Opa aus dem Krieg heimgekehrt war und er die Oma geheiratet hatte. Damals hatten sie zur Hochzeit eine Parzelle geschenkt bekommen. Ein Gärtchen mit der bezahlten Pacht für fünf Jahre. Während sie sich nach dem Krieg etwas aufbauten, so sagten beider Eltern, sollten sie sich erholen können, denn an Urlaub war nicht zu denken in jener Zeit. Das neueste Foto zeigte Vicky und drei Freundinnen am Tisch sitzend und mit Crémant auf das neue Pächterglück anstoßend. Letztes Jahr hatten sie das Selfie aufgenommen, kurz nach dem Tod von Oma Lisbeth, die mit dreiundneunzig Jahren gestorben war, nachdem sie ihren Ludwig um zehn Jahre überlebt hatte.

Die vier Freundinnen hatten an jenem Abend lächelnd ihre Sektgläser in die Kamera gehalten. Immer, wenn Vicky das Foto betrachtete, musste sie daran denken, dass sie nach dieser einen Flasche noch drei weitere aus dem Erdkühlschrank geholt und geleert hatten und Beate dann ziemlich bedudelt im Dunkeln auf der Suche nach der Toilette („Einfach die drei Stufen runter, dann links, Bea!“) über einen Zaun geklettert und in das Dixi-Klohäuschen des Nachbarn getaumelt und damit umgestürzt war, natürlich auf die Tür. Bei Bea ging es nicht anders, sie würde immer ein Tollpatsch bleiben. Dabei war die von Opa Ludwig vor vielen Jahren angelegte Komposttoilette in einem kleinen Verschlag mit dem ins Holz geschnitzten süßen Herzchen eigentlich nicht zu verfehlen.

Während Vicky und die beiden anderen fröhlich weitergebechert hatten, schrie und klopfte die arme besudelte Beate um ihr Leben, und irgendwann war den anderen aufgefallen, dass sie schon ganz schön lange fehlte.

Man war rausgelaufen, hatte Beas Schreie gehört, hatte das Klo kreischend vor Lachen umgedreht und Beate befreit. Dann stellte sie sich freiwillig nackt unter den Gartenschlauch und seifte sich mit Pril-Kraftgel ab, wovon es auch ein Foto gab, aber Beate hatte gesagt, wenn dieses Foto irgendwann mal auftauche, würden Köpfe rollen und Blut spritzen, aber das wäre dann nicht ihres.

Vicky lächelte vor sich hin, dann schaute sie auf die Uhr. Noch Zeit bis zur Versammlung. Da konnte sie doch ein Nickerchen machen. Sie legte sich lang hin, streckte sich aus, und das sanfte Wiegen der Schaukel, das Gezwitscher der Vögel, die gute Luft, ein paar Gesprächsfetzen und vereinzeltes Lachen lullten sie in den Schlaf.


Kapitel 2


Die erste Versammlung in diesem Jahr dauerte nun schon über drei Stunden. Alles war geklärt und hätte wie alle solche Versammlungen, allen voran die Elternabende, auch innerhalb von zwanzig Minuten beendet werden können. Der Rasen durfte nach zwanzig Uhr nicht mehr gemäht werden, am Sonntag schon gar nicht, und am Samstag nur bis sechs am Abend, die Brombeerhecke von Andrea und Jonas ragte letztes Jahr zu weit in den Weg, und Hanni wurde angeblich irgendwann fast von einer Quitte erschlagen, deswegen hatte sie jetzt dauernd Kopfschmerzen.

„Nur weil de Rüdischer, wo letzt Jahr gestorbe is, den Baum net beschnitte hat, wär isch jetzt fast dooood. De Baum muss ford.“ Während ihr Mann Paul sich immer bemühte, akkurates, fehlerfreies Hochdeutsch zu sprechen, wie es sich für einen angeblich ehemaligen Fremdenlegionär gehörte, beharrte Hanni auf ihrem Wetterauer Dialekt. Hier war se geborn, hier würd se sterbe, hier wird so geschwätzt, un Schluss.

„Das wär’s noch“, Elise Krall, eine dralle Mittfünfzigerin und die Frau von Donald, dem Vereinsvorsitzenden, der die Versammlung wie immer leitete, schnaubte laut. „Einen Baum fällen wegen deiner Dummheit, Hanni? Sieh dich halt vor!“

„Du spinnst wohl, Hanni“, regte sich nun auch Carola Reibold auf. „Der Baum bleibt, da hat die Elise recht. Die leckeren Quitten, das fehlt noch, dass wir die nicht wieder ernten können.“

„Außerdem kann eine Quitte einen nicht erschlagen“, pflichtete ihre Schwester Lotti ihr bei. „Oder, Vicky, sag doch mal, du bist doch Ärztin. Du musst doch wissen, ob eine Quitte einen Menschen umbringen kann.“ Die beiden Schwestern Lotti und Carola Reibold saßen natürlich nebeneinander, sie machten alles zusammen, alles. Nur aufs Klo gingen sie nacheinander. Sie waren Anfang sechzig und sehr sparsam, sie schnitten sich auch gegenseitig die Haare, und dementsprechend sahen ihre Frisuren aus. Als hätten sie sich gegenseitig Töpfe aufgesetzt und ungeschickt drum herum geschnipselt. Bei Carola hatte Lotti letztens einen Fehler gemacht. Eigentlich hatte sie ihr die Haare so schneiden wollen wie immer, aber dann hatte sie zusätzlich das Haupthaar weggeschnitten, weil sie das auf einem Foto gesehen und gut gefunden hatte. Dass auf dem Foto ein Mönch zu sehen war, der sich für eine Tonsur entschieden hatte, wurde von Lotti nicht thematisiert.

Vicky hätte nun natürlich zum siebenhundertzwölften Mal sagen können, dass sie keine Ärztin sei, sondern Praxismanagerin bei Ärzten, und das war etwas ganz anderes. Sie hätte auch fragen können, warum sich eine Ärztin mit den Fallgewohnheiten von Quitten auskennen müsse, hatte aber Angst, dass dann eine neue Diskussion entfacht würde und sie um Mitternacht noch immer auf diesem Hämorridenholzstuhl ohne Sitzauflage hocken müsste.

„Wenn sie unglücklich fällt, kann sie einen bestimmt verletzen“, sagte sie also. „Ob allerdings tödlich, das weiß ich nicht. Knochen sind ja hart.“

„Ach!“, winkte der schöne Edgar ab. „So schlimm ist das doch alles nicht. Schläge auf den Kopf töten ja Gehirnzellen ab, gell, da muss unsere Hanni keine Angst haben, wo nix is, kann auch nix abgetötet werden, hahaha, hohoho.“

Ich haue mir gleich die Schenkel blutig vor Lachen, dachte Vicky genervt. Der schöne Edgar war offenbar schon durch mit Cindy, hatte sie aus seinem Knusperhäuschen komplimentiert und nach Hause geschickt. „Bis baaaald, Mäuschen, und tschüs, ich ruf dich an!“ Edgar Sablonska war wirklich der größte Schwachkopf, der hier herumhockte. Er hielt sich für unwiderstehlich, seitdem er vor zwanzig Jahren mal auf einer Schaumparty in Gründau-Lieblos zum Mr  Anabolika gewählt worden war und heute noch davon zehrte. Ein entsprechender Pokal stand gut sichtbar in seiner Laube. Edgar erzählte gern hammerlustige Witze, über die nur er lachen konnte („Warum läuft ein Kleingärtner nackt durch den Garten? – Damit die Tomaten rot werden.“).

Er feierte bald seinen vierzigsten Geburtstag und hatte angeblich mal einem Mafioso an einer Ampel die Zähne ausgeschlagen, weil der – Edgar hatte sich ein gebrauchtes Cabrio, erbsmetallicfarben, gekauft, sein ganzer Stolz – gefragt hatte, ob das Cabrio ein Leihwagen und sein Opel Manta in Reparatur sei. Der Mafioso, angeblich ein gesuchter Serienkiller, der opfermäßig gern mit gelöschtem Kalk und Beton arbeitete, fand das nicht lustig und wollte dem schönen Edgar während der Rotphase, so erzählte Edgar es gern, „die Fresse polieren“. Aber Edgar tötete ihn damals natürlich nur mit Blicken und dem Hinweis, er würde „den Jockel“ kennen, und der Mafioso fuhr daraufhin panisch und mit eingezogenem Schwanz davon. Merkwürdigerweise hatte Edgar seitdem, so erzählte man, sehr viel Geld in Zahnersatz investiert und besaß nun viel zu große Pferdezähne, die er regelmäßig bleichen oder färben ließ und die er nur zu gern zeigte. Wäre man nachts mit ihm unterwegs gewesen und hätte keine Taschenlampe dabei gehabt, hätte Edgar nur die Zähne fletschen müssen, und schon wäre der Weg kilometerweit beleuchtet gewesen.

Er trug indiskutable, auch noch nachgemachte Camp-David-Klamotten – dass es so was überhaupt gab! –, auf denen auch diesmal so schwachsinnige Worte standen wie Sailing Crew united Antigua Racing Bay yeah we are sailing around the world great team on the boat in the middle of the sea come with us hooray and honky donky.

Vicky ärgerte sich regelmäßig darüber, dass sie so viel über Edgar und seine Dämlichkeit nachdachte. Eben schon wieder, aber es gab doch Besseres, Schöneres und Wichtigeres, als sich über Herrn Sablonska aufzuregen.

Donald Krall, der Vorstandsvorsitzende, hatte irgendwelche neuen Bestimmungen vorgelesen, die Vicky nicht und auch sonst niemanden außer Paul Müller interessierten, und dann wurden die Verstorbenen geehrt und irgendjemand vom Vorstand entlastet. Sonst blieb alles beim Alten, es mussten auch keine Ämter neu vergeben werden, mit der Kasse stimmte alles, und dann fragte Donald, was denn sonst noch anliege. Er wurde von allen nur Don Krawallo genannt, weil er bei Meinungsverschiedenheiten gern mal laut wurde und sich immer durchsetzen wollte.

Diese Frage war auf Versammlungen jeglicher Couleur gefährlich, nicht nur bei Elternabenden, nein, auch hier und jetzt. Einige hielten die Luft an und hofften, dass der Kelch an ihnen vorüberging, andere, so ab siebzig, schauten gespannt in die Runde, sie hatten nichts weiter vor und freuten sich über die Versammlung, die doch ein bisschen Abwechslung im faden Rentnerdasein bot. Vicky wettete mit sich selbst, wer eine Frage stellen würde, und tippte auf Andrea oder Jonas. Die beiden waren eigentlich ganz reizend, aber sie trieben einen in den Wahnsinn, weil sie immer total betroffen waren, auch so redeten und stets todesgewiss in die Runde guckten. Sie trugen Latzhosen, hatten lange Haare, die sie wegen der Waschmittelumweltbelastung bewusst ganz, ganz selten mit dem Sud aus gesammelten Kastanien wuschen, und arbeiteten als Betreuer für schwer erziehbare und elternlose Jugendliche, die sie manchmal mitbrachten in die gute frische Luft, was in Maßen geduldet wurde. Und gerade schauten sie wieder wie Rehe, die ihren Jäger mit angelegter Flinte vor sich sehen und wissen: Es ist vorbei. Gleich geht es in die Ewigen Jagdgründe.

Jonas hob einen Arm und schnippte leicht mit den Fingern. „Du, Donald, ich hätte da noch ein Anliegen. Es geht um die Ruhe nach zehn.“

„Wer macht denn da noch Lärm?“, wollte Donald aufgebracht wissen und war ganz in seinem Element.

