Nur die Wahrheit rettet - eBook-Ausgabe
Der Missbrauch in der katholischen Kirche und das System Ratzinger
Nur die Wahrheit rettet — Inhalt
Seit bekannt ist, dass katholische Priester jahrzehntelang ungestraft Kinder sexuell missbraucht haben, steckt die katholische Kirche in einer existenzbedrohenden Krise. Joseph Ratzinger hat mehr damit zu tun, als viele glauben.
Ausgehend von exklusiven Interviews mit Weggefährten und Vertrauten Ratzingers sowie einem sorgfältigen Quellenstudium, zeigen die Autoren: Der frühere Papst hat die routinemäßig gepflegte Vertuschungspraxis der Kirche nicht nur stillschweigend geduldet, sondern sie als Teil einer konsequent durchdachten religiösen Ideologie selbst stetig praktiziert und gefördert.
Leseprobe zu „Nur die Wahrheit rettet“
Vorbemerkung
Dieses Buch ist anders als alle anderen Bücher über Joseph Ratzinger/Papst Benedikt XVI. Es ist keine biografische Erzählung. Es ist kein Pamphlet und sicher keine Apologie, und es erhebt auch keinen wissenschaftlichen Anspruch. Es will nicht so sehr den Menschen Joseph Ratzinger beschreiben, sondern vielmehr hartnäckig einer Frage nachgehen: Welche Rolle spielte dieser Mann, der über ein Vierteljahrhundert die katholische Kirche entscheidend prägte, in ihrem Versagen in der Missbrauchskrise? Dabei versuchen wir, so nah an Joseph [...]
Vorbemerkung
Dieses Buch ist anders als alle anderen Bücher über Joseph Ratzinger/Papst Benedikt XVI. Es ist keine biografische Erzählung. Es ist kein Pamphlet und sicher keine Apologie, und es erhebt auch keinen wissenschaftlichen Anspruch. Es will nicht so sehr den Menschen Joseph Ratzinger beschreiben, sondern vielmehr hartnäckig einer Frage nachgehen: Welche Rolle spielte dieser Mann, der über ein Vierteljahrhundert die katholische Kirche entscheidend prägte, in ihrem Versagen in der Missbrauchskrise? Dabei versuchen wir, so nah an Joseph Ratzinger/Benedikt XVI. zu sein wie möglich und seine ureigensten Beweggründe nachzuvollziehen: Was wusste er? Was hätte er tun können? Was tat er? Was tat er nicht, und, vor allem, warum? Warum beispielsweise ließ Ratzinger Missbrauchstäter im Priesteramt jahrelang unbehelligt, während er vermeintliche Abweichler in der Doktrin gnadenlos verfolgte? War er sich der Widersprüche seines Handelns bewusst?
Dieses Buch beschränkt sich nicht auf einzelne isolierte Fälle. Es möchte ein größeres Bild zeichnen. Dafür bleiben – mangels Zeit und Raum – nur wenige Pinselstriche. Unsere Methode ist einfach: Wir betrachten Ratzinger als eine Figur in einem komplexen kirchlichen System. Wir bringen seine Biografie in Kontakt mit Ereignissen und Fakten, die zwar längst öffentlich, aber erstaunlich wenig bekannt sind. Wir stellen Ereignisse, Daten und Namen nebeneinander, führen Handlungsfäden zusammen, die uns immer wieder zu Ratzinger führen, die seinen Charakter erhellen, die sein Handeln in neuem Licht erscheinen lassen, die manche Fragen klären und viele andere aufwerfen. So entsteht Seite für Seite ein Bild von diesem Mann, das ganz anders ausfällt als jenes vom schüchternen Gelehrten, vom stillen Helden, vom „Panzerkardinal“ oder vom „Mozart der Theologie“. Letztlich wirkt nicht nur das Scheitern seines Pontifikats vor diesem Hintergrund als unvermeidlich, sondern womöglich sogar das Scheitern seiner Kirche.
1 Eine hagiografische Skizze
oder: Ratzingers Geschichte als die eines Helden
In der Frage, wer für die Missbrauchskrise in der römisch-katholischen Kirche verantwortlich ist, wer den massenhaften Missbrauch von Schutzbefohlenen durch Priester hätte verhindern können, wer geholfen hat, ihn zu vertuschen, wer Täter gedeckt und Opfer zum Schweigen gebracht hat, leuchtet zwischen den Namen vieler inzwischen verurteilter, angeklagter oder zwielichtiger katholischer Würdenträger der Name Joseph Ratzingers als rühmliche Ausnahme hervor. Selbst Gegner bescheinigen dem Kardinal und späteren Papst, dass er den Ernst der Lage und das Leid der Opfer früher als andere gesehen und verstanden hätte. Sie rechnen ihm hoch an, dass er als erster Papst Missbrauchsopfer getroffen hat, und sagen, er hätte entschieden gegen Täter durchgegriffen, und zwar trotz des scharfen Widerstands seiner Kardinalskollegen im Vatikan, die ihn später, in den schwierigsten Momenten seines Pontifikates, alleinließen, bis hin zu seinem historischen Amtsverzicht im Jahr 2013.
Dass ihm bis heute kaum jemand seinen Einsatz gegen den Missbrauch zu danken scheint, macht die Heldenhaftigkeit dieses Mannes in den Augen seiner Anhänger perfekt. Für sie ist er ein verkannter Heiliger. Und auch wenn seine Theologie und Amtsführung in den Augen mancher weltfremd, autoritär oder unbarmherzig gewesen sein mag, in einem sind sich Anhänger wie Gegner Ratzingers bis heute weitgehend einig: Wenn es um die Verfolgung und Verhinderung von Kindesmissbrauch in der katholischen Kirche ging, war er unbestechlich und handelte als einer der wenigen frühzeitig und mutig.
Aber stimmt das?
Um beurteilen zu können, was von der Geschichte des einsamen Helden Joseph Ratzinger zu halten ist, muss man sie erst einmal kennen. Daher beginnt dieses Buch mit den zentralen Elementen der Geschichte Ratzingers, die insbesondere von seiner Anhängerschaft propagiert und weit darüber hinaus von vielen bis heute geglaubt wird.
Seine kindliche Einfachheit
Praktisch alle Weggefährten und Beobachter sind sich einig: Joseph Ratzinger ist von seinem Wesen her ein eher introvertierter Mensch, mehr ein feinsinniger Denker als ein zupackender Politiker. Er gilt nicht nur als ausgesprochen einfach, schüchtern und zurückhaltend, sondern habe zeitlebens ein geradezu kindliches Gemüt bewahrt. Einem seiner engsten Freunde, dem ehemaligen Kölner Erzbischof Kardinal Joachim Meisner wird die Äußerung zugeschrieben, Ratzinger sei „der Mozart der Theologie, gescheit wie zehn Professoren und dabei fromm wie ein Kommunionkind“ , und Wolfgang Beinert, ein langjähriger Weggefährte in Ratzingers jungen Jahren, formuliert es so: „Trotz der vielen wichtigen Ämter, die er innehatte, kann man wohl sagen, dass Ratzinger im tiefsten Grunde seines Herzens ein sehr schlichter, einfacher – ja, ein Junge geblieben ist.“ In biblischer Sprache könnte man sagen, er war rein, arglos, ohne Falsch (ἀκεραίους ). Er meint die Dinge so, wie er sie sagt, und sagt sie so, wie er sie denkt, und denkt, sie seien so, wie er glaubt.
Seine Einfachheit und Bescheidenheit behielt er auch als Papst. Menschen, die ihn aus der Nähe kennen, fiel seine geradezu berührende kindliche Frömmigkeit auf. Sie ist tief in der kirchlichen Prägung seiner Kindheit verwurzelt, im dörflichen bayerischen Katholizismus der 1920er- und 30er-Jahre. Wie eng seine Herkunftsfamilie, seine Kindheit und sein Glaube miteinander verflochten sind – und wie einfach sein Glaube trotz seiner akademischen und kirchlichen Laufbahn geblieben ist –, wurde gelegentlich auch vor einer größeren Öffentlichkeit sichtbar. So zum Beispiel, als er beim Weltfamilientreffen in Mailand 2012 auf die Frage eines kleinen Mädchens sagte: „Wenn ich mir vorzustellen versuche, wie wohl das Paradies aussehen könnte, dann kommt mir immer die Zeit meiner Jugend, meiner Kindheit in den Sinn (…), und ich denke, dass es im Paradies ähnlich sein muss wie in meiner Kinder- und Jugendzeit. In diesem Sinn hoffe ich, eines Tages ›heimzugehen‹, der ›anderen Welt‹ entgegen.“ Ein anderer Moment, in dem seine Schlichtheit spürbar wurde, waren seine ersten Worte als neu gewählter Papst auf der Loggia des Petersdomes: Er, der jahrzehntelang Präfekt einer der wichtigsten Behörden des Vatikans gewesen war, der die Weltkirche geprägt hatte wie wenige seiner Generation, nannte sich einen „einfachen und demütigen Arbeiter im Weinberg des Herrn“ und fügte hinzu, es tröste ihn, dass Gott auch mit ungenügenden Werkzeugen arbeiten könne. Ebenso schlicht und bescheiden mutete sein Rücktritt vom Papstamt an, ein Schritt mit einer historischen Dimension, unwägbaren Konsequenzen und rechtlichen Komplikationen, der jedem anderen in seiner Situation unerträgliches Kopfzerbrechen bereitet hätte. Für Joseph Ratzinger dagegen war es nach eigenem Bekunden vor allem eine Frage des Glaubens und seiner persönlichen Gottesbeziehung. Seine Antwort auf die Frage, wie er eine Entscheidung von solcher Tragweite treffen konnte, lautete ganz einfach: „Mit dem lieben Gott spricht man ja ausgiebig darüber.“ Wer Ratzinger kennt, weiß: Das meinte er wörtlich. Das Kindliche an Ratzinger ist alles andere als kindisch, vielmehr schwingt in Aussagen wie dieser eine ganz besondere Art von Ernsthaftigkeit mit, eine, der doppeldeutige, ironische oder zynische Zwischentöne fremd sind.
Das ist wichtig, denn es hilft zu verstehen, woher gerade in Glaubensdingen jene Geradlinigkeit rührte, die ihn auszeichnet. Man könnte auch sagen: Er ist ein durch und durch korrekter Mensch, der den Glauben und seine hohen moralischen Anforderungen ausgesprochen ernst nimmt. Das bedeutet auch: Es verbindet ihn nichts mit jenen Kirchenmännern, die es gewohnt waren, in moralischen Dingen beide Augen zuzudrücken und ohne Gewissensbisse großzügige Ausnahmen für sich selbst und ihre Freunde zu machen. Und es gibt keinen Zweifel daran, dass es vor allem solche Männer waren, die auch nicht davor zurückschreckten, sexuelle Gewalt gegen Kinder sehenden Auges zu vertuschen, Opfer zum Schweigen zu bringen und ungerührt weitere Opfer in Kauf zu nehmen. Die Mentalität dieser Männer ist Joseph Ratzinger fremd. Mehr noch: Sie ist ihm zuwider. Denn für ihn ist sie ein Verrat an dem, was ihm heilig ist, am christlichen Glauben.
Auch ist ihm schleierhaft, warum Menschen so agieren. Joseph Ratzinger ist kein guter Menschenkenner. Er tut sich schwer, hinter die Fassade und Selbstinszenierung eines Menschen zu blicken, und er war auch als Papst noch nicht auf menschliche Abgründe in seiner vermeintlich vertrauten und vom Glauben geprägten Umgebung gefasst. Er konnte mit diesen Abgründen nