Nordkap - Neuseeland - eBook-Ausgabe
Noch einmal mit dem Fahrrad um die Welt
„Ein sympathisches Plädoyer zum Losfahren.“ - Die Zeit
Nordkap - Neuseeland — Inhalt
In einem Alter, in dem sich andere zur Ruhe setzen, schwingt sich Tilmann Waldthaler zur großen Entdeckungsreise auf sein Fahrrad: 15000 Kilometer vom Nordkap in Norwegen bis nach Invercargill, der südlichsten Stadt der Südinsel Neuseelands. Das Radfahren ist − wie immer, wenn er unterwegs ist − Mittel zum Zweck. Seine Leidenschaft und Neugierde gilt überraschenden Begegnungen am Wegesrand, dem bunten Alltag in der Fremde. Er bereist Finnland, den Balkan, Indien, Südostasien, Australien und Neuseeland, das Land, von dem er 1977 zu seiner ersten Tour von der Antarktis bis in die Arktis aufgebrochen ist. Mit „Nordkap – Neuseeland“ schließt sich der Kreis eines Radreiselebens, das weltweit einzigartig ist und nicht nur Radbegeisterte vom großen Abenteuer träumen lässt.
Leseprobe zu „Nordkap - Neuseeland“
Prolog
Sie finden es womöglich exotisch, wie ich lebe? Außergewöhnlich, abenteuerlich, abgehoben, elitär? Dass ich seit 35 Jahren mit dem Fahrrad um die Welt fahre, dass ich in meinem Leben 143 der rund 200 Staaten auf diesem Planeten pedalierend durchstreift habe? Dass ich in all den Jahren fast eine halbe Million Kilometer zusammengekurbelt habe – und mir mit diesem nomadischen Lebenswandel auch noch das an Euro und Dollar verdiene, was ich auf meinen Touren so brauche?
Gut, zugegeben, mir ging es lange Zeit ja selbst so. Wenn ich irgendwo ankam, wenn [...]
Prolog
Sie finden es womöglich exotisch, wie ich lebe? Außergewöhnlich, abenteuerlich, abgehoben, elitär? Dass ich seit 35 Jahren mit dem Fahrrad um die Welt fahre, dass ich in meinem Leben 143 der rund 200 Staaten auf diesem Planeten pedalierend durchstreift habe? Dass ich in all den Jahren fast eine halbe Million Kilometer zusammengekurbelt habe – und mir mit diesem nomadischen Lebenswandel auch noch das an Euro und Dollar verdiene, was ich auf meinen Touren so brauche?
Gut, zugegeben, mir ging es lange Zeit ja selbst so. Wenn ich irgendwo ankam, wenn ich ein Gasthaus betrat, ein Museum, einen Markt, dann fühlte ich mich ausgegrenzt – als einer, der froh sein konnte, im jeweiligen Umfeld überhaupt akzeptiert zu werden. Die Alternativen sind ja bekanntlich ziemlich unerfreulich: Man könnte verhaftet, ausgewiesen, im Extremfall sogar gelyncht werden – alles, was Menschen einander antun, wenn sie sich zu fremdartig vorkommen.
Dazu erschien ich den Leuten aber stets zu harmlos. Zu fröhlich. Zu sehr in mir ruhend und zufrieden, denn ich hatte ja gefunden, was mein Dasein glücklich machte: das bescheidene Reisen in größter Freiheit, mit maximalem Kontakt zu Mensch und Natur – und das obendrein mit Mitteln, die meinen persönlichen ökologischen Fußabdruck einigermaßen vertretbar halten, trotz der oft nötigen Flüge.
Gut, ich lebe anders als die meisten. Konsequenter wahrscheinlich in vielerlei Hinsicht, weniger ängstlich. Ich brauche keine Reichtümer, ich glaube nicht an Luxus. Versicherungen suche ich zu vermeiden, wo immer es möglich ist; schließlich bin ich für mich selbst verantwortlich, im Guten wie im Bösen. Orte, die ich habe kennenlernen dürfen, verlasse ich am liebsten so, wie ich sie vorgefunden habe – im Idealfall sogar schöner, gesünder, freundlicher, weil aufgetankt mit meinen Energien.