„Na ja, also …“, murmelte Jonas leicht unangenehm berührt und mit ökogepresster Stimme. „Die Carola und die Lotti, die hören ja immer diese Vogel-CDs, halt auch nach zehn, und das ist schon laut, wenn da ein Vogelschwarm zwitschert. Also Hobby-Ornithologie in allen Ehren, aber was zu viel ist, ist zu viel.“

„Das muss geklärt werden“, erklärte Donald wie ein Inquisitor vor einem schon lodernden Scheiterhaufen und deutete mit ausgestrecktem Arm und Zeigefinger auf die Lärmverursacherinnen. „Carola, Lotti, was habt ihr zu eurer Verteidigung vorzubringen?“

Carola wurde sofort giftig und ging in die Offensive. „Das sind die Balzrufe der Dunkelbäuchigen Ringelgans, die CD ist neu, die wird man wohl mal hören dürfen.“

„Du, Carola, das ist echt un-er-träg-lich, die schreien ja richtig, die Gänse“, rechtfertigte sich Jonas. „Das macht mich echt fertig. Und so oft hintereinander! Muss das sein, immer dasselbe?“

„Entschuldige bitte, aber was machst du denn, wenn du eine demente Schwester hast, die hin und wieder etwas vergisst?“, fragte Carola böse. In solchen Situationen arbeitete sie gern mit der beginnenden Vergesslichkeit ihrer Schwester Lotti.

„Waaas?“, krähte Lotti. „Wer hat denn eine demente Schwester?“ Niemand antwortete ihr.

„Also, unsere beiden Jungs, Carola, die konnten gar nicht einschlafen gestern, die waren ganz durcheinander. Du, der Ruf von dieser Gans ist ganz schön aggressiv.“

„Och“, konterte Carola. „Nachdem sie gestern von vier bis sechs volle Bierdosen gegen den Rasenmäher geworfen hatten, bis sie geplatzt sind, und danach versucht haben, unser Dach mit Molotowcocktails anzuzünden, dachte ich, sie seien müde, die Herzchen.“

„Du, der Vitali und der Dustin hatten echt schwere Kindheiten“, erläuterte Jonas traurig und weinte fast in seinen grob gestrickten Norwegerpullover. „Das waren beides Zangengeburten, das ist schon Trauma genug, und dann sind sie gleich nach der Geburt in die Babyklappe geworfen worden.“

„Warum sin sen da net geblibbe?“, fragte Hanni Müller hämisch. „Dene beide gehört de Arsch versohlt. Früher hätts des net gegebbe.“

Carola und Lotti sahen dankbar zu Hanni hinüber.

„Ab zehn ist hier Ruhe!“, wetterte Don Krawallo mit Stentorstimme. „Dass das klar ist. Sonst kriegt der Krachmacher es mit mir zu tun! Dann musst du den CD-Spieler eben leiser stellen, Carola, oder ihr nehmt Kopfhörer. Das wird ja wohl zu klären sein. Wir sind hier nicht im Kindergarten. So, sonst noch was? Nein. Dann habe ich noch die Freude, euch die Namen der neuen Parzellenpächter mitzuteilen. Nicht nur Rüdigers Garten ist frei geworden, sondern auch …“

Also war es doch noch nicht zu Ende. Vicky rutschte auf ihrem Stuhl hin und her und gähnte. Trotz ihres Mittagsschläfchens war sie schon wieder müde. Das machte die frische Wetterauer Landluft.

„Hier, Andrea, weißt du, was passiert, wenn man Viagra im Garten verstreut?“, fragte der schöne Edgar die Öko-Andrea.

„Keine Ahnung, Edgar“, erwiderte Andrea und verdrehte genervt die Augen.

„Man kann die Regenwürmer als Nägel verwenden, harharhar!“ Der schöne Edgar klatschte sich auf die Oberschenkel. „HARHARHAR!“

Lisbeth Sommer

Über Lisbeth Sommer

Biografie

Lisbeth Sommer heißt eigentlich Steffi von Wolff und hat schon zahlreiche Bücher veröffentlicht. Mit ihrem Schrebergraten-Roman hat sie sich wenigstens im Kopf den Traum von einem Gartenhäuschen erschaffen Ihre Kindheit verbrachte sie größtenteils im Kleingarten ihrer Großeltern und fand es toll,...

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