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No Trace – Die Spur des Bösen (Caleb Zelic 3)

No Trace – Die Spur des Bösen (Caleb Zelic 3) - eBook-Ausgabe

Emma Viskic
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Thriller

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No Trace – Die Spur des Bösen (Caleb Zelic 3) — Inhalt

Der gehörlose Privatermittler Caleb ist endlich auf dem richtigen Weg: Er sucht sich Hilfe wegen seiner Albträume, er hat wieder Aufträge, und die Beziehung zu seiner fast-Ex-Frau läuft besser als je zuvor. Doch das verworrene Leben seiner Ex-Business-Partnerin Frankie holt ihn ein. Frankie hat viel verbrannte Erde hinterlassen, sich mit den Falschen angelegt und die noch Falscheren hintergangen. Als plötzlich ihre Nichte aus Calebs Obhut entführt wird, müssen Caleb und Frankie zusammenarbeiten, um das Kind zu retten. Aber kann Caleb Frankie nach all den Lügen und Täuschungen wieder vertrauen?

€ 9,99 [D], € 9,99 [A]
Erschienen am 01.09.2021
Übersetzt von: Ulrike Brauns
304 Seiten
EAN 978-3-492-99963-2
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Leseprobe zu „No Trace – Die Spur des Bösen (Caleb Zelic 3)“

1. Kapitel

Ein Kinderbauernhof war eine nette Abwechslung. Sonst fanden seine heimlichen Treffen in finsteren Pubs statt, nicht inmitten künstlich angelegter Koppeln mit schönem Ausblick und besten Lichtverhältnissen. Obwohl der Park in einer halben Stunde schloss, waren noch ein paar Familien unterwegs und betrachteten die Kühe. Frische Luft und tiefblauer Himmel, dazu noch etwas Restwärme der Nachmittagssonne. Ein Melbourner Herbst, wie er im Buche stand.
Caleb zahlte den happigen Eintrittspreis und marschierte dann eilig den Hauptweg entlang. Die Fahrt [...]

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1. Kapitel

Ein Kinderbauernhof war eine nette Abwechslung. Sonst fanden seine heimlichen Treffen in finsteren Pubs statt, nicht inmitten künstlich angelegter Koppeln mit schönem Ausblick und besten Lichtverhältnissen. Obwohl der Park in einer halben Stunde schloss, waren noch ein paar Familien unterwegs und betrachteten die Kühe. Frische Luft und tiefblauer Himmel, dazu noch etwas Restwärme der Nachmittagssonne. Ein Melbourner Herbst, wie er im Buche stand.
Caleb zahlte den happigen Eintrittspreis und marschierte dann eilig den Hauptweg entlang. Die Fahrt von seinem Büro hatte wegen der vielen Baustellen zwanzig Minuten gedauert, dabei waren es nur fünf Blocks gewesen. Alles an seinem potenziellen Kunden schrie geradezu Übervorsicht bis hin zur Panik – die anonyme E-Mail-Adresse, die fehlende Telefonnummer und der Wunsch, ihn sofort zu treffen.
Trotz der hektischen Anfahrt war da Leichtigkeit in ihm: am Ende eines guten Tages, einer guten Woche, eines deutlich besseren Jahres. Gott sei Dank.
Caleb erreichte einen eingezäunten Garten mit Bäumen, deren Blätter sich schon gelb verfärbt hatten. Fluffige Hühner scharrten im Sand, ihre Federn glichen dicken Schneeflocken. Weit und breit kein stämmiger Mann in dunkelgrauem Anzug, wie er sich selbst beschrieben hatte. Tatsächlich sogar überhaupt kein anderer Mann, nur eine Mutter mit einem Kleinkind, das auf seinen wackeligen Beinchen herumlief und desinteressierten Vögeln Gras anbot. Das Aufflackern einer möglichen Zukunft: eine kleine Hand in seiner, Kat an seiner Seite, ein gemeinsamer Nachmittag in der Sonne. Die Mutter sagte etwas zu ihm. Ihre Wörter rauschten unverstanden an ihm vorbei, aber ihre Miene sagte alles: Verschwinde, du komisch grinsender Kerl.
Also ging er.
Niemand erwartete ihn, weder am Zaun noch bei den Scheunen. Martin Amon war nicht da. Das überraschte Caleb, denn der Mann hatte in ihrer kurzen E-Mail-Korrespondenz nicht den Eindruck erweckt, unzuverlässig zu sein. Kein besorgniserregender, übermäßiger Gebrauch von Großbuchstaben oder Ausrufezeichen, nur ein paar wenige, deutliche Sätze, die so wirkten, als sei er es gewohnt, die Führung zu übernehmen. Vielleicht war das aber auch ganz gut. Immerhin bestand die Möglichkeit, dass Amon einfach nur ein unentspannter Manager war, besorgt wegen eines kleineren Betrugsdelikts. Aber die Dringlichkeit konnte auch auf etwas viel Unheilvolleres hindeuten, und um solche Fälle machte Caleb dieser Tage eigentlich lieber einen Bogen. Er übernahm die leichten, ungefährlichen Jobs – Überprüfung von Angestellten, Unterschlagungsverdacht, Sicherheitsberatungen –, nichts, was wieder Terror und Gewalt in sein Leben brächte. Eine Lektion, die er endlich gelernt hatte. Nach der Sache mit seinem Bruder. Und mit Frankie.
Er marschierte noch einmal an der Begrenzung des Gartens entlang, ein letzter Versuch. Weitere Hühner, drei von ihnen pickten emsig an einer dunkleren Stelle in der Nähe einer der Holzscheunen herum. Kleine, helle Klümpchen glänzten dort im Gras. Dazu ein unangenehmer Geruch, wie vor einer Metzgerei an einem heißen Sommertag. Er kannte diesen Geruch, erwachte immer noch aus Albträumen und hatte ihn in der Nase.
Er blieb stehen.
Eine lange Schleifspur führte von den pickenden Hühnern geradewegs in die Scheune. Feucht, als hätte jemand einen dreckigen Wischmopp über die Wiese gezogen. Vereinzelte Federn klebten an den Halmen und bewegten sich im sanften Wind. Weiße Federn, rot befleckt.
Galle stieg ihm in den Mund.
Eine Bewegung rechts von ihm – die Mutter und das Kleinkind bogen um die Ecke, kamen auf ihn zu. Das Kind schenkte ihm ein breites Lächeln und bot ihm eine Handvoll ausgerupftes Gras an. Caleb fehlten die Worte, die Luft zum Sprechen. Er riss nur die Hand hoch, damit sie nicht näher kamen. Die Frau erstarrte, öffnete den Mund, doch dann erfasste sie mit einem Blick die blassen Klumpen, das feuchte Gras und die Hühner, die pick-pick-pickten. Sofort nahm sie ihr Kind auf den Arm und rannte davon.
Das sollte er auch tun.
Umdrehen, abhauen und niemals zurückkehren.
Vorsichtig umrundete er die Hühner und folgte der Schleifspur in die Scheune. Sie hatte keine Fenster, Calebs Augen gewöhnten sich nur langsam an die Dunkelheit. Ein spitz zulaufendes Dach, hoch aufgestapelte Heuballen an den Wänden. Der Mann lag auf der Seite, direkt beim Eingang. Dunkelgrauer Anzug, ein paar Extrakilos am stämmigen Körper, verklebtes, staubiges Haar am Hinterkopf. Kein Gesicht, nur blutiger Matsch aus Fleisch und Knochen.



2. Kapitel

Sie brachten Caleb in das enge Büro des Bauernhofs, wo er zwischen halb leeren Teetassen, umgeben von Postern mit Kindern und dicken Kühen, warten sollte. An der Tür saß eine Polizistin auf einem Drehstuhl, die gelangweilt auf ihrem Handy rumtippte. Vor dem kleinen Fenster war es dunkel, die Nacht hatte sich schon vor Stunden über die Stadt gesenkt und eine bleierne Müdigkeit mitgebracht. Am liebsten hätte er den Kopf auf den unordentlichen Tisch gelegt und geschlafen. Er hatte keine Ahnung, worauf er überhaupt wartete, wusste nur, dass die Detectives ihn gerade hatten gehen lassen wollen, als sie einen Anruf bekamen, auf den eine hastige Diskussion folgte und die Bitte, noch zu bleiben.
Amon war erschossen worden. Eine Kugel in den Hinterkopf, die vorn wieder ausgetreten war. Caleb wusste nicht viel über Schusswaffen, nur, was sie mit einem Körper anrichten konnten. Er hatte den heftigen Rückstoß einer Pistole selbst gespürt, die Wärme vom Blut eines fremden Mannes.
Er zuckte zusammen, als die Polizistin plötzlich aufsprang. Zwei Männer in Anzügen kamen zur Tür herein; dafür, dass sie nicht gerade groß waren, beanspruchten beide sehr viel Raum. Ein kurzes Aufblitzen ihrer Dienstausweise, ein paar unlesbare, an die Polizistin gerichtete Wörter, schon war sie draußen und schloss die Tür hinter sich. Beide Männer musterten ihn nach bester Bullenmanier; der kleinere war rasiert, der größere hatte einen braunen Spitzbart, der eher einem halb gefressenen Hasen glich. Der Bart war problematisch, denn er verdeckte komplett die Ober- und einen Großteil der Unterlippe. Seit wann erlaubte die Polizei von Victoria Bärte?
Der Bartlose zog einen Stuhl vor Caleb und setzte sich darauf, aber zur Ruhe kam er dadurch nicht: Füße flach auf dem Boden, rastloser Blick. Hasengesicht lehnte sich mit einer Pobacke gegen den niedrigen Aktenschrank und wirkte noch angespannter als sein Kollege.
„Danke, dass Sie gewartet haben“, sagte der Bartlose. „Macht das alles etwas einfacher.“
Leicht zu lesen: klar und deutlich, seine Stimme schwach, aber immerhin hörbar. Caleb sackte vor Erleichterung fast in sich zusammen – er war einfach zu müde, um einem Nuschler von den Lippen zu lesen.
„Selbstverständlich“, sagte er.
„Unsere Kollegen bei der Mordkommission sagen, Sie brauchen keinen Dolmetscher.“ Sein Blick wanderte zu den Hörgeräten, die aber unmöglich unter Calebs dunklen Haaren zu sehen sein konnten.
„Richtig.“ Caleb unterdrückte den Impuls zu prüfen, ob man sie wirklich nicht sehen konnte, während er schlussfolgerte: „Dann sind Sie nicht von der Mordkommission?“
Der Bartlose zögerte, bevor er antwortete. „AFP.“
Bundespolizisten, die sich für ein Verbrechen auf Landesebene interessierten. Bundespolizisten, die ihre Namen lieber für sich behielten. Der Mord hatte was Professionelles, nicht nur wegen des Schalldämpfers, den der Täter benutzt hatte, sondern weil er in den Hinterkopf geschossen hatte. Organisierte Kriminalität vielleicht?
„Warum interessiert sich die Bundespolizei für Amon?“, fragte Caleb.
„Wir stellen hier die Fragen, wenn’s recht ist, Mr Zelic.“ Der Bartlose zog Calebs Handy aus der Hosentasche und reichte es ihm. „Wir haben uns den Mailwechsel zwischen Ihnen und Martin Amon angeschaut. Was können Sie uns sonst noch über ihn sagen?“