Bin ich also ein Vorbild?! Bin ich so verblendet, mich als Vorkurbler einer künftigen Masse kleiner bärtiger Tilmanns zu fühlen, die auf edlen Rädern um die Welt rotieren, um sie dadurch zu einem besseren Platz zu machen?! Um Gottes willen! Schon die Vorstellung ist absurd – und doch spiegelt sich darin unser vermaledeites, so überaus schablonenmäßiges westliches Denken wider, das auf so vielfältige Weise verantwortlich gemacht werden kann für den Schlamassel, in dem sich die Menschheit befindet.
Um es klar zu sagen: So wie keine Radtour je wiederholt werden könnte, weil sie in jeder Hinsicht einzigartig ist, so wird auch kein Zweiter je mein Leben führen können. Wenn ich so etwas wie eine Botschaft habe, dann die: Erkennt eure Einzigartigkeit! Lebt sie aus, erfüllt euch eure Träume! Und denkt immer daran, dabei den anderen Lebewesen nach Möglichkeit nicht das zu verbauen, was ihr selbst gerade so leidenschaftlich nutzt: die persönliche Freiheit.
Mehr ist da eigentlich nicht. Ich habe für mich realisiert, dass das Radfahren ein exzellenter „way of drive“ ist, um die eigenen Möglichkeiten auszuschöpfen, ohne den anderen allzu schmerzhaft über die Füße zu rumpeln. Das propagiere ich aus meiner ureigenen Überzeugung heraus. Und ihr, ihr anderen, seid frei genug, um entweder ebenfalls aufs Rad zu steigen und die Welt zu erleben oder euch ein anderes passendes Konzept zum Glück zu basteln.
So viel zur Exotik, zur Exzentrik, zur abgehoben elitären Lebensweise.
Und doch, da draußen im Irgendwo, da kann man sie schon treffen, die Exoten. Manchmal, bei Vollmond – und vorzugsweise in der Wüste. Ich glaube, ich habe schon irgendwo einmal erzählt, warum ich nachts so gerne durch die Wüste fahre, wenn unser gelber Trabant das Licht der Sonne auf seine ganz eigene Weise zur Erde reflektiert.
Es ist dann weniger heiß, die Kräfte reichen länger. Ebenso das Wasser, das beim herrschenden Bedarf in heißer Umgebung maßgeblich zum Transportgewicht beiträgt. Der Verkehr ebbt nachts noch mehr ab als ohnehin schon in den unbelebten Regionen dieser Welt, und die Stille … die Stille ist schlicht überwältigend.
Manchmal meine ich die Sandkörner zu hören, wie sie unter dem Einfluss von Schwerkraft, Erddrehung und Temperaturanpassung aneinanderpoltern. Wie sie rollen und rumoren, als seien auch sie unterwegs zu irgendwelchen unaussprechlichen Zielen. Es schabt und zischt dann hier und dort, als wechselten geheime Botschaften hin und her. Und über allem gleitet der unendliche klare Himmel hinweg – auch er in Drehung begriffen, im Prozess seiner kosmischen Dehnung. Und mittendrin als fahle Lampe, die das Szenario gespenstisch-schattenreich erhellt, der Mond, der pockennarbige, von dem man sagt, er bringe nicht nur das Seelenleben der Menschen in Bewegung, sondern auch all unsere Ozeane.
Nein, meine Kette quietscht nicht. Natürlich macht auch sie mit leichtem Gleiten über die Ritzel Geräusch, aber dieses Wispern ist längst so vertraut, dass ich es mühelos ausblende bei nächtlichen Fahrten durch die Wüste.
Es war in einer dieser Nächte gegen drei Uhr morgens, als ich – mitten in der australischen Wüste, mindestens 50 Kilometer entfernt von der nächsten menschlichen Ansiedlung – auf John Butler treffe. Er macht „sein Ding“ zu Fuß, legt sich einen breiten Riemen über die Stirn und „hängt sich rein“, wie man so schön sagt. Was dann kommt, rollt auf vier Rädern und ist bei näherem Hinsehen ein ausgewachsener Sarg! „He, ich bin unterwegs zu den Aboriginees“, erzählt er, „die leben ja mitten im Nirgendwo. Da habe ich eben mein eigenes Hotel dabei.“
Nachts klappt er den Deckel hoch und bettet sich zur Ruhe – wahrscheinlich mit über der Brust gefalteten Händen, wie ich vermute. Unter dem Sarg hat er ein paar Fächer und Schubladen für den Krimskrams installiert, und am Ende seines Gefährts erlaubt eine kleine Anbauküche die Zubereitung einfacher Speisen. Von Reiseruhe, wie ich sie genieße, kann aber hier keine Rede sein; die Pfannen und Töpfe scheppern im Wind.
„Du solltest die Leute erleben“, amüsiert sich John. „Die meisten erschrecken, wenn sie mein schwarzes Mobil sehen. Und wenn die Kinder endlich all ihren Mut zusammennehmen und morgens durch das kleine Fenster am Kopfende schauen, dann schneide ich denen eine entsetzliche Grimasse – was meinst du, wie schnell die über alle Berge sind.“
Ich persönlich lege es nie darauf an, die Menschen unterwegs zu erschrecken, eher im Gegenteil. Ich bringe sie lieber zum Lachen. Einmal aber musste es sein. Es war auf Sumatra, weitab von dem, was wir normalerweise Zivilisation nennen. Ich war lange durch dichten Urwald gefahren und kam plötzlich auf eine große Lichtung, einen Platz, um den herum sich Eingeborene angesiedelt hatten in ihren typischen, einfach gebauten Hütten. Ich weiß nicht, auf wessen Seite das Erstaunen größer war: Ich hatte nicht erwartet, hier auf Menschen zu treffen, und sie hatten wohl noch nie jemanden gesehen, der so viel Haar auf einem Fahrrad spazierenfuhr.
Jedenfalls kamen sie alle angelaufen. Sie bildeten einen dichten Kreis um mich, kleine braune Typen, Frauen, Kinder. Sie drängelten und schubsten, rückten mir immer näher auf die Pelle. Ich spürte, wie einige von weiter hinten versuchten, mich zu berühren, einen Zipfel meines Trikots zu fassen zu bekommen. Wie einige an meinen Packtaschen zerrten.
Die Sache wurde bedrohlich. Menschen brauchen einen gewissen Sicherheitsabstand zueinander, der je nach Kultur recht unterschiedlich sein kann; den größten brauchen die aus den reichen Ländern des Westens. Hier aber, das war mir klar, war dieser Abstand eindeutig unterschritten, egal welche Maßstäbe man anlegte. Es hätte tatsächlich alles mögliche passieren können – und keine dieser Möglichkeiten hätte mir sonderlich gefallen.
Was ich dann tat, entsprang keiner Überlegung, sondern purer Eingebung. Instinkt, wenn Sie so wollen. Ich reckte meine Arme in den Himmel, begann zu tanzen und stieß zugleich einen langen, spitzen Schrei aus, so laut und so hoch ich nur konnte. Meine Augen kniff ich dabei fest zusammen.
Als ich sie endlich wieder öffnete, war ich allein auf dem Platz. Ich weiß nicht, wohin die Leute so schnell alle geflüchtet waren. Sie müssen mich für einen Dämonen gehalten haben. „I freaked them out“, wie wir in Australien sagen. Ich habe sie zum Ausflippen gebracht.
Den nachhaltigsten Eindruck auf mich machte ein Mann, den ich 1977 in der Wüste zwischen Cairns und Darwin zu Gesicht bekam. Ich fuhr damals gerade in einem uralten VW-Bus rund um Australien, und dies war, nach 22 000 Kilometern, die letzte Etappe. Ich weiß noch, es war Tag, und doch waren die Sichtverhältnisse stark eingeschränkt. Ein kleiner Sandsturm verteilte die rote Wüste flächendeckend über alles, man sah im wahren Wortsinn „rot“.
Plötzlich aber war da noch etwas. Eine Gestalt, die schemenhaft nur zu erkennen war, während ich von hinten schnell auffuhr. Was ist das? Es bewegte sich, schwankte ein bisschen – ein Esel, hätte ich gedacht, wäre ich in Asien unterwegs gewesen. Aber nein, doch nicht hier auf einem australischen Highway! Jemand auf einem kleinen Motorrad vielleicht?
Als ich langsam vorbeifuhr, erkannte ich: ein Radfahrer! Genauer: ein Reise-Radler, auf einer eleganten schlanken Maschine, die nicht nur ihn, sondern auch große Packtaschen beförderte. Mein erster Reise-Radler! Den Kopf hatte er sich zum Schutz gegen den allgegenwärtigen Sand mit Handtüchern umwickelt, und so stampfte er unbeirrt, mit rhythmischen Tritten durch den Sturm.
Ich war wie elektrisiert. Welche Freiheit! Welche Möglichkeit, das Leben bis ins Detail selbst zu bestimmen! Wie ein Vogel kann ja ein Radfahrer fliegen, wohin er mag – und wenn er dann abends nicht mehr mag, schlägt er sein Zelt auf und kocht sich eine Suppe!
Ich zog den Bulli auf den Randstreifen. Ich sprang heraus und wedelte mit den Armen, als die Gestalt näher kam. Ich rief, er solle anhalten, ich müsse mit ihm sprechen. „No talk, please“, kam unter dem Handtuch-Turban hervor. Komischer Akzent. Ein Ausländer! Und dann stampfte dieser Radfahrer einfach weiter.
Ich überholte ihn abermals, wedelte wieder mit den Armen, aber diesmal sprach ich ihn auf Französisch an. Und da hielt er, wickelte sich aus den sandigen Tüchern heraus, kam zu mir in den Bus, und geschützt vom Sturm ergab sich ein langes Gespräch.
Jean-Pierre war Belgier, war Postbote und ein Verfechter des anspruchsvollen Tourenfahrens. Hohe Schule sozusagen. Sein Bruder fuhr als Radprofi, weswegen er viel Ahnung von Fahrradtechnik und -training hatte und auch die Fachbegriffe alle kannte. Ich war vollkommen fasziniert. Ich hatte ja keinerlei Vorstellungen davon gehabt, wie vielseitig etwas so Simples wie ein Fahrrad sein konnte!
Später lebte Jean-Pierre einige Zeit in Darwin, so wie ich. Wir freundeten uns an. Ich brachte ihm das Autofahren bei, weil er vorhatte, in Australien ein wenig Geld zu verdienen – und das ist kaum möglich ohne Führerschein. Er wies mich dafür in die Kunst des Radfahrens ein, erlaubte mir sogar, auf seiner Maschine zu fahren, einem von Hand auf Maß gebauten Randonneur mit edler Campagnolo-Ausstattung.
Und als er ein paar Monate später zurück nach Belgien flog, um seine Braut abzuholen, durfte ich solange sein Allerheiligstes zum Trainieren benutzen. Jean-Pierre hatte meine ganzen Ersparnisse im Gepäck, um beim Rahmenbauer Monsieur Crahay ein Rad nach meinen Maßen anfertigen zu lassen. 800 Dollar! Dafür hätte man seinerzeit auch einen durchaus passablen Gebrauchtwagen bekommen.
