Null gleich eins (Berger & Blom 5) Null gleich eins (Berger & Blom 5) - eBook-Ausgabe
Kriminalroman
— Skandinavischer Krimi aus SchwedenNull gleich eins (Berger & Blom 5) — Inhalt
Das Eis kennt alle Geheimnisse. Jetzt gibt es sie preis.
Er wird es wieder tun. Am Fünften jedes Monats findet die Stockholmer Polizei in den Schären eine Leiche. Doch die Todesursachen unterscheiden sich, und so glaubt niemand an eine Verbindung zwischen den Morden. Niemand außer Kommissarin Desiré Rosenkvist, die Sam Berger und Molly Blom mit dem Fall beauftragt. Obwohl die Ermittler im Verborgenen agieren müssen, erkennen sie: Wer auch immer die Toten deponiert, will gefunden werden. Nur warum gerade jetzt? Berger und Blom setzen sich auf die Fährte eines größenwahnsinnigen Täters, dem es um nichts Geringeres als das ewige Leben zu gehen scheint.
In Arne Dahls fulminantem Abschluss seiner erfolgreichsten Krimireihe geht es um einen spektakulären Fall, vier Morde für die Unsterblichkeit und eine Rache, die alle Vorstellungskraft übersteigt.
„Absolute Weltklasse! Arne Dahl hat sich noch einmal selbst übertroffen und den besten Krimi seiner Karriere geschrieben.“ Kapprakt
„Der Stil dieses Autors ist wie immer brillant. Nach einer atemberaubenden Achterbahnfahrt werden die Leser mit einem freudigen Schauder belohnt.“ Skånska Dagbladet
„Arne Dahl erfindet eine Geschichte, die so realistisch ist, dass sie sich als Vorahnung erweist.“ La Repubblica
Leseprobe zu „Null gleich eins (Berger & Blom 5)“
1
Trotz der Augenbinde kann er alles sehen. Alles, was vor sich geht. Leise. Schweigend.
Die Vorbereitungen.
Es ist beängstigend still. In der Luft liegt der Duft der Sommernacht. Sonst hört man nichts. Keine Vögel, keine Mücken, keine Eulen, kein Laut. Die Natur ist vollkommen still. Nicht das leiseste Knirschen des Sandes unter den Stuhlbeinen. Unter keinem der vielen Stuhlbeine.
Er ist noch so jung. Er hat keine Vorstellung davon, was passieren wird. Hat nur erklärt bekommen, wie es ablaufen soll. Er weiß, dass alles zu seinem Besten geschieht.
Es wird [...]
1
Trotz der Augenbinde kann er alles sehen. Alles, was vor sich geht. Leise. Schweigend.
Die Vorbereitungen.
Es ist beängstigend still. In der Luft liegt der Duft der Sommernacht. Sonst hört man nichts. Keine Vögel, keine Mücken, keine Eulen, kein Laut. Die Natur ist vollkommen still. Nicht das leiseste Knirschen des Sandes unter den Stuhlbeinen. Unter keinem der vielen Stuhlbeine.
Er ist noch so jung. Er hat keine Vorstellung davon, was passieren wird. Hat nur erklärt bekommen, wie es ablaufen soll. Er weiß, dass alles zu seinem Besten geschieht.
Es wird sehr wehtun.
Aber es wird es wert sein.
Das haben sie ihm gesagt: Es wird es wert sein.
Er ist noch so klein, und macht sich schon Gedanken über Verrat. Was ist Verrat? Gibt es schlimmen und weniger schlimmen Verrat? Ist das hier der größtmögliche Verrat, den man sich vorstellen kann?
Trotz Augenbinde kann er den Strand sehen. Wo sie sich sonst mit Sand bewerfen, sich ins Wasser schubsen, Hände und Knie auf dem Meeresgrund aufschürfen, auf die seifig glatten Felsen unter Wasser klettern, um von dort hinunterzurutschen, sich den Hintern zu stoßen und unterzutauchen, auf der Jagd nach bunten Steinen.
Die Sommernacht ist ungewöhnlich still.
Bis er ein schwaches Brummen hört, kaum wahrnehmbar. Ist das ein Motor? Doch das Geräusch erstirbt gleich wieder.
Es ist schon dunkel. Glaubt er zumindest. Es müsste dunkel sein. Jetzt müssten die wenigen dunklen Stunden angebrochen sein, wenn die Sonne hinter dem Horizont für kurze Zeit ins Ungewisse abtaucht. Doch er weiß es nicht.
Er weiß tatsächlich gar nichts.
Aber in ihm rührt sich etwas. Er hat keine Kontrolle darüber. Genau genommen sind es zwei Dinge.
Das eine ist Angst. Entsetzen. Panik. Er weiß, dass es nur zu seinem Besten ist, aber er will nicht, dass es wehtut. Er will nicht auf die Schmerzen warten. Er hasst, was in den nächsten Minuten dieser Julinacht passieren wird.
Das zweite entsteht in diesem Augenblick. Es ist Wut. Die Wut über den Verrat. Obwohl er noch so klein ist, weiß er genau, dass ihn dieses Gefühl nie mehr verlassen wird.
Die Wut durchdringt seine Augenbinde, brennt Löcher hinein, durch die er alles sehen kann. Er sieht die Uferkante und das Wasser des stillen Sees dahinter, er sieht die flachen Felsen, die neugierig aus dem Wasser ragen, er sieht den Waldrand, dessen Silhouette sich wie ein Sägeblatt auf der anderen Uferseite erhebt.
Alles, was er nicht sehen kann, brennt die Wut für immer in seine Erinnerung.
Plötzlich hört er ein Knirschen. Im Sand. Sehr deutlich. Und es ist, als würde ihn jemand aus einer anderen Zeit bedrängen.
2
Samstag, 4. März
Ihr Bewusstsein wurde von einem Wurmloch verschlungen, und übrig blieb nichts als Schmerz.
Um diesem irren Schmerz zu entkommen, suchte sie nach dem richtigen Wort. Worte beruhigen. Worte sollten beruhigen. Worte müssen beruhigen.
Da sich die Hände dem Wortlosen nur langsam näherten, hatte sie eine Chance, den passenden Ausdruck zu finden. Sie versuchte, ihren Synapsen weitere Assoziationen abzuringen.
Gymnastik. Akrobatik zwischen zwei horizontalen Stangen. Aber man nennt sie nicht Stangen, oder? Und wie heißt die Disziplin?
Sie wusste genau, dass sie sich damit nur ablenken wollte. Dass dies ein Ausweichmanöver war. Damit der Schmerz sie nicht überrollen konnte und die eigentliche Bewegung unmöglich machte.
Frauengymnastik? Männergymnastik? All das fühlte sich männlich an. Was gab es für gymnastische Disziplinen für Männer? Bodenturnen, natürlich. Und dann Pferd, Ringe. Sprung? Gab es die Disziplin Sprung? Aber wie hieß das Gerät mit den Stangen? Barren?
Ja, genau. Barren. So hieß das. Es war der erste schmerzfreie Moment seit unzähligen Monaten, jetzt, da sie das Wort vor sich sah.
Holme.
Die Hände, die sie bis dahin gehalten hatten, ließen sie los, als sie die Holme gepackt hatte. Die beiden Stangen erstreckten sich in die Unendlichkeit.
Zwischen ihnen tauchte ein Gesicht auf, keinen halben Meter entfernt. Die Lippen der Frau bewegten sich, als würden sie ihr etwas zurufen, sie anfeuern. Aber sie hörte kein Wort, die Frau blieb stumm. In ihr war kein Raum für Laute. Der Schmerz hatte jeden Millimeter okkupiert.
Trotzdem machte sie den ersten Schritt. Ihren ersten eigenen Schritt. Sie hing auf den Holmen und kämpfte sich vorwärts. Der Schmerz wurde übermächtig, zu mächtig für ihren Körper. Es war, als würde er durch ihre Haut dringen und sie wie eine fauchende, zischende Aura umgeben. Trotzdem machte sie einen zweiten Schritt.
Und noch einen.
Sie starrte wie besessen auf das Gesicht vor ihr, und dieses Starren schien ein Loch in die Aura zu brennen und Geräusche hineinzulassen. Sie hörte ihr eigenes Gebrüll, das sich mit ihren Tränen mischte und der Frau entgegenschlug.
Die sprang auf sie zu und packte sie am Rumpf.
„Nicht aufgeben, Desiré, Sie haben die Hälfte schon geschafft.“
Irgendwie gelang es ihr, den weiß gekleideten Körper von sich zu stoßen.
„Nennen Sie mich nie wieder Desiré“, fauchte sie.
Dann machte sie den nächsten Schritt.
Molly Blom ließ ihren Blick über das kurze Straßenstück schweifen, das zu der kleinen Ansammlung von roten Holzhäuschen auf der Åsögatan führte. Der Stockholmer Winter war fast überstanden, es war ein kalter, ungemütlicher Samstag im März, und in wenigen Minuten würde sich ihr Lebenswille mehr als verdoppeln. Während sie das Haus in der Ploggatan auf Södermalm betrat, fragte sie sich verblüfft, wie es so hatte kommen können. Keinen einzigen Gedanken hatte sie früher an diese Art von Leben verschwendet – und jetzt bestand ihr Leben aus nichts anderem.
Was war aus ihren Träumen geworden?
Sie nahm zwei Stufen auf einmal, und während sie die Treppe hinauflief, tauchten vor ihrem inneren Auge Bilder einer verlorenen Welt auf: Crossfit, Selbstverteidigung für Frauen, Blut und Schweiß und Tränen. Mit der letzten Stufe verschwanden die Bilder, und an ihre Stelle trat die Realität des Treppenhauses, die grauer und kälter war. Gleich aber würde die Sonne aufgehen.
Sie klingelte an der Tür. Der Mann, der öffnete, hatte die Sonne wohl schon länger nicht mehr zu Gesicht bekommen. Vor allem sah er nicht ausgeschlafen aus. Das Kind hingegen, das vor seiner Brust in der Trage hing, schnarchte lautstark.
„Sie mag Wasser“, nuschelte der Mann.
„Das kann niemand verstehen, was du da sagst“, beschwerte sich Molly Blom.
Sam Berger streckte sich, es knackte ordentlich.
„Ich habe die ganze Nacht das Wasser laufen lassen. Es war die einzige Möglichkeit, sie zum Schlafen zu bringen. Verschwendung wäre da noch untertrieben.“
„Bei mir hat sie nie Probleme mit dem Einschlafen“, log Blom.
„Dann sollten wir vielleicht doch zusammenziehen?“, sagte Berger und pellte vorsichtig ihre knapp sechs Monate alte Tochter Myrina aus der Trage.
Blom nahm sie in den Arm und spürte augenblicklich, wie die Sonne aufging. In ihr wurde ein Licht angezündet, das alles überstrahlte.
„Hör auf, dich zu beschweren“, sagte sie mit sanfter Stimme. „Gib mir Zeit, um nachzudenken.“
„Am Anfang bist du für neun Monate spurlos verschwunden, um nachzudenken“, sagte Berger. „Jetzt hast du noch mal ewig Zeit gehabt. Das ist ganz schön viel Gedenke.“
Er stopfte die Trage in eine Tasche, die an dem Kinderwagen im Flur hing. Molly bettete das schlafende Kind vorsichtig in den Wagen. Berger legte seine Hand auf ihren Arm und sah ihr tief in die Augen.
„Wir haben ein Kind zusammen, Molly, es läuft doch super zwischen uns. Wir arbeiten praktisch jeden Tag zusammen. Warum kann das nicht mehr werden?“
Ausnahmsweise hielt sie seinem Blick stand.
„Du weißt genau, was passiert ist“, sagte sie.
Berger ließ ihren Arm los. Seufzte.
„Das hatte doch nichts mit uns zu tun. Wir sollten endlich anfangen …“
„Es war ein Zeichen“, erwiderte Blom. „Ich muss das erst verarbeiten. Gib mir mehr Zeit.“
„Die Schuldigen sind weg, Molly“, sagte Berger eindringlich und griff erneut nach ihrem Arm. „Nirgends eine Spur von ihnen.“
Wütend starrte Molly ihn an, schlug seinen Arm weg.
„Wir haben Deers abgesägtes Bein in unserem Bett gefunden, als wir vögeln wollten!“, schrie sie außer sich.
Das Echo ihrer Worte vermischte sich mit Myrinas Wimmern und folgte ihnen, als sie zum Aufzug rauschte.
Sam Berger sah ihnen lange nach.
Die Holme sind nicht mehr so unendlich lang wie zuvor. Obwohl das Flimmern in ihrem Gesichtsfeld sie verdrehte und verbog, waren sie höchstens noch einen Meter lang. Der Schmerz ließ sich nicht mehr in Worte fassen, er entzog sich ihr. Stach blind auf sie ein, er brüllte so laut, dass ihre Trommelfelle beinahe geplatzt wären, er roch nach Schwefel, schmeckte nach Wermut und versengte ihr von innen die Augenlider. Trotzdem schaffte sie noch einen nächsten Schritt.
Sie versuchte einen weiteren, aber es war, als würde man auf zwei wunden Stumpen laufen, als würden blanke Nerven, Fleisch und Knochen direkt über den Boden scheuern und schaben.
Sie stürzte.
Sie war sich sicher, dass sie stürzen würde.
Stattdessen aber schwebte sie zwischen den Holmen.
Sofort waren die Hände da, hielten sie – sicher, fest – und hoben sie hoch, forderten sie auf, sich erneut festzuhalten. Durch die Tränen sah sie, dass sich der Mund der Frau bewegte. Wieder hörte sie nichts.
„Ich kann nicht mehr“, wimmerte sie. „Es tut so schrecklich weh.“
Die dunklen Augen sahen tief in ihre.
„Dann geben Sie doch auf, verdammt“, hörte sie eine Stimme sagen. „Und probieren Sie aus, ob es so besser wird.“
Das gab ihr neuen Antrieb. Was sie weitermachen ließ, war Wut, Hass. Das Gesicht mit dem höhnischen Grinsen war wie eine Fata Morgana: Sobald sie näherkam, wich es zurück und war von Neuem unerreichbar.
Aus dem Gesicht der Frau war das Gesicht eines Mannes geworden, mit markanten Zügen und einer Narbe in Form eines R auf der Wange. Das verlieh ihr Kraft. Er war das Ziel. Ihn wollte sie töten.
Sie kämpfte um jeden Millimeter. Wie ein Blitz schoss der Schmerz durch ihren Körper. Sie hatte das Ende der Holme fast erreicht, als die Frau wieder das Gesicht übernahm und sie anfeuerte.
„Nur noch einen Schritt. Kommen Sie, Deer, das schaffen Sie.“
3
Sonntag, 5. März
Die Dämmerung steigt auf und breitet ihr Licht über die schneebedeckten Felsen aus, die aus der Wasseroberfläche ragen, dazwischen vereinzelte Eisschollen. Die ersten Sonnenstrahlen spiegeln sich im Wasser, im Eis und fallen in unregelmäßigen Abständen durch das Panoramafenster in den dunklen Raum.
Wenn man den Zustand dieses Raumes bedenkt, hätte die Zeit längst alle Fenster zerbersten müssen. Aber sie sind noch intakt und halten die schlimmste Winterkälte zurück. Der Raum ist kalt und karg, versinkt im Staub. Es gibt kaum Mobiliar außer ein paar Hockern, die um einen länglichen Tisch herumstehen, darauf ein altes, aufgeschlagenes Notizbuch.
Draußen geht langsam die Sonne auf. Alles ist Ruhe. Alles ist Stille.
Bis die Tür aufgestoßen wird.
Der Mann, der in den Raum stolpert, ist noch ziemlich jung. Seine Kleidung ist schwarz, seine dunkelgraue Mütze hat er tief über die Ohren gezogen. Vor Kälte zitternd, wankt er zum elektrischen Heizkörper in der Mitte des Raumes und dreht ihn auf die höchste Stufe. Er geht auf und ab, schlägt sich die Arme um den Körper, um warm zu werden. Es spritzt.
Es spritzt Blut.
Der Mann tropft vor Blut.
Er wirft das Jagdmesser auf den Tisch und lässt sich auf einen der Hocker fallen. Das Licht ist noch zu schwach zum Lesen, aber schon stark genug, um die dunkelroten Flecken zu sehen, die sich auf dem blau-grün karierten Tischtuch ausbreiten – mit Abstand das Neueste in diesem Raum.
Der junge Mann würde sich gern nach hinten lehnen, sich von den nächtlichen, eiskalten Mühen erholen, aber die Hocker haben keine Lehne. Wahrscheinlich ist es auch besser, so schläft er nicht sofort ein. Er muss wach bleiben. Auf jeden Fall. Außerdem ist die Kälte so tief in seine Glieder gedrungen, dass er im Schlaf erfrieren würde.
Aber diese kurze Pause tut gut.
Es hat begonnen.
Er sieht, wie sich das Messer hebt. Als hätte er damit nichts zu tun. Als hätte es ein Eigenleben, sticht es immer und immer wieder zu. Nachdem das Gesicht bis zur Unkenntlichkeit entstellt ist, arbeitet sich das Messer weiter voran. Zur Brust, zum Rumpf, dann ein letztes Mal zurück ins Gesicht. Das ist kein Akt der Besinnungslosigkeit, er zählt bis achtzehn. Dann hört er auf.
Seltsam, denkt er, dass es tatsächlich möglich war, den ersten Schritt zu machen. Es gibt sehr wohl ein Ende, einen logischen Abschluss, nur der Anfang hatte ihn verunsichert. Aber das ist jetzt überstanden. Jetzt wird er das hier beenden, seinen ganz eigenen Schlussstrich ziehen.
Das zähflüssige Blut tropft vom Jagdmesser auf die Tischdecke und wird gierig von den Fasern aufgesogen.
Das kranke Blut.
Ekel.
Reglos sitzt er da und sieht, wie sein Spiegelbild im Fenster langsam verblasst. Als würde er mit zunehmender Helligkeit verschwinden, aufgehen in der Natur, verschmelzen mit der Küste, sich als Individuum verabschieden und zum Schicksal selbst werden. Kurz bevor er sich auflöst, sieht er sich als seine eigene Offenbarung: jung, gesund, kraftvoll – ein Mann, der ewig leben könnte.
Wie der Schein trügen kann.
Dann senkt er seinen Blick und blättert mit blutigen Händen in dem Notizbuch. Wahllos liest er die Aufzeichnungen, die mit pedantischer Handschrift gemacht wurden:
„Es muss ohne Betäubung erfolgen. Der Schnitt ist fein, nicht tief, sauber. Die Lederbänder halten, trotz der enormen Kraft in Armen und Beinen. Die Ohrstöpsel sind das Beste, was der Markt hergibt. Wenn ich das Skalpell weglege, ist kein einziger Schrei durchgedrungen …“
Der junge Mann hebt den Kopf. Die Dämmerung hat noch mehr Licht zugelassen. Er hört das Eis, das sich bewegt, die Eisschollen, die aneinanderreiben. Es ist ein göttliches Geräusch. Und beschreibt doch seinen Zustand.
Das Eisbrechen.
Er feiert, dass er genau vor einem Jahr das Notizbuch gefunden hat. Damals hat er den Entschluss gefasst. Er feiert es auf eine ziemlich außergewöhnliche Art und Weise.
Er hat das Buch schon lange nicht mehr aufgeschlagen, kann den Inhalt aber dennoch auswendig. Die nächsten Worte erfüllen alle Erwartungen und lassen ihn an Kontakte, Kosten und diese grenzenlose Hemmungslosigkeit denken:
„Die Hand in die Eingeweide gleiten zu lassen, entlang der präzisen Schnitte durch die Haut-, Muskel- und Bindegewebsschichten, hat etwas unvergleichlich Erbauliches. Als würde man ans Unterbewusste rühren und in dem herumwühlen, was die Menschlichkeit verbergen will. Um dann das vollendete Organ in den Händen zu halten. Das ist sublim. Denn es hat mindestens siebzig Jahre garantierte, untrügliche Lebenszeit vor sich …“
Er kann die Stimme förmlich hören, das Leiernde, die Betonung der einzelnen Worte. Aber er ist sie leid, und es gelingt ihm, sie zum Verstummen zu bringen.
Der junge Mann mustert seine Hand. Wartet geduldig. Sie ist unerwartet regungslos. Als hätte die Tat sie beruhigt. Als hätte die Gewalt der Messerstiche die Irrwege seines Organismus blockiert.
Aber dann setzt es wieder ein. Es fängt wieder an. Das Zittern.
Zurück zum Bekannten. Das ist sein Leben.
Er lässt den Blick aus dem Fenster schweifen. Die Küste ist in blasses Winterlicht getaucht. Er sieht den Strand, die runden Felsen knapp über der Wasseroberfläche, den Wald auf der anderen Seite der Bucht. Dort ist es passiert.
Hier ist es passiert.
In der Fabrik.
Das Blut an seiner linken Hand ist noch nicht ganz getrocknet. Als das Zittern wieder einsetzt, fallen die letzten Tropfen auf den Tisch. Er zwingt die Hand, das Notizbuch zu berühren. Nur die rechten Seiten sind beschrieben, nur auf den linken hinterlässt er blutige Fingerabdrücke. Er blättert an den Anfang.
Zum Anfang von allem.
Zur Einleitung.
„Seit der Mensch sich aufgerichtet hat und auf zwei Beinen läuft, seit der Geburtsstunde des menschlichen Bewusstseins und des Abstraktionsvermögens träumen wir davon, das Leben verlängern zu können. Der Traum vom ewigen Leben hat in jede Religion, in jeden Mythos und jede Legende der Weltgeschichte Einzug gehalten. Mit der Säkularisierung ist er aus der diffusen Welt der Mythen aufgebrochen und hat auf seinem Weg das Paradies, die Hölle und das Fegefeuer hinter sich gelassen. Der Traum ist im Hier und Jetzt angekommen. In unserem Leben. Und es ist kein Traum mehr. Wir haben viel zu lange hingenommen, dass wir sterben müssen.“
Die prätentiöse Sprache lässt den jungen Mann erschaudern. Wenigstens ist die Stimme in seinem Kopf endlich verstummt.
Die linke Hand zittert unverändert. Als sie das Notizbuch zuschlägt, hinterlässt sie einen deutlichen Abdruck auf dem Umschlag.
Er greift nach dem Messer, packt es, drückt fest zu, als würde er das letzte Blut aus seinem Schaft pressen wollen. Nach einer Weile hört es auf zu zittern. Die Hand wird ruhig. Alles eine Frage des Willens.
Und er hat jetzt diese Willenskraft.
Er hat den Anfang gemacht.
Alles muss beseitigt werden.
Das Blatt muss bereinigt, muss wieder weiß werden.
Ohne aufzustehen, schiebt er den Hocker ans kurze Ende des Tisches. Hebt mit dem Messer die Ecke der Tischdecke an.
Trotz der Tischdecke ist die Glasplatte beschlagen, als würde sie etwas absondern. Behutsam wischt der junge Mann das Kondenswasser weg.
Und sieht in das Gesicht einer Frau.
Einer sehr schönen Frau.
Die Ausgangssituation ist eigentlich ganz einfach. Ein durchgeknallter Barkeeper jagt in seiner Freizeit Menschen durch das australische Outback. Und diesmal hat er sich dafür eindeutig die Falsche ausgesucht, denn Sammi, die er betäubt und nachts nach einem Barbesuch kidnappt, ist Polizistin und damit nicht nur eine adäquate Gegnerin, sondern vielleicht auch die, die ihn überführen wird; so sie denn „Die Hatz“ überlebt. Es entbrennt eine spannende Jagd, in der anfangs der Verfolger sicherlich die besseren Karten hat aber Sammi ist taff und klug und weiß sich zu verstecken und auch zu wehren. Der Schreibstil ist leicht lesbar und durch kurze Kapitel mit wechselnden Perspektiven wird der Spannungspegel von Anfang an sehr hoch gehalten. Die Story wird logisch und stringent erzählt, hat aber wenig wirkliche Überraschungsmomente. Da die Riege der Darsteller begrenzt ist, hätte ich mir etwas mehr Charakterstudie von den beiden Gegnern gewünscht. Aber Sammi zumindest ist eine Person, für die der Leser schnell Empathie entwickeln kann, wohingegen ihr Jäger etwas blass und einfach nur durchgeknallt bleibt. Gutes Buch mit einem spannenden Setting. Für mich als Robotham-Fan war es aber doch nur Durchschnitt und kam auch nicht an meinen letzten australischen Geheimtipp – The Dry – heran.
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