No Sound – Die Stille des Todes (Caleb Zelic 1) — Inhalt
Als Calebs bester Freund ermordet wird, schwört er, den Täter aufzuspüren. Dabei hat der Privatermittler allerdings einen vermeintlichen Nachteil: Er ist gehörlos. Caleb macht dies zu seiner Stärke, denn er kann Menschen auf den ersten Blick einschätzen, gespielte Emotionen von echten unterscheiden und Lippen lesen. Und er vergisst nie ein Gesicht. Alle Spuren in diesem Fall führen überraschend in Calebs Heimatstadt. Er muss erkennen, dass sein bester Freund dunkle Geheimnisse hatte. Und nicht nur er. Je mehr Caleb herausfindet, desto tiefer werden die Abgründe …
Leseprobe zu „No Sound – Die Stille des Todes (Caleb Zelic 1)“
1. Kapitel
Caleb hielt ihn noch immer in den Armen, als die Sanitäter eintrafen. Eigentlich dumm, einen Krankenwagen zu rufen – Gary war tot. Musste tot sein. Mit einer derart aufgeschlitzten Kehle konnte er unmöglich noch atmen. Dieser Meinung schienen auch die Sanis zu sein. Sie blieben am Rand der blutverschmierten Küchenfliesen stehen, den Blick auf Garys leblosen Körper gerichtet. Ein Mann und eine Frau in blauer Uniform und mit müdem Gesichtsausdruck.
„Es ist zu spät“, sagte er.
Die Frau machte einen Schritt zurück. »Haben Sie ein Messer? Einen [...]
1. Kapitel
Caleb hielt ihn noch immer in den Armen, als die Sanitäter eintrafen. Eigentlich dumm, einen Krankenwagen zu rufen – Gary war tot. Musste tot sein. Mit einer derart aufgeschlitzten Kehle konnte er unmöglich noch atmen. Dieser Meinung schienen auch die Sanis zu sein. Sie blieben am Rand der blutverschmierten Küchenfliesen stehen, den Blick auf Garys leblosen Körper gerichtet. Ein Mann und eine Frau in blauer Uniform und mit müdem Gesichtsausdruck.
„Es ist zu spät“, sagte er.
Die Frau machte einen Schritt zurück. „Haben Sie ein Messer? Einen scharfen Gegenstand?“ Sie sprach langsam, jede Silbe eindeutig und wohlgeformt.
„Nein.“ Ihre Miene entspannte sich nicht, weshalb er noch hinzufügte: „Ich habe ihn nicht getötet.“
„Ist noch jemand im Haus?“
„Nein, aber Garys Kinder kommen bald aus der Schule. Bitte, sorgen Sie dafür, dass sie ihn nicht so sehen müssen.“
Sie wechselte einen Blick mit ihrem Kollegen. „Okay, aber wie wäre es, wenn Sie Gary nun loslassen, damit wir ihn untersuchen können?“
Er nickte, schaffte es aber nicht, sich zu bewegen. Die Sanis stimmten sich kurz ab, wagten sich dann zu ihm. Lösten seine Hände von Gary und legten ihn sanft auf den Boden, suchten mit den Fingern nach einem Puls, wo keiner mehr war. Blut an ihren Handschuhen. Auch an ihm – an seinen Händen und Armen, sein T-Shirt war vorn ganz davon durchtränkt. Der Stoff klebte an seiner Brust, noch warm. Hände griffen nach ihm, halfen ihm auf, irgendwie bewegte er sich. Durch das Wohnzimmer, vorbei am umgestoßenen Aktenschrank und den aufgeschlitzten Kissen, den Glasscherben. Fort von dem schauerlichen Etwas, das mal Gary gewesen war.
Er blinzelte in die blasse Melbourner Sonne. Schwach summte die Stimme der Sanitäterin, aber er schaute an ihr vorbei auf die Straße, die aussah wie immer. Eine Reihe nichtssagender Hausfassaden, Trampoline in den Vor-, Labradoodles in den hinteren Gärten. Dort stand sein Wagen, zwei Reifen auf dem Bordstein. Als Gaz ihm die SMS geschickt hatte, war er auf der Peninsula gewesen, um einen Auftrag abzuschließen: gutes Ergebnis, gegenseitiges Schulterklopfen. Es war eine Stunde vergangen, bis er Zeit gefunden hatte, die Nachricht zu lesen. Im Auto war noch eine weitere gekommen, und Caleb war hinter jedem Lkw und jedem rostigen Volvo hängen geblieben. Er hätte sich weder von den roten Ampeln aufhalten lassen sollen noch von der Geschwindigkeitsbegrenzung oder den Gesetzen der Physik.
Blaulicht zuckte über die Straße, während die Dämmerung allmählich in Dunkelheit überging. Caleb saß mit einer Decke um die Schultern am Ende der Krankenwagenliege. Ein Constable, der nach Kotze roch, leistete ihm Gesellschaft. Auch sein Magen rebellierte. Er bekam das Blut nicht von den Händen. Es war in seinen Poren, unter seinen Nägeln. Er rieb sie über seine Jeans, während er dabei zusah, wie zahllose Fremde in Garys Haus verschwanden und wieder herauskamen. Sie trugen Klemmbretter und Beutel und hatten kleine Schutzschuhe über den eigentlichen Schuhen. Auf der anderen Straßenseite beleuchteten die Übertragungswagen der Fernsehsender die gaffende Menge: Nachbarn, Reporter, Kinder mit ihren Fahrrädern. Caleb war zu weit weg, um ihre Gesichter erkennen zu können, aber ihre Sensationsgier war spürbar. Die Luft war aufgeladen wie vor einem nahenden Gewitter.
Der Constable nahm Haltung an, als jemand die Auffahrt herunter auf sie zukam. Es war der bullige Detective, der ihn durchsucht und etwas enttäuscht gewirkt hatte, als er keine Mordwaffe bei ihm gefunden hatte. Etwa Calebs Alter, höchstens Mitte dreißig, kurz rasierte Haare und breite Schultern, die eine Herausforderung für die Nähte seiner Uniformjacke darstellten. Telleco? Temenko? Tedesco.