Ich nahm mir Zeit mit dem Üben. Ich ertrug die Höllenqualen eines malträtierten Gesäßes, lernte, dass man ohne die richtige Bekleidung kaum gut radeln kann. Als Jean-Pierre zurück war – mit meinem eigenen Rad! –, ging alles erst richtig los. Mir war klar, ich wollte nun selbst auf die Piste, sogar Packtaschen hatte ich mir schon selbst genäht. Ich wurde Trauzeuge, als Jean-Pierre und seine Chantalle heirateten, und als ich dann startete zu meiner Premierentour von Darwin nach Sydney, begleitete mein Freund mich auf der ersten Etappe.
Ich erinnere mich, als wäre es erst gestern gewesen: 90 Kilometer. Ich bin euphorisch. Und erst als ich mein Zelt aufbauen möchte, merke ich, dass Jean-Pierre seine Ausrüstung nicht dabei hat. „Egal“, sage ich, „da schläfst du heute nacht eben bei mir.“ Doch er winkt ab. Noch einmal liegen wir uns in den Armen, er wünscht mir Glück. Dann steigt er leichtfüßig auf und fährt die ganze Strecke, für die wir einen guten Teil des Tages gebraucht haben, wieder zurück. Ein letzter Beweis für mich, was auf dem Fahrrad alles möglich ist …
Der Rest ist Geschichte, sind Geschichten über Geschichten, sind Begegnungen und Erfahrungen, die mein Leben unendlich reich gemacht haben. Doch jetzt, nachdem ich am 24. März 2012 am südlichen Zipfel von Neuseeland inmitten einer Schar von Freunden Champagner getrunken und meinen 70. Geburtstag gefeiert habe, ist der Abschnitt der großen Radreisen in meinem Leben wohl zu Ende. Doch jene erste grandiose Tour, die mich von der Antarktis in die Arktis führte, habe ich zuvor in umgekehrter Richtung noch einmal unter die Räder genommen. Und hier stehen wir, euphorisch wie vor 35 Jahren, angefüllt mit den Wundern dieser Welt – und laden Sie ein, mit uns zu teilen, mitzufeiern. Gebt uns noch einmal die Welt!
Wie Finger einer Hand strecken sich die skandinavischen Länder in den äußersten Norden. Norwegen gehört der schmale Küstenstreifen bis ganz nach oben, Schweden macht sich breit bis zum Bottnischen Meerbusen, auf dessen östlicher Seite Finnland sich reckt bis fast zum Kap – um seinerseits an Russland zu grenzen, jenen Nachbarn mit der kalten Schulter, der in Murmansk, nicht mehr als etwa 700 Kilometer entfernt vom Kap, seine gigantische Nordmeerflotte unterhält.
Wenn wir uns nur ein bisschen verfahren, schießt mir durchs Hirn, könnten wir in ein paar Tagen vielleicht jene abgewrackten sowjetischen Atom-U-Boote betrachten, von denen es heißt, dass ihre Reaktoren sich langsam, aber sicher durch den Schrott schmelzen und eines Tages ein besonderes Nordlicht entzünden werden, ein „ewiges Licht“, gespeist von Kräften, die der Mensch nicht kontrollieren kann. Im Stadtwappen von Murmansk schwimmt oben das Schiff und unten der Wal, ganz wie sich’s gehört. Wie allerdings der Wal und seine Freunde auf eine atomverseuchte Barentssee reagieren würden, bleibt abzuwarten.
Na, so weit werden wir uns schon nicht verfliegen, der Klaus und ich. Gerade kommt er mit staunenden Augen hinaus an die frische Luft. „Mensch“, sagt er, „ist ja irre, was es hier alles gibt.“ Als jemand, der seine Kindheit im Osten verbracht hat, steht er dem Rummel, der Fülle, dem hemmungslosen Kommerz ganz anders gegenüber als ich. Er genießt ihn! Er ist tatsächlich neugierig darauf, zu erfahren, was sich die Einheimischen hier im Norden ausgedacht haben, um dem Besuch aus dem Süden das Geld aus der Tasche zu ziehen.