Caleb könnte darauf drängen, dass sie ihm ihre Ausweise richtig zeigten, könnte seinen Kumpel bei der Mordkommission, Tedesco, kontaktieren. Aber damit würde er sich nur tiefer in diese Sache verstricken – und sein neues Motto war „Handle klug“. Sein sehr neues Motto. Quasi frisch aus der Packung, es roch noch nach Fabrik.
„Nichts“, sagte er. „Ich weiß auch nur das, was in den Mails steht.“
Ein leises Grummeln, als Hasengesicht sprach, der Bart öffnete sich nur leicht, schloss sich wieder.
Scheiße, schlimmer, als Caleb befürchtet hatte. Die Hörgeräte lauter zu drehen, würde auch nicht helfen. Erhöhte Lautstärke würde die Stimme dieses Mannes weder verständlicher noch seinen Mund sichtbarer machen. Er musste klein beigeben. „Entschuldigen Sie, ich kann Sie leider nicht verstehen. Der Bart ist das Problem.“
Der Bartlose warf seinem Kollegen einen Blick zu. „Damit wären wir uns einig – die Gesichtsmatte muss weg.“ Dann zog er ein gebundenes Notizbuch aus der Brusttasche und blätterte darin. „Der erste Kontakt zwischen Amon und Ihnen war also eine E-Mail mit den Worten: ›Ich muss sofort mit Ihnen sprechen. Streng vertraulich.‹?“
„Ja.“
„Und das reichte Ihnen als Voraussetzung für ein Treffen?“
„Das ist nicht unüblich. Ich prüfe oft firmeninterne Betrugsfälle – und niemand will, dass die Gesellschafter von langfingrigen Angestellten erfahren.“
„Hatten Sie vorher schon einmal etwas von dem Verstorbenen gehört? Wurde Ihnen angekündigt, dass er sich melden könnte?“
„Nein.“
Enttäuschung huschte über das Gesicht des Detectives, aber er verbarg sie schnell wieder. „Nicht mal eine vage Andeutung? Ohne Namensnennung?“
„Nein.“
„Haben Sie sich mit ihm unterhalten?“
„Nein.“
„Nicht mal ein paar Worte gewechselt?“
„Sein Gesicht war weg, was das Lippenlesen deutlich erschwert.“
Dafür erntete er einen langen Blick. Milchkaffeefarbene Augen, ein bisschen blutunterlaufen. „Am Telefon, meinte ich. Sie haben doch gesagt, dass Sie sich verspätet haben. Da haben Sie ihn nicht angerufen und ihm das gesagt? Von einer Telefonzelle aus? Oder mit einem geliehenen Handy?“
„Ich telefoniere nicht.“ Caleb zögerte, fügte dann hinzu: „Kann ich nicht.“
Der Bartlose hielt sich eine Hand vor den Mund und sprach, dabei ließ er Caleb nicht aus den Augen. Wahrscheinlich machte er den üblichen Test, den Caleb noch aus der Jugendzeit kannte, und sagte irgendetwas Vulgäres, beleidigte nahe Verwandte. Caleb starrte ihn an wie ein toter Fisch, bis der Bartlose endlich die Hand senkte.
Ein kurzer Blickwechsel zwischen den beiden Kollegen, dann steckte der Bartlose sein Notizbuch weg. „Vielen Dank für Ihre Hilfe, Mr Zelic. Sie können dann gehen. Zu Ihrer eigenen Sicherheit nennen wir Ihren Namen nicht in unseren Ermittlungen, bitten Sie aber umgekehrt auch, Amon niemandem gegenüber zu erwähnen. Weder online noch persönlich.“
Caleb regte sich nicht. Die beiden wussten offensichtlich eine Menge mehr über Amon, als sie ihm mitzuteilen gedachten. Wenn er nachhakte, konnte er vielleicht noch etwas erfahren.
„Müssen wir mit Schwierigkeiten rechnen?“, fragte der Bartlose.
Handle klug. Wer immer dieser Amon war, sein Mord hatte dafür gesorgt, dass diese beiden Bundespolizisten starr vor Anspannung waren. Wenn er sich einmischte, konnte das nur Ärger bedeuten.
„Nein.“ Dann stand er auf und trat aus dem Gebäude in die klare Nacht. Er schaute sich nicht um.