Tedesco blieb vor dem jungen Polizisten stehen. „Halten Sie die Reporter auf Abstand, Constable. Und wenn Sie noch einmal das Bedürfnis verspüren, sich zu übergeben, zielen Sie lieber auf die Journalisten als auf den Tatort.“ Dann wandte er sich an Caleb. „Ich habe noch ein paar Fragen, Mr Zelic, dann bringe ich Sie auf die Wache, wo Sie Ihre Aussage machen können.“
Ein leichter Rhythmus, der auf einen staubigen Dorfakzent hindeutete, doch ein Schatten verdeckte die Hälfte seines Gesichts. Also machte Caleb ein paar Schritte, um Tedesco ins Licht zu locken.
Tedesco schaute von ihm zur nächsten Straßenlaterne. „Wenn es hier zu dunkel ist, können wir auch näher ans Haus gehen.“
Näher zu Garys Leiche. Zum Geruch von Blut und Angst.
„Hier ist es in Ordnung.“
„Ich nehme an, Sie und Senior Constable Marsden verband mehr als nur eine berufliche Beziehung?“
„Er ist ein Freund.“ Nein. Kein Präsens mehr für Gary. Von nun an nur noch Präteritum: Ich kannte einen Mann, der Gary Marsden hieß, ich liebte ihn wie einen Bruder.
Tedesco beobachtete ihn genau, sein Gesicht wie aus Stein gemeißelt, entsprechend viel Wärme darin. Er holte ein Notizbuch aus der Tasche.
„Dieser dringende Anruf, als er Sie bat, sofort vorbeizukommen. Können Sie sich an den genauen Wortlaut erinnern?“
„Das war eine SMS, ich kann sie Ihnen zeigen.“ Er steckte die Hand in die Hosentasche, aber da war nichts. Scheiße. Er tastete die anderen Taschen ab. „Ich habe mein Handy verloren. Ist es noch im Haus?“
„Eine SMS? Kein Anruf? Dann war es ja doch nicht so dringend. Vielleicht war es nur Zufall, dass er Sie gebeten hat, herzukommen.“
„Nein. Gaz hat mir immer nur SMS geschickt, das tun alle. Und er hatte Angst. Normalerweise schreibt er ganze Sätze, aber diese Nachricht war völlig anders. Sie ging ungefähr so: ›Scott hinter mir her. Komm Haus. Dringend. Sprich niemandem. Niemandem.‹ Und alles in Großbuchstaben.“
Tedesco blätterte langsam durch sein Notizbuch, dann begann er zu schreiben. Wohlgeformte Buchstaben, inklusive Interpunktion, eine strenge, deutliche Handschrift. Das würde er ohne Probleme vor Gericht vorlesen können. Gaz wäre begeistert gewesen.
Er hielt den Stift bereit. „Wer ist Scott?“
„Das weiß ich nicht.“
„Mir ist ziemlich egal, in welche zwielichtigen Geschäfte Ihre Firma verwickelt ist, Mr Zelic. Ich bin bei der Mordkommission und nicht für Betrug oder Drogenkriminalität zuständig. Also, worum geht es hier? Einen geplatzten Deal? Einen Racheakt? Einen Denkzettel?“
„Nein, nichts dergleichen. Trust Works arbeitet sauber. Wir ermitteln in Betrugsfällen oder entwickeln Sicherheitslösungen für Unternehmen, solche Sachen. Meine Partnerin war auch mal bei der Polizei – Frankie Reynolds. Hören Sie sich um, eine Menge Ihrer Kollegen würden die Hand für sie ins Feuer legen.“
„Und Senior Constable Marsden? Wie kommt der ins Spiel?“
„Er hat uns bei einem Fall unterstützt, um sich was dazuzuverdienen.“
Die Idee war ihm spontan über ein paar Bier mit Gaz gekommen. Die Lösung für einen Auftrag, der viel zu groß für sie gewesen war. Einen Auftrag, den Frankie ihm schon vorab auszureden versucht hatte. Warum hatte er bloß nicht auf sie gehört?
Tedesco sprach weiter, fragte, ob Gaz … irgendwas hatte. Feldprobleme. Nein, das konnte nicht sein.
„Wie bitte?“
„Geldprobleme“, wiederholte Tedesco. „Sie haben doch gerade gesagt, er hätte sich was dazuverdient. Hatte er Geldprobleme?“
„Nein, aber seine Kinder sind noch so klein, da braucht man doch immer Geld. Das alles muss irgendwie mit dem Auftrag zusammenhängen. Es gab eine Reihe von Einbrüchen in eine große Lagerhalle. Gaz ist davon ausgegangen, dass die Diebe einen Angestellten geschmiert haben.“
„Constable Marsden wurde nicht von einem windigen Lagerhallenmanager ermordet, Mr Zelic. Das war eine Exekution. Exekution – das ist ein Wort, das man hier am Stadtrand nicht gerade häufig benutzen muss.“
Ein Wort, das so fröhlich aussah: ein kleines Lächeln bei der ersten Silbe, ein leichtes Lippenkräuseln bei der dritten.
„Es ist Blut an den Wänden und der Decke.“ Tedesco zögerte kurz. „Auf Ihnen. Das ist eine Botschaft. Aber von wem? Und was hat sie zu bedeuten?“
„Ich habe keine Ahnung. Er hat sich umgehört. Aber die Sache war nicht gefährlich, nicht … Ich habe keine Ahnung.“
Der Blick des Detectives durchbohrte ihn. Graue Augen; die Farbe von Granit, nicht die des Himmels. Wenn der wortlose Blick eine Vernehmungstechnik war, dann verfehlte sie bei Caleb jede Wirkung: Mit Stille hatte er noch nie Probleme gehabt.
„Okay“, sagte Tedesco schließlich. „Dann kommen Sie mal mit. Ich suche jemanden, der Sie auf die Wache bringen kann.“
„Warten Sie. Der Hund! Der Hund der Kinder. Ich hab ihn nicht gesehen, ist er …?“
Die Antwort des Detectives entging ihm, weil Tedesco sich wegdrehte, aber Caleb hatte seinen Gesichtsausdruck gesehen. Das Aufblitzen eines Gefühls: Trauer. Fuck, die armen Kinder. Tedesco hatte schon halb die Straße überquert, steuerte auf die Menschenansammlung zu. Später, sagte Caleb sich, damit befasst du dich später. Reiß dich jetzt erst mal zusammen. Joggend schloss er zu Tedesco auf und tauchte neben ihm unter dem Flatterband durch. Kameras wandten ihm ihre schwarzen Schnauzen zu. Dann die Scheinwerfer, dann reckten sich ihm Mikrofone entgegen, alle Geräusche vermischten sich zu einem einzigen Dröhnen. Er erstarrte.