Sein Counterpart wäre wohl jener coole Wessie, der jederzeit so tut, als hätte er wirklich schon alles gesehen und erlebt. „Kenn-ick, kenn-ick, kenn-ick“, wäre sein Lebensmotto. Ihm würde die Gleichgültigkeit ins Gesicht geschrieben stehen; wirklich begeistern ließe er sich kaum. Klaus ist mir da wesentlich sympathischer; man kann mit ihm ins pralle Leben tauchen, lachen, Unsinn machen. Er ist ein guter Radfahrer, besser noch, ein überaus vertrauenswürdiger Kumpel – und am allerbesten: ein echter Freund.
Die Derers kommen meist nicht allein, sondern als Clan. Die drei Brüder Klaus, Frank und Rüdiger sind lokale Größen im Erfurter Fahrradmarkt – mit ihrem Ladengeschäft, einer Servicestation am Bahnhof und einem Center für die neuen elektrischen Bikes. Groß geworden sind sie noch alle in diesem anderen politischen System, in dem es nichts gab, am allerwenigsten persönliche Freiheit. Als die Mauer fiel, bedeutete das für sie das Wegfallen vieler Fesseln. Endlich leben! Endlich das tun können, wonach ihnen der Sinn stand!
Ich weiß noch, es war eine einzigartige Atmosphäre des Aufbruchs. In Westdeutschland fragen sie bei meinen Vorträgen immer nach der Technik. „Wie viele Gänge braucht ein Reiserad?“ – „Wie schwer sollte der Rahmen sein und aus welchem Material?“ – „Zweifach oder dreifach gekreuzte Speichen – was ist für Namibia besser!“
Im Osten hingegen interessierte viel mehr das Tun. „Wie komme ich in einem fremden Land zurecht, wenn ich die Sprache nicht spreche? Wenn ich vielleicht nicht einmal die Schrift lesen kann?“ – „Wie plane ich ein solches Abenteuer?“ – „Wie viel Geld brauche ich, und kann ich unterwegs vielleicht noch was dazuverdienen?“
Zurück nach Norwegen. Wir sind ja nun schon einige Tage zusammen unterwegs. Gleich als er von meinem aktuellen Projekt hörte, hatte Klaus mir klargemacht, er müsse den Start mit mir gemeinsam erleben. Alternativlos. Und das Finale in Neuseeland auch! Nun ist es ein ziemlicher Akt für einen Fahrradhändler, mitten in der Hochsaison für ein paar Wochen Rad fahren zu gehen. Ich kenne eigentlich keinen anderen, der das übers Herz brächte. Aber Klaus ist da eigen, Klaus ist halt Klaus.
Ankunft in Oslo. Es ist der 20. Mai 2011, und uns empfängt herrliches, fast schon sommerliches Wetter, nachdem es in Deutschland noch so ausgesehen hatte, als wolle der Winter niemals weichen. Wir bauen die Räder zusammen. Wir verteilen unser Gepäck in die Taschen und starten einen ersten kleinen Test-Run vom Hafen Richtung Campingplatz. Als die Zelte stehen, fahren wir völlig entspannt durch die Stadt, schauen uns den Vigilands-Park mit seinen Skulpturen an und trinken Kaffee in der Sonne. Wir betrachten die Norweger, wie sie so sind bei sich zu Hause, und fühlen uns frei wie zwei Spatzen, die nichts als den Himmel über sich haben.
Weil wir Spaß haben in Oslo, weil uns niemand treibt, hängen wir den nächsten Tag einfach noch dran an unser improvisiertes Sightseeingprogramm. Dann aber geht es entschlossen zum Flughafen. Wir schieben die Bikes in die dafür vorgesehenen Boxen, zahlen einen Haufen Geld fürs Übergewicht unseres Gepäcks – und fliegen schon kurz darauf rund 2000 Kilometer weit nach Norden über ein Land, das immer leerer zu werden scheint, je weiter wir uns von der Hauptstadt entfernen. Zu Anfang sehen wir aus der Luft noch kleinere Orte, ab und zu eine Stadt. Unter uns Wälder, Felder, Fjorde, Berge. Aber all das nimmt zusehends ab – außer den Fjorden –, und als wir in Hammerfest landen, empfängt uns eine Landschaft aus riesigen braunen runden Felsen. Darüber spannt sich strahlend blau der Himmel, so klar, dass man die Sauerstoffmoleküle wohl einzeln betrachten könnte, wenn man nur gezielt nach ihnen suchte.
Faszinierend aber sind diese Felsen. Über weite Strecken wächst nicht einmal Moos auf ihnen, abgesehen von einzelnen, runzeligen Abschnitten, die dem Wetter abgewandt sind. Es ist, als hätte eine Herde gigantisch dicker Walrösser sich niedergelassen, um das Ende der Zeit zu erwarten und sich bis dahin am kalt flackernden Feuer des Nordlichts zu ergötzen. Diese Burschen mit ihrer von tausend Eiszeiten geglätteten Haut begleiten uns die nächsten Tage – und was sie umso faszinierender macht, ist die Tatsache, dass sie bei jedem Wetter und je nach Sonnenstand ihre Farbe verändern. Ich habe sie hellgrau und dunkelgrau erlebt, braun in allen Schattierungen und sogar blau, wenn ihnen der Sinn danach stand!
Jetzt sind wir also schon in Hammerfest – und immer noch gut 200 Kilometer vom eigentlichen Start der großen Welttour entfernt. Wir könnten das mit dem Rad erledigen, kein Thema. Andererseits … müssten wir kurz darauf die gleiche Strecke ja wieder zurückfahren; so groß ist die Routenauswahl hier am Ende Europas eben nicht. Das wäre langweilig, beschließen wir. Na, und weil wir ja noch Touristen sind sozusagen, ein bisschen verwöhnt und unbedingt neugierig, buchen wir eine Passage auf einem dieser unverwechselbaren norwegischen Postschiffe der Hurtigruten.
Dazu muss man sagen, dass „unser“ Schiff noch ein gutes Stück unverwechselbarer ist als die anderen. Will heißen, es ist nicht einfach nur weiß, rot, schwarz und fährt Fjord-rein, Fjord-raus – es zählt zu den ältesten, die überhaupt noch Dienst tun! Ein wunderbarer alter Dampfer, in dessen Salon schon Cary Grant mit abgespreiztem kleinem Finger seinen Tee hätte getrunken haben können. Und als wir unterwegs einen Vertreter der neuen Hurtigruten-Generation treffen, stellen wir fest: „Unserer“ ist im Vergleich dazu nicht mehr als eine hurtige kleine Nussschale!
Wir reiten also auf einer echt nostalgischen Welle Richtung Honningsvag; von dort sind es noch 39 Kilometer bis zum Felsen mit dem Nordkap; kurz davor liegt ein respektabler Campingplatz, auf dem schon bald unsere Zelte stehen.
Am nächsten Tag ist es dann so weit: Uns steht gleich ein elf Kilometer langer Anstieg vor dem Lenker. Hinauf, hinauf, hinauf auf den Hügel, auf dieses Biest von steinernem Walross. Ich bin doch noch nicht so trainiert, dies ist doch die erste Etappe! Aber es hilft alles nichts, und als wir endlich oben sind, einen Überblick über die Leiber der anderen Walrösser haben, die sich um unseres scharen … als wir um eine Ecke biegen, heraus aus dem Schutz unseres Anstiegs – da reißt mich der Wind vom Rad.