3. Kapitel

Caleb war fast beim Café, als er wieder das Auto sah: eine schwarze Limousine mit getönten Scheiben und einem verdreckten Kennzeichen. Das war jetzt das dritte Mal, seit er das Büro verlassen hatte. Schwer zu sagen, ob er verfolgt wurde oder einfach nur paranoid war. Vierundzwanzig Stunden waren seit Martin Amons Tod vergangen, sein Adrenalinpegel noch immer hoch. Caleb justierte den Rückspiegel nach und blinzelte in das schwindende Tageslicht: unverkennbar, nur ein Wagen zwischen ihnen.
Zeit, eine Entscheidung zu treffen.
Die kleine Einkaufszeile lag direkt um die Ecke. Abbiegen oder weiterfahren? Die meisten Geschäfte hatten um Viertel nach fünf an einem Dienstagabend sicher schon geschlossen, dort konnte er also nicht gerade auf viele potenzielle Zeugen hoffen, aber wenige waren besser als keine. Denn auf die Einkaufszeile folgte nur noch ein Industriegebiet mit Fabrikanlagen und Lagerhallen.
Langsam bog er ab, beschleunigte dann kurz und hielt am Bordstein. Tür halb geöffnet, Blick auf den Spiegel gerichtet. Die schwarze Limousine bog ebenfalls um die Ecke. Sie kam näher, die Scheinwerfer ausgeschaltet, am Steuer nichts als eine vage Silhouette. Schon fast auf seiner Höhe. An ihm vorbei. Der Wagen fuhr weiter, die Bremslichter leuchteten kurz auf, bevor er um die nächste Ecke verschwand. Weg war er. Caleb atmete auf. Lediglich jemand, der wie er die Hauptverkehrsstraßen mied. Hatte nichts mit ihm oder einem toten Mann mit weggeschossenem Gesicht zu tun.
Die Zeitungsartikel hatten bisher kaum weitere Informationen geliefert. Weder Caleb noch Martin Amon wurden namentlich erwähnt, kein mögliches Motiv genannt, nur ausführlich spekuliert. Auch eine Onlinesuche hatte ihm nichts über Amon verraten, was zwei Gründe haben konnte: Der Mann war sehr vorsichtig gewesen oder hatte ein Pseudonym benutzt.
Caleb blieb einen Moment in dem schnell abkühlenden Wagen sitzen, stieg dann aus und ging zu Alberto’s Place. Das kleine Café war geschlossen, aber in der Küche herrschte sicher noch reges Treiben, um die Bestellungen für die Hotels der Stadt abzuarbeiten. Pasteten und Pasta, Würstchen, Backwaren, alle nach alten Familienrezepten. Er wollte Kat mit einem umwerfenden Picknick in ihrem Atelier überraschen, um ihr zu versichern, dass er nicht rückfällig geworden war. Sie hatte sich große Sorgen gemacht, als er ihr am Vorabend von Amon erzählte. Würde sich weiter sorgen.
Er bog in die kleine Seitenstraße ein, die zur Rückseite des alten Backsteinhauses führte, und blieb vor der Glastür stehen. Die hohe Decke der Küche lag im Dunkeln, das einzige Licht spendeten Kerzen, Taschenlampen und Handys, die über den gesamten Raum verteilt waren. Sie standen in den Regalen oder auf der Arbeitsfläche und warfen so immerhin ausreichend Licht auf alle Handbewegungen und Gesichter der Angestellten. Sechs an der Zahl, die alle in Gebärdensprache kommunizierten, während sie kochten, ihr Auslan nur geringfügig beeinträchtigt durch die Latexhandschuhe. Es ging um Wochenendpläne, Partner, Enkel, Trainingsvorhaben. Alberto Conti streifte zwischen ihnen hindurch, seine Hände ruhelos, während er hier eine Anweisung gab, dort ein Gericht probierte.
Caleb schob seine Hörgeräte in die Hosentasche, öffnete die Tür und trat in die Stille und Wärme. Es roch nach angedünstetem Knoblauch und Zwiebeln, gerösteten Walnüssen, Oregano. Eine Abfolge von gewunkenen Hallos, als sie ihn nacheinander bemerkten, das überschwänglichste von Alberto. Ein zweiundsiebzigjähriger, muskulöser Mann mit wettergegerbter Haut. Kein Läufer wie er, was Caleb zunächst vermutet hatte, sondern ehemaliger Boxer im Federgewicht.
Wie immer schloss er Caleb in eine Umarmung, die seine Rippen knacken ließ, gefolgt von einem Schlag auf den Rücken. Das Verhältnis von Größe zu Stärke stimmte bei ihm hinten und vorne nicht. Er war vierzig Jahre älter als Caleb, dazu einen Kopf kleiner, und trotzdem hätte Caleb in einem Kampf keine Chance gegen ihn.
„Stromausfall?“, gebärdete Caleb, als der drahtige Mann ihn endlich freigab.
„Nein, nein, wir mögen’s romantisch.“ Alberto begleitete die Gebärde eines klopfenden Herzens mit einem passend schwärmerischen Gesichtsausdruck. Dann holte er eine offenbar schwere Canvastasche aus dem Regal und stellte sie feierlich vor Caleb. Seine Miene hatte nun etwas Andächtiges. „Heute gibt es Schweinebauch statt Würstchen. Unschlagbar, so was Gutes hast du noch nie gegessen.“
„Kat ist kein großer Fan von Schwein. Soll ich mal einen Blick auf den Sicherungskasten werfen? Der Rest der Straße hat Strom.“
„Hier ist alles unter Kontrolle. Und dieses Schwein wird sie mögen. Besser könnte deine Mutter es nicht machen, selbst wenn sie mit dem Metzger schlafen würde. Mit dem Schwein!“ Trotzdem steckte er eine große Quiche in einen Karton und packte ihn dazu. „Wie geht’s Kat? Alles in Ordnung?“
„Ja, alles gut.“
„Ich verstehe euch nicht. Ihr solltet wieder zusammenziehen. Gerade jetzt.“
Er brauchte immer einen Moment, bis er sich wieder an die Direktheit der Gehörlosen gewöhnt hatte, nach einer Woche in der Welt der Hörenden. Zudem bemerkenswert, dass Alberto es geschafft hatte, ihm in nur vier Wochen mehr über sich und sein Leben zu entlocken, als es anderen in Jahren gelang, in Jahrzehnten sogar.
„Steht auf der Agenda.“ Caleb erstarrte. Durch die Küchendurchreiche erhaschte er einen Blick auf einen Wagen, der langsam durch die Straße rollte. Ausgeschaltete Scheinwerfer trotz einsetzender Dämmerung. Vielleicht grau, vielleicht schwarz. Er fuhr, ohne anzuhalten, vorbei.
Alberto winkte, um Calebs Aufmerksamkeit zu erregen. „Ich habe mich jetzt doch für die Panzerriegel entschieden, von denen du mich schon so lange überzeugen willst. Kannst du das übernehmen?“
„Klar.“ Jetzt war die Straße leer, keine weiteren Autos, weder mit noch ohne Licht.
Wieder winkte Alberto. „Morgen?“
Da wandte Caleb sich ihm voll zu. Monatelang hatte er versucht, den Mann dazu zu bringen, in die Sicherheit seines Cafés zu investieren, wieso hatte er es plötzlich so eilig? Das lebenslange Gebärden hatte zur Folge, dass Albertos Gesicht so leicht zu lesen war wie seine Hände: Er machte sich Sorgen, versuchte aber, sich das nicht anmerken zu lassen.
„Stimmt was nicht?“
„Quatsch, ich will nur dein ewiges Gequengel nicht mehr hören.“
„Alberto, was ist los?“ Ihm wurde bewusst, dass er dies versehentlich laut ausgesprochen hatte.
Alberto gehörte zu jenen, die stolz waren, nicht von den Lippen lesen zu können, aber Calebs Gesichtsausdruck verriet offenbar, was er wissen wollte. „Du machst dir zu viele Sorgen.“ Er tätschelte Caleb die Hand.
Halt dich raus. Alberto wollte allem Anschein nach nicht darüber sprechen. Außerdem war es immer ein Fehler, Berufliches und Privates zu mischen – eine weitere Lektion, die er dank Frankie gelernt hatte.
Caleb warf einen prüfenden Blick zur Straße und hängte sich dann die Tasche mit dem Essen um. „Ich rede gleich morgen mit dem Monteur.“
Daraufhin wurde er erneut fest umarmt, stand aber schon bald mit unversehrten Rippen in der kleinen Seitengasse.
Hier gab es keine Verstecke oder Angreifer, die ihm auflauern konnten. Er machte sich auf den Weg zu seinem Wagen. Die Dämmerung war der Nacht gewichen, die den Geruch kalter Erde mit sich führte. Vorzügliches Essen, ein paar schöne Stunden mit Kat, dann nach Hause, um den Schlaf des fast Gerechten zu schlafen.
Ein schneller Schatten vor ihm, die schwarze Limousine bog in die enge Seitengasse, blockierte seinen Weg. Die Fahrertür flog auf.
Caleb ließ die Tasche fallen und rannte los. Wieder zu Alberto in die Küche? Nein, er konnte die Sicherheit der anderen nicht aufs Spiel setzen. An der Küche vorbei, weiter die Gasse hinunter. Die Scheinwerfer strahlten hinter ihm, kamen näher. Scheiße, das würde er nicht schaffen. Direkt vor ihm ein Fußweg, zu schmal für das Auto. Er keuchte. Das Licht wurde immer greller, der Wagen hatte ihn fast eingeholt.
Um die Ecke. Dunkelheit. Hohe Zäune, Bäume ragten darüber auf, zu seinen Füßen ließ sich ein betonierter Weg gerade noch erahnen. Er rannte.
Paff.
Er taumelte rückwärts, die Hände vors Gesicht gerissen.
Ein Drahtzaun quer über den Weg, dahinter eine Baustelle. Scheiße, er musste rüberklettern. Er zog sich daran hoch, seine Füße rutschten ab, als der Zaun gefährlich wippte. Er war zu langsam, die Meningitis hatte ihm nicht nur sein Hörvermögen geraubt, sondern auch eine große Portion seines Gleichgewichtssinns.
Kurzer Blick zurück. Eine dunkle Gestalt, rennend. Sieben, acht Meter entfernt, etwas in der Hand.
Eine Waffe.
Eine Pistole.
Caleb kämpfte sich am Zaun hoch, seine Finger krallten sich in den Draht. Fast oben, Hände auf …
Zuckender Schmerz.
Haut, Lunge, Rückenmark verschmolzen.
Absturz.

Emma Viskic

Über Emma Viskic

Biografie

Emma Viskic ist eine preisgekrönte australische Krimiautorin. Ihr von der Kritik gefeierter Debütroman „No Sound – Die Stille des Todes“ gewann den Ned Kelly Award for Best First Fiction 2016 sowie drei Davitt Awards: Bester Roman für Erwachsene, bestes Debüt und den Leser-Preis. Viskic erhielt...

Die unerwarteten Vorteile eines gehörlosen Hauptcharakters - Emma Viskic über ihre Reihe Caleb Zelic

Der Held meines Buches No Sound – Die Stille des Todes war von Anfang an in Schwierigkeiten. Caleb Zelic war alles, was ich von einem Ermittler wollte – lustig, wachsam, isoliert und unendlich stur, und er war zudem gehörlos. Obwohl ich Caleb liebte und dachte, er würde ein interessanter Protagonist werden, hatte ich Angst.

Ich bin eine professionelle Klarinettenspielerin. Ich habe die meiste Zeit meines Lebens damit verbracht, über den Klang nachzudenken. Jahrelang spielte ich in Orchestern und Opern, übte und perfektionierte Klangnuancen. Sogar dem Schreiben nähere ich mich durch den Klang, schreibe erste Entwürfe, die sich wie Drehbücher lesen, Seite für Seite Dialoge, die nur kurz von Beschreibungen des Ortes unterbrochen werden.

Das Beschreiben eines gehörlosen Charakters fühlte sich zu weit entfernt von dem an, was ich wusste. Und was noch wichtiger war: Wenn man etwas beschreibt, das außerhalb der eigenen Erfahrungen liegt, geht damit eine große Verantwortung einher. Caleb ist kein Vertreter der Gehörlosengemeinschaft, doch ihn falsch darzustellen könnte Menschen verletzen. Ich habe versucht, ihn zum Hören zu bringen, aber es hat nicht funktioniert. Wenn ich seine Geschichte aufschreiben wollte, musste ich ihn so beschreiben, wie ich ihn sah.

Meine Bedenken, dass seine Gehörlosigkeit zu zentral für den Roman sein könnte, wurden ebenfalls ausgeräumt: Obwohl es ein wichtiger Teil von ihm ist, ist es nicht alles, was ihn ausmacht. Zu guter Letzt musste ich entscheiden, ob Caleb die australische Zeichensprache (Auslan) verwenden würde oder nicht. Obwohl Caleb entschlossen ist, in der Welt des Hörens zu leben, war ich von der Idee angezogen, dass er Gebärden verwendet und auch Lippen liest. Meine Schule lag in der Nähe der Gehörlosenschule, und auf der täglichen Fahrt sah ich eine Gruppe von schnell gestikulierenden Schülern. Ihre ausdrucksstarke Kommunikation schien eine Welt fernab des Lippenlesens zu sein.

Es dauerte fünf Jahre, bis ich No Sound – Die Stille des Todes geschrieben hatte, Ich habe auf dem Weg dorthin viel gelernt, einschließlich der unerwarteten Vorteile, die es mit sich bringt, einen gehörlosen Charakter zu schreiben. Während ich mich natürlich für Dialoge interessiere, ist Caleb auf die körperlichen Reaktionen der Menschen eingestellt. Neben dem Lesen ihrer Worte muss er auch auf ihre Ausdrücke, Körpersprache und Interaktionen achten. Bei der Erschaffung seiner Figur bin ich viel aufmerksamer geworden, was mein Umfeld und meine Mitmenschen angeht – ein wunderbares Geschenk für mein Schreiben und für mich.

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