Tedesco war vor ihm, sein Mund bewegte sich schnell. Er sprach von was? Paradies? Parasit?
„Das habe ich nicht verstanden“, sagte Caleb, dann merkte er, dass er gebärdete. Er versuchte es noch mal lautsprachlich.
Der Detective griff nach seinem Arm und zog ihn zu einem der Streifenwagen, schob ihn hinein. Die Tür knallte hinter ihm zu, konnte aber die hungrigen Gesichter nicht aussperren.
Caleb schloss die Augen und schaltete die Hörgeräte aus.
Scott. Ein sanfter Name, nur ein Zischen und Luft. Wer zur Hölle war dieser Scott? Und warum hatte Tedesco zwanzig Sekunden lang in einem offenbar leeren Notizbuch geblättert, nachdem Caleb ihm den Namen genannt hatte?
2. Kapitel
Er duschte, warf seine blutigen Sachen in den Müllcontainer des Wohnblocks und duschte gleich noch mal. Dann tauchte eine an Halloween erinnernde Erscheinung in seinem Badezimmerspiegel auf: weiße Haut, die sich stark gegen die schwarzen Haare abhob, dunkle Höhlen, wo sonst Augen waren. Und was jetzt? Versuchen zu schlafen? Zu essen? Er ging ins Wohnzimmer. Die pinkfarbenen Wände und orange gestreiften Möbel kreischten ihm selbst im Halbdunkel grell entgegen. Es waren Relikte der Vormieterin, genauso der lilafarbene Teppich und der noch immer präsente Geruch von Räucherstäbchen. Frankie war bei ihrem ersten Besuch hier regelrecht erschaudert und hatte ihm dann zur Einweihung eine Dose weißer Farbe geschenkt. In den achtzehn Monaten, die seither vergangen waren, hatte er es gerade einmal geschafft, die Dose vom Boden auf den Flurtisch zu stellen. Zehn Liter. Würde das reichen, um Garys Küche zu streichen? Aber erst müsste man die Wände und die Decke ordentlich reinigen. Und den Boden.
Etwas Fürchterliches erwachte in ihm und wollte hinaus. Beweg dich. Beweg dich und bleib nicht stehen. Er verließ das Wohnzimmer und hatte gerade den Flur zur Hälfte durchquert, als es an der Tür zu blinken anfing: Jemand klingelte. Es war Frankie. Sie trug wie üblich Jeans und dazu ihre abgetragene Lederjacke. Ihre kurzen, grauen Haare hatten lila Spitzen und standen in alle Richtungen ab.
„Cal.“ Sie verlagerte das Gewicht des Rucksacks auf eine Schulter und öffnete die Arme. „Scheiße, Mann. Es tut mir so leid.“
Er ließ sich auf die knöcherne Umarmung ein und blinzelte, weil seine Augen plötzlich brannten.
Sie drückte ihn sehr fest, gab ihn dann frei. „… zu Hause? Ich … Stunden …“
„Wie bitte?“
Sie musterte ihn kurz, drückte dann auf den Lichtschalter. Die plötzliche Helligkeit ließ ihn zusammenzucken.
„Seit wann bist du zu Hause? Ich schreibe dir seit Stunden Nachrichten.“
„Ich hab mein Handy verloren. Ich suche es später irgendwann, aber jetzt muss ich los.“ Die Wörter verhedderten sich in seinem Mund, waren zu schnell für seine Zunge. „Ich muss mit allen sprechen. Irgendwer muss doch wissen, wer Scott ist.“ Er machte einen Schritt vor, aber Frankie versperrte ihm den Weg, ihr Gesicht sonderbar ausdruckslos.
„Cal, es ist ein Uhr nachts.“
„Oh.“ Er warf einen Blick auf die Uhr. Seine Hand zitterte.
Sie legte ihm den Arm um die Schultern. Frankie war groß genug, dass sie sich dafür nicht allzu sehr strecken musste.
„Komm“, sagte sie und brachte ihn ins Wohnzimmer. „Setz dich, ich bin gleich wieder da.“ Sie verschwand in der Küche.
Er ließ den Kopf in die Hände sinken. Vor drei Tagen hatte er auf diesem Sofa gesessen und Gaz davon überzeugt, ihm bei dem Fall zu helfen. Es ging um einen möglichen Versicherungsbetrug – ein paar professionelle Überfälle auf eine Lagerhalle in Coburg und den Diebstahl von Zigaretten im Wert von zwei Millionen Australischen Dollar. Gaz sollte nur ein paar Gespräche führen, nach ähnlichen Fällen suchen. Drei Tage. Zweiundsiebzig Stunden. Was konnte denn in dieser Zeit schon passiert sein?
Exekution – Blut an den Wänden und der Decke.
Eine Berührung an der Schulter. Frankie kauerte über ihm und hielt ihm einen Kaffeebecher hin, dessen Inhalt nach Katzenfutter roch.
„Champignonrahmsuppe“, sagte sie und stellte den Becher vor Caleb auf den Couchtisch.
Caleb starrte ihn an. Frankies Vorstellung vom Kochen beschränkte sich darauf, eine Tüte Chips aufzureißen.
„Du hast Suppe gemacht?“
„Gemacht? Geht’s noch? Die ist aus der Dose. Ich hatte die Wahl zwischen der oder Müsli.“ Sie ließ sich ihm gegenüber auf den Sessel plumpsen und stupste mit dem Fuß gegen ihren Rucksack. „Ich hab Johnny mitgebracht, weil ich davon ausgehe, dass du sicher nix Stärkeres als Bier im Haus hast.“
Ein Drink war keine schlechte Idee. Oder doch. Eine schreckliche für Frankie. Sie war seit sechs Jahren trocken, aber damals, als er noch als Versicherungsprüfer gearbeitet und sie kennengelernt hatte, hatte sie den Geruch von Whisky wie Parfum getragen.
„Später vielleicht“, murmelte er.
„Fuck, Cal, ich weiß echt nicht, was ich sagen soll. Und du hast ihn gefunden? Gott!“ Sie fuhr sich mit der Hand durchs Haar, das daraufhin senkrecht stehen blieb. „Und das Telefon – wie hast du denn die Polizei gerufen?“
Garys Telefon umklammert. In die Stille gesprochen. Gehofft, nein, gebetet, dass ihn jemand hörte, dass jemand kommen würde.
„Ich hab den Notruf gewählt und einfach sofort alles durchgegeben. Der verantwortliche Detective heißt Tedesco. Sagt dir der Name was? Kennst du ihn?“
Sie machte schmale Augen und schüttelte dann den Kopf. „Muss nach meiner Zeit gekommen sein. Und was ist jetzt? Wirst du verdächtigt? Die Idioten haben mir rein gar nichts erzählt.“ Der Mangel an Mitteilungsbereitschaft bei ihren früheren Kollegen schien sie ein wenig zu frustrieren.
„Ich glaube nicht. Die haben sich sehr schnell beruhigt, als sie kapiert haben, dass ich kein Messer habe.“
„Wie, du glaubst nicht? Mensch, Cal, hast du denn keinen Dolmetscher verlangt?“
Hitze explodierte in seinem Gesicht. „Ich brauche keinen verdammten Dolmetscher!“
„Krieg dich wieder ein. Du weißt genauso gut wie ich, dass du manchmal besser und manchmal schlechter klarkommst. Besonders, wenn du müde bist oder unter Schock stehst oder von Fragen bombardiert wirst. Würde mich überraschen, wenn du die Hälfte von all dem mitbekommen hättest, was gesagt wurde.“
„Ich hab alles mitbekommen. Tedesco meint, Gaz war in irgendwas verwickelt. Das denkt er übrigens auch über uns. Und für den Auftrag mit der Versicherung hat er sich überhaupt nicht interessiert.“
„Die Sache mit der Lagerhalle? Was hat die denn damit zu tun?“
„Gaz hat mir geschrieben, dass ein Scott hinter ihm her ist.“ Er schluckte. „Als ich die SMS gelesen habe, war es schon zu spät.“
„Bei mir hat er sich auch gemeldet.“ Sie schaute weg. „Ich habe die Mailbox drangehen lassen. Ich war gerade dabei … Fuck.“
Himmel, wen hatte Gaz denn noch alles kontaktiert?
„Was hat er denn draufgesprochen? Irgendwas über den Fall? Oder Scott?“
„Nein, nur dass ich zurückrufen soll. Aber Cal, an dem Fall ist niemand beteiligt, der Scott heißt.“
„Bist du ganz sicher? Es gibt so viele Angestellte in der Lagerhalle. Und dann ist da noch der Wachdienst, der …“
„Hey, ich bin denen so tief in den Hintern gekrochen, ich weiß sogar, wer von ihnen mehr Ballaststoffe essen sollte – da gibt es keinen Scott. Und nichts deutet darauf hin, dass die Diebe gewalttätig sind.“
„Hast du nicht gesagt, dass beim zweiten Überfall jemand verletzt wurde?“
„Einer der Wachleute, aber der hatte nicht mal ’ne wirkliche Beule. Hat eher den Eindruck gemacht, als hätten sie alles darangesetzt, ihn nicht zu verletzen.“ Sie tippte auf die Sessellehne, ein ungleichmäßiger Rhythmus, an dem jeder Finger beteiligt war. „Wie war Gary … War er … Hat das einen professionellen Eindruck gemacht? Wie sind die reingekommen?“
„Haben die Haustür aufgebrochen.“ Nein, das konnte nicht stimmen. Er hatte auf Garys Veranda gestanden, die Wintersonne war über seine Schulter auf das unbeschädigte Schloss gefallen. „Gott, nein. Er hat ihnen aufgemacht. Er hat ihnen die Tür aufgemacht.“
„Meinst du, er hat vorher geguckt, wer draußen stand?“
„Ein Polizist mit kleinen Kindern? Klar, jedes Mal.“
„Dann muss es jemand gewesen sein, der vertrauenswürdig aussah. Vielleicht jemand, der Spenden gesammelt hat? Oder ein Paketzusteller?“
Aber als sie noch Kinder waren, hatte er Gaz doch beigebracht, worauf man achten musste. Wie man die Augen und Hände von anderen Leuten las. Wann ein Seitenblick hieß, dass er die Beine in die Hand nehmen sollte oder als Erster zuschlagen musste. Hatte Gary sich wirklich so täuschen können? Jemandem die Tür öffnen, der ein Klemmbrett und ein Messer dabeihatte?
Er schaute Frankie in die Augen. „Er muss die Person gekannt haben.“
Sie sagte nichts, saß einfach sehr still da, die Hände im Schoß gefaltet.
„Zwei Angreifer“, fuhr er fort. „Vielleicht drei. Gaz wusste, wie man sich wehrt, aber im Flur gab es keine Kampfspuren. Einer auf jeder Seite, einer an seinen Beinen, und dann haben sie ihn schnell in den hinteren Teil des Hauses gebracht, damit keiner der Nachbarn was mitbekommt. Sie haben den Hund getötet, damit er still ist, und dann haben sie das Haus verwüstet. Dafür haben sie sich Zeit genommen, haben jedes Kissen aufgeschlitzt, die Schubladen ausgeleert, den Fernseher und den Computer zertrümmert.“
Was haben sie zuerst gemacht? Gemordet oder randaliert? Denk nicht an Gary, seinen leeren Blick, denk nur an das Wohnzimmer. Bücher überall am Boden, Blutspritzer auf den Seiten.