Ich rappele mich hoch, steige auf, und schon erwischt mich die nächste Böe, treibt mich vor sich her wie ein Stück zusammengeknülltes Papier. Es ist Verkehr auf der Straße. Die ersten Touristen haben ihre Camper nach Norden bugsiert – denen möchte ich nicht am Kühlergrill kleben, nur weil die plötzliche Laune eines Sturmpeitschers mich auf die Gegenfahrbahn schleudert.
Nein, das will ich nicht. So soll meine Reise bitte nicht beginnen – und vor allem nicht so schnell enden. Ich rede mit Klaus. Wir unternehmen zwei, drei weitere Versuche, bevor wir die Bikes wieder abwärtsrollen lassen, zurück zum Campingplatz von Honningsvag. Dort haben wir unsere Taschen gelassen; der Ausflug zum Nordkap sollte ohnehin nicht mehr als ein Anstandsbesuch werden. Nun bleiben wir halt einen Tag länger.
Vielleicht sollte ich grundsätzlich einmal erwähnen, dass ich so um die 60 Kilo wiege – das meiste davon Bart, wie ich Leute schon habe reden hören, wenn sie dachten, ich schliefe. Dazu kommen rund 20 Kilo Fahrrad, das sich zum Glück mit wenig Widerstand bewegen lässt. Die Taschen bringen normalerweise noch einmal 40 Kilo auf die Waage, sodass da in voller Montur so um die 120 Kilo Tilmann durch die Welt radeln. Der Sturm auf dem steinernen Walross spielte hingegen mit nur 80 Kilo; gefährlich war er durch die Unvorhersehbarkeit seiner gewaltigen Böen. Sie ließen mich tanzen, dass ich kaum reagieren konnte.
So hat uns der Campingplatz bald schon wieder. Ich verziehe mich samt Laptop für ein paar Stunden ins Internet, wo ich die Wettervorschau studiere, E-Mails beantworte und meine Homepage aktualisiere. Über Skype telefoniere ich zum Nulltarif mit Renate, wie ich es fast täglich mache, sofern eine Verbindung möglich ist. Ich liebe diese moderne Technik. Sie lässt mich die Verbundenheit von allem mit allem nicht nur spirituell erahnen, sie macht sie mir hautnah greifbar, erlebbar! Ich werde zum Herrn über Raum und Zeit, wenn ich die neun Stunden Differenz zwischen Australien und Europa überbrücke und aus dem Mittagsland in Regionen telefoniere, wo sich die Menschen gerade aufs Zubettgehen vorbereiten!
Da sitze ich und habe freie Wahl. Rufe ich meinen Fahrradsponsor in Holland an oder meinen japanischen Freund Tatsuja, der in den USA lebt – der aber, weil er selbst Radreisender ist, den Anruf auch in Feuerland entgegennehmen könnte oder in Asien. Oder der auf meine Frage, wo er denn gerade sei, womöglich antwortet: „Ich möchte morgen zum Nordkap fahren. Momentan bin ich auf einem Campingplatz elf Kilometer entfernt davon, in diesem kleinen grünen Zelt von VauDe, das du mir damals besorgt hast …“ Und dann schaue ich hinaus aus meinem gelben Zelt und sehe ihn in 50 Meter Entfernung, wie er da hockt und per Skype mit mir telefoniert!
Hört sich konstruiert an? Ich glaube fest daran, dass so etwas möglich ist. Wer immer da draußen an den Reglern unseres Universums sitzt, hat eine Menge Humor. Auch. Er hat auch Humor. Meistens aber lacht er allein, weil die Menschen zu verstrickt in ihr kleines Leben sind und daher die göttlichen Witze nicht kapieren. Schlimmer noch, sie glauben gar nicht, dass es das geben könnte, einen göttlichen Witz. Na, und wenn sie dann einem begegnen, bei dem ich mich wegschmeißen könnte vor Lachen – dann trauen sie sich nicht, denn in ihrer Vorstellung passt das nicht zusammen, das Göttliche und der Witz. Vielleicht glauben sie sogar, sie kämen in die Hölle, wenn sie lachten.
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