„Die haben erst alles verwüstet, dann haben sie ihn umgebracht. Ich glaube, sie haben ihn gezwungen, sich hinzuknien.“ Eine zur Faust geballte Hand, die ihn an den Haaren packte, die weiche Kehle entblößt. Hat er um sein Leben gefleht? Das Aufblitzen von Silber und dann das kalte Brennen der Klinge. „Er ist nicht gleich gestorben. Das Blut … es ist rausgespritzt.“ Er blinzelte, versuchte, sich zu konzentrieren. Frankies Augen waren feucht. „Warum haben sie denn so ein Chaos angerichtet?“, fragte er. „Warum das Risiko eingehen, sie hatten es doch eilig?“
„Vielleicht haben sie was gesucht.“
„Sie hätten doch nicht suchen müssen, Gaz hätte es ihnen gegeben. Die Kinder hätten jeden Moment nach Hause kommen können. Sharon auch. Ihm wäre nichts wichtiger gewesen als ihre Sicherheit.“
„Vielleicht wollten die Mörder damit ja was mitteilen.“
„Da ist Tedesco deiner Meinung.“
„Kluger Mann.“
„Nicht so klug, wenn er denkt, dass Gaz korrupt war.“
Darauf erwiderte sie nichts, fing nur wieder an, auf die Armlehne zu tippen.
„Sag es doch einfach“, forderte er sie auf.
„Wieso ist Tedesco gleich zu diesem Schluss gekommen?“
„Weil er ein Idiot ist.“
„In dreißig Jahren Polizeidienst ist mir nicht ein dummer Mordkommissar begegnet. Arschlöcher noch und nöcher, aber keine Idioten.“ Sie wedelte mit der Hand in der Luft herum. „Reg dich nicht auf, ich will damit ja nicht sagen, dass Gary korrupt war. Nur, dass du dich raushalten und diesen Tedesco seinen Job machen lassen sollst.“
„Ich kann einfach nicht … Ich hab ihn ins Boot geholt, Frankie. Ich hab ihn da in was reingezogen, ohne selbst zu wissen, in was.“ Es schnürte ihm die Kehle zu.
„Das konnte niemand wissen. Weil es da nämlich keine Verbindung gibt.“
Sie redete weiter, aber er ließ den Blick wandern. Wörter, das waren doch nur noch mehr Wörter, die rein gar nichts an der Wahrheit änderten.
Sie schlug ihm gegen den Arm. „Schau mich gefälligst an, wenn ich mit dir spreche! Wie alt bist du denn bitte? Drei?“
„Ich brauche keine aufbauenden Worte, Frankie.“
„Das waren keine aufbauenden Worte, ich hab dir gerade ordentlich den Kopf gewaschen!“ Sie schaute demonstrativ auf seine Hände, woraufhin ihm bewusst wurde, dass er über seine Jeans rieb. Sofort hörte er damit auf.
„Pass auf“, sagte sie. „Wenn dir das hilft, können wir uns ja morgen mal ein bisschen umschauen, ein paar Fragen stellen. Okay? Gut. Dann iss jetzt die verdammte Suppe, damit ich sie nicht länger angucken muss. Die Farbe erinnert mich an Katzenkotze.“
Graue Haut hatte sich darauf gebildet. Er wusste, er sollte sie runterwürgen. Denn nichts zu essen, war das erste Anzeichen. Das nächste war, nicht zu schlafen. Und dann dauerte es nicht lange, und man bekam gar nichts mehr hin. Wer Glück hatte, fand Hilfe bei einem Freund, der einen zu einem Neustart in einer winzigen Wohnung mit rosafarbenen Wänden und orange gestreiften Möbeln bewegte.
Er zwang einen Schluck hinunter. „Danke.“
„Schmeckt’s? Zum Nachtisch kann ich noch staubiges Müsli anbieten.“
3. Kapitel
Gary griff mit blutigen Händen nach ihm, schüttelte ihn.
„Sie haben den Hund getötet, Cal. Warum hast du die Tür aufgemacht?“
Er erwachte mit einem Ruck, sein Atem ging stoßweise. Gary rüttelte weiter an ihm. Einen schrecklichen Moment lang war er in seinem Albtraum gefangen, bis er begriff: Es war sechs Uhr morgens, und sein Vibrationskissen war angegangen. Himmel! Hektisch tastete er nach dem Ausschaltknopf, schwang die Beine aus dem Bett und schlüpfte in seine Laufklamotten. Einschlafen würde er schließlich sowieso nicht wieder können.
Schnell ins Bad, um kurz zu pinkeln und sich eine Handvoll Wasser ins Gesicht zu schaufeln. Seine Hörgeräte lagen wie kleine rosafarbene Schnecken auf der Ablage. Teuer genug, um ein gewaltiges Loch in seine Ersparnisse zu reißen, klein genug, um sie unter den Haaren zu verbergen. Sie verwandelten die Stille in seinen Ohren in dumpfe Klänge, verzerrt und nicht zu verorten, wie die Geräusche einer Unterwasserwelt. Seine Hand schwebte über ihnen. Wäre dumm, sie nicht zu benutzen: Mit ihnen entging ihm kein warnendes Hupen und kein anfahrender Lkw. Aber eben auch kein anderes unbestimmbares Surren oder Brummen. Nein, noch nicht. Erst ein langer Lauf am Fluss entlang. Nur seine Schritte und Atemzüge, das Beißen des kalten Winds in seinem Gesicht. Er drehte sich um und rechnete fast damit, Kat im Türrahmen stehen zu sehen, die Augen noch müde, auf den Lippen die deutliche Warnung, vorsichtig zu sein. Komisch, wie schwer eine Leere auf einem lasten konnte.
Er fand Frankie ausgestreckt auf der Couch. Sie hatte ihn gegen zwei Uhr ins Bett geschickt und gesagt, für die paar Stunden Schlaf könne sie genauso gut hierbleiben. Er war sich ziemlich sicher, dass sie schnarchte. Ihr Mund stand offen, ihre Haare waren platt. Insgesamt bot sie einen sonderbar beruhigenden Anblick. Mit ihr zusammen vor fünf Jahren Trust Works zu gründen, war eine seiner besseren Entscheidungen gewesen – es gab nicht viel, das Frankie noch nicht gesehen und überstanden hatte. Vermutlich verdankte sie das ihrer Fähigkeit, immer und überall schlafen zu können.
Er stellte ihren Handywecker auf 7:30 Uhr und fügte gleich noch ein paar Erinnerungen im Abstand von jeweils fünf Minuten hinzu. Dann beugte er sich hinunter, um das Telefon in der Nähe ihres Ohrs zu platzieren. Hielt inne. Roch … Er sah sich um, ließ sich auf alle viere fallen. Unter der Couch lag die Flasche Johnny Walker Red. Er zog sie hervor: halb leer. Fuck. Fuck. Sechs Jahre trocken und ausgerechnet jetzt wurde sie rückfällig. Was nun? Sollte er die Flasche offen hinstellen, um Frankie damit zu konfrontieren? Den Rest wegkippen? Ihr eins überziehen?
Er schob die Flasche zurück unters Sofa und ging laufen.
Um 8:30 Uhr saßen sie im Auto. Frankie fuhr, während er die Aufzeichnungen zu dem Auftrag überflog, die sie ausgedruckt hatte. Mit Furcht einflößender Regelmäßigkeit richtete sie sich mit Gebärden an ihn. Über die Jahre hatte sie eine Handvoll AUSLAN-Gebärden aufgeschnappt, die meisten ziemlich einfach. Und sie war langsam. Entsetzlich langsam.
„Mann gut“, gebärdete sie, während sie in die St. George’s Road bog. „Zwanzig Jahre.“ Sie ließ das Lenkrad los, um mit den Armen ein X für „Arbeit“ zu formen.
Wahrscheinlich meinte sie den Wachmann, zu dem sie gerade unterwegs waren, aber er wollte das Gespräch nicht noch in die Länge ziehen, indem er nachfragte.
„Verletzt. Erinnerung, nein. Trauriger Kopf.“
Gute Mimik zu den Gebärden, ein wirklich großer Fortschritt. Leider hieß das aber auch, dass sie zu ihm schaute statt auf die Straße. Sein Fuß trat auf ein imaginäres Bremspedal, als sie langsam auf die Spur eines entgegenkommenden Lkw drifteten.
„Wir beide haben auch gleich ziemlich traurige Köpfe, wenn du dich nicht auf die Scheißstraße konzentrierst.“
Sie lenkte den Wagen mit einer Hand zurück, während sie mit der anderen das universell verständliche „Fick dich“-Zeichen machte. Nächstes Mal würde er fahren. Leider stand sein Wagen noch vor Garys Haus, und es würde sicher noch eine Weile dauern, bis er es über sich brachte, dorthin zurückzukehren.
„Sein Name …“ Sie klemmte das Lenkrad zwischen die Ellbogen und buchstabierte im Schneckentempo. Eine Faust auf die andere – G. Antippen des Mittelfingers – I.
Er warf einen Blick auf die Akte: Giannopoulos. Sie würden sterben!
„Arnie Giannopoulos“, sagte er. „Sechzig Jahre alt. Arbeitet seit zwanzig Jahren für City Sentry Security. Hat eine leichte Gehirnerschütterung und erinnert sich nicht an den Überfall.“ Er deutete aus dem Fenster. „Thompson Street ist hier rechts.“
Frankie täuschte einen Blick über die Schulter an und zog dann schnell vor einem heranrasenden Lieferwagen über die rechte Spur.
Als Caleb die Augen wieder öffnete, hielt sie gerade vor einem baufälligen Bungalow.
„Ist es okay, wenn ich das Reden übernehme?“, fragte Frankie, bevor sie ausstiegen.
Code für: Bist du fit genug, um einem Gespräch zwischen zwei Personen zu folgen?
„Klar.“
„Der scheint nämlich was an mir zu finden.“
„Oh, echt?“ Das hieß, er musste den bösen Bullen mimen, ein Rollenwechsel, der ihm häufig Probleme machte.
Er betrachtete das Haus, während sie auf die Tür zugingen. Das Dach musste saniert werden, außerdem brauchte die Holzfassade dringend Zuwendung, und es hätte einiges mehr daran zu tun gegeben. Deshalb stachen die neuen Gitter vor den Fenstern wohl auch besonders ins Auge. Auf den Fensterbänken lagen noch Holzspäne vom Bohren. Er machte Frankie mit einem Kopfnicken darauf aufmerksam, nachdem sie geklopft hatte und sie darauf warteten, dass jemand an die Tür kam.
„Das Schloss ist auch neu“, erwiderte sie.
Als sie sich ihm zuwandte, fiel die Sonne auf ihr Gesicht. An jedem anderen Tag konnte Frankie als übellaunige Sechzehnjährige durchgehen, heute hingegen sah man ihr jedes einzelne ihrer siebenundfünfzig Lebensjahre an: rot umränderte Augen, schlaffe Haut und hohle Wangen. Als er von seinem Morgenlauf zurückgekommen war, war von der Flasche nichts mehr zu sehen gewesen. Weder er noch sie hatte ein Wort darüber verloren.
Die Tür öffnete sich wenige Zentimeter, ein Mann linste über eine Sicherheitskette. Sein langes Gesicht schillerte in allen Farben des Regenbogens. Das eine Ohr war geschwollen, außerdem hielten Klammerpflaster eine üble Wunde zusammen, die von seinem blutunterlaufenen Auge bis zu seinem Mundwinkel reichte. Ein bewusst gesetzter Schnitt, gerade und tief.
Caleb schielte zu Frankie – das war definitiv eine gravierendere Verletzung als nur ein Schlag auf den Kopf, von dem im Polizeibericht die Rede gewesen war.
„Neu“, formte sie mit den Lippen.
„Nicht schon wieder die Bullen“, brummte Arnie. Missmutige, ungeduldige Miene, während er mit aufmerksamem Blick die Straße hinter ihnen absuchte. Ziemlich viel Gezucke und Geblinzel.
Frankie begutachtete ihn demonstrativ. „Sie sehen ja übel aus, Arnie. Was ist denn passiert?“
„Eine Art Unfall.“
Caleb verpasste Frankies Antwort, aber Arnie schloss seinen abgenutzten Morgenmantel enger um sich. „Nein“, sagte er. „Nicht hier. Kommen Sie rein.“ Er löste die Sicherheitskette, winkte sie herein und legte die Kette hinter ihnen wieder vor.
„Bullen?“, gebärdete Caleb, während Frankie und er dem Wachmann durch den dunklen Flur folgten. Die ehemalige Sergeant Francesca Reynolds grinste nur.
Arnie führte sie in ein spärlich beleuchtetes Wohnzimmer und ließ sich in einen der Sessel fallen. Es roch nach altem Potpourri und ungewaschener Haut. Auf dem Kaminsims drängten sich Katzenjunge und Welpen aus Porzellan, und an den Wänden hingen gerahmte Stickbilder mit Farmszenen. Selbst auf dem Polster der Sitzgruppe setzte sich das Thema fort: Kühe und Pferde, ein Sonnenaufgang über grünen Weiden. Entweder war Arnie mal verheiratet gewesen, oder er hatte eine gespaltene Persönlichkeit.
Der Wachmann war gerade mitten in einer Tirade, seine Arme unbeholfen vor der Brust verschränkt. „… zu kommen … die Leute und … hat Rechte …“
Scheiße, bei den schlechten Lichtverhältnissen bekam er die Hälfte der Unterhaltung nicht mit. Der beste Zeitpunkt, den bösen Bullen zu spielen. Er hielt direkt auf Arnie zu, blieb bedrohlich nah vor ihm stehen, schaute dem blinzelnden Wachmann in die Augen, beugte sich vor und schaltete die Tischlampe ein. Ein rosiger Schein fiel auf Arnies Gesicht. Nicht gerade die einschüchternde Wattleistung, mit der er gerechnet hatte. Die Kätzchen auf dem Lampenschirm halfen auch nur bedingt. Den Blickkontakt mit Frankie meidend, wanderte er zum Kaminsims und lehnte sich dagegen.
„Entschuldigen Sie, Arnie“, sagte Frankie. „Das war ein langer Tag gestern. Darf ich mich setzen?“
„Oh.“ Arnie ließ die Arme ein Stück sinken. „Natürlich, natürlich. Harter Job für ein Mädchen … äh … eine Dame.“
Frankie lächelte zurückhaltend und setzte sich zu ihm. „Nicht so hart wie Ihrer. Sie sehen aus, als wären Sie seit unserer letzten Begegnung im Krieg gewesen.“
Frankies Unschuldsnummer jagte Caleb immer eine Heidenangst ein: Er rechnete jedes Mal damit, dass sich ihr Kopf im nächsten Moment um dreihundertsechzig Grad drehen würde. Jetzt beobachtete er Arnie, während Frankie ihre dunkle Magie einsetzte. Kurze, abgehackte Sätze, trockene Lippen, die an seinen Wörtern pickten wie Hühnerschnäbel. Klare Konsonanten, abgesehen von den fast nicht sichtbaren Gs. Sehr leicht zu lesen, aber woher kam seine Nervosität? Die meisten Männer beruhigten sich schnell, wenn Frankie sich entschloss, charmant zu sein, aber Arnie wirkte, als würde er gleich losweinen. Wäre sicher interessant zu sehen, wie er auf ein bisschen Schnüffelei reagierte. Caleb schaute noch ein paar Sätze lang zu, löste sich dann vom Kamin und schlenderte aus dem Wohnzimmer. Arnie zappelte unruhig in seinem Sessel, hielt ihn aber nicht auf.
Als Erstes ging er ins Schlafzimmer. Mehr niedliche Figuren auf dem Nachttisch. Caleb nahm einen dümmlich aussehenden Schäferhund in die Hand und begutachtete die dicke Staubschicht darauf. Also doch nicht der Schrein einer vor Urzeiten entschwundenen Ehefrau, nur der Hausstand eines Mannes, der offenbar nicht genug Energie aufbringen konnte, etwas am Zustand seiner Umgebung zu ändern. Völlig unnötig, hier persönliche Bezüge herzustellen. Als Nächstes warf er einen Blick in den Schrank. Hinter den säuerlich riechenden Klamotten und den abgelaufenen Schuhen verbarg sich kein Tresor. Auch nicht hinter der Tapete mit den hüpfenden Lämmern. Weiter in die Küche. Kühlschrank und Herd waren museumsreif, keine Mikrowelle. Wenn Arnie korrupt war, dann schien er sehr diszipliniert zu sein und nichts von dem Geld auszugeben.
Caleb ging zur Hintertür, blieb stehen. Ein blasser Fleck auf den Dielen. Eine Stelle, so groß wie ein ausgewachsener Mann, war ordentlich geschrubbt worden. Dunkle Spuren, wo etwas zwischen die Dielen gelaufen war. Hier war Arnie offenbar von seinen Angreifern erwischt worden. Viel Blut für nur einen Schnitt. Vielleicht war Arnie ja Bluter. Kalter Schweiß brach auf Calebs Stirn aus. Er holte kurz Luft, schob dann die Hände in die Hosentaschen und schlenderte zurück ins Wohnzimmer. Frankie schaute ihn mit einem Stirnrunzeln an.
Er stellte sich wieder an den Kaminsims und konzentrierte sich auf Arnie.
„… letzten Dienstag“, sagte der Wachmann. „Ein blöder Unfall. War im Pub mit meinem Kumpel, Pearose. Ich vertrag nicht mehr so viel wie früher. Bin aufm Rückweg hingeknallt. Voll auf die Fresse, Blut überall. Pearose meinte, ich hatte Glück, dass mir nicht gleich ganz die Lichter ausgegangen sind.“
Pearose? Das konnte nicht stimmen. Er nahm sich vor, Frankie später danach zu fragen.
„Sie waren zwei Tage nach dem Überfall was trinken?“, fragte Frankie.
„Ja, nur ein paar Drinks mit ’nem Kumpel. Ist doch nix dabei.“
„Aber Sie haben doch eine Gehirnerschütterung?“
Arnies Mund blieb für einen Moment offen stehen. „Leichte Gehirnerschütterung.“ Er versuchte sich an einem Lächeln. „Ich hab einen dicken Schädel.“
Frankie schüttelte den Kopf. „Arnie, wir wissen, was passiert ist. Sie haben beim Überfall was mitbekommen, und jetzt wollte jemand sicherstellen, dass Sie die Klappe halten.“
„Nein, ich …“
„Er hat Sie richtig verletzt, oder? Sie geschlagen, getreten?“ Sie legte ihre Hand auf seine. „Mit einem Messer nachgeholfen.“
„Nein.“ Arnie wickelte seinen Morgenmantel wieder fester um sich. „Ich bin gefallen. Ich bin gefallen, und da … da waren Scherben.“
Genug.
„Einer seiner Kumpels hat Sie festgehalten, während er Sie mit dem Messer bearbeitet hat“, sagte Caleb.
Arnie schaute ihn an. „Was?“
„Hier, bei Ihnen zu Hause. Wo Sie dachten, sicher zu sein. Was glauben Sie denn, was er macht, wenn er erfährt, dass Sie gesungen haben?“
„W-was?“
„Das werde ich nämlich erzählen, sobald wir von hier verschwunden sind. Die schönen, neuen Gitter vor den Fenstern werden ihn nicht abhalten. Genauso wenig die neuen Schlösser. Mit dem Vorschlaghammer durch die Tür, den Flur entlang und schon ist er in Ihrem Zimmer. Mit dem Messer.“
Arnies Hand zuckte zu seiner Wange. „Ich bin gestürzt.“
„Ich hab gesehen, was er mit diesem Messer anrichten kann, Arnie. Gestern hat er einen Polizisten ermordet, einen Freund von mir. Hat ihm die Kehle aufgeschlitzt. Schön langsam, damit Gaz auch alles genau mitbekommt. Er konnte zugucken, wie sein Blut an die Wände und bis an die Decke spritzte. Über die Spielsachen seiner Kinder.“ Er hatte den Raum durchquert und beugte sich jetzt drohend über den Wachmann. „Können Sie sich vorstellen, wie das aussieht, Arnie? Wie das riecht?“
Ein Schmerz an seinem Handgelenk. Frankie, die an ihm zog. Er machte einen Schritt zurück, sein Brustkorb hob und senkte sich mit jedem schnellen Atemzug. Frankie warf ihm einen Halt-dich-gefälligst-zurück-Blick zu, aber Arnie streckte eine Hand in seine Richtung.
„Bitte, sagen Sie nichts. Der bringt mich um.“
„Wer denn, Arnie? Wir können Sie nicht beschützen, wenn Sie uns nicht helfen.“
Der Wachmann schüttelte den Kopf wie ein Tier, das in der Falle sitzt.
„Wir verraten niemandem, dass wir die Info von Ihnen haben. Nicht Ihrem Arbeitgeber, nicht der Polizei. Niemandem.“
Arnie zuckte zurück. „Sie sind gar nicht von der Polizei?“
Scheiße. Verdammter Amateurfehler.
Der Wachmann kam auf die Beine. „Mistschweine, taucht hier einfach so auf! Verschwindet!“
Jetzt redete Frankie, ihre Hände machten beschwichtigende Gesten.
„Verschwindet! Verschwindet, verdammt!“ Speichel flog aus Arnies Mund. Er riss einen Arm hoch, deutete zur Tür, wobei sein Morgenmantel sich öffnete und den Blick auf eine blasse, unbehaarte Brust freigab. Eine rote Schnittwunde prangte auf seiner Haut, vielleicht eine Hand breit. Hastig schloss er den Mantel wieder, aber da hatte Caleb schon erkannt, was der Schnitt darstellen sollte. Galle stieg ihm in den Mund.
Jemand hatte ein S in Arnies Brust geritzt.
Der Held meines Buches No Sound – Die Stille des Todes war von Anfang an in Schwierigkeiten. Caleb Zelic war alles, was ich von einem Ermittler wollte – lustig, wachsam, isoliert und unendlich stur, und er war zudem gehörlos. Obwohl ich Caleb liebte und dachte, er würde ein interessanter Protagonist werden, hatte ich Angst.
Ich bin eine professionelle Klarinettenspielerin. Ich habe die meiste Zeit meines Lebens damit verbracht, über den Klang nachzudenken. Jahrelang spielte ich in Orchestern und Opern, übte und perfektionierte Klangnuancen. Sogar dem Schreiben nähere ich mich durch den Klang, schreibe erste Entwürfe, die sich wie Drehbücher lesen, Seite für Seite Dialoge, die nur kurz von Beschreibungen des Ortes unterbrochen werden.
Das Beschreiben eines gehörlosen Charakters fühlte sich zu weit entfernt von dem an, was ich wusste. Und was noch wichtiger war: Wenn man etwas beschreibt, das außerhalb der eigenen Erfahrungen liegt, geht damit eine große Verantwortung einher. Caleb ist kein Vertreter der Gehörlosengemeinschaft, doch ihn falsch darzustellen könnte Menschen verletzen. Ich habe versucht, ihn zum Hören zu bringen, aber es hat nicht funktioniert. Wenn ich seine Geschichte aufschreiben wollte, musste ich ihn so beschreiben, wie ich ihn sah.
Meine Bedenken, dass seine Gehörlosigkeit zu zentral für den Roman sein könnte, wurden ebenfalls ausgeräumt: Obwohl es ein wichtiger Teil von ihm ist, ist es nicht alles, was ihn ausmacht. Zu guter Letzt musste ich entscheiden, ob Caleb die australische Zeichensprache (Auslan) verwenden würde oder nicht. Obwohl Caleb entschlossen ist, in der Welt des Hörens zu leben, war ich von der Idee angezogen, dass er Gebärden verwendet und auch Lippen liest. Meine Schule lag in der Nähe der Gehörlosenschule, und auf der täglichen Fahrt sah ich eine Gruppe von schnell gestikulierenden Schülern. Ihre ausdrucksstarke Kommunikation schien eine Welt fernab des Lippenlesens zu sein.
Es dauerte fünf Jahre, bis ich No Sound – Die Stille des Todes geschrieben hatte, Ich habe auf dem Weg dorthin viel gelernt, einschließlich der unerwarteten Vorteile, die es mit sich bringt, einen gehörlosen Charakter zu schreiben. Während ich mich natürlich für Dialoge interessiere, ist Caleb auf die körperlichen Reaktionen der Menschen eingestellt. Neben dem Lesen ihrer Worte muss er auch auf ihre Ausdrücke, Körpersprache und Interaktionen achten. Bei der Erschaffung seiner Figur bin ich viel aufmerksamer geworden, was mein Umfeld und meine Mitmenschen angeht – ein wunderbares Geschenk für mein Schreiben und für mich.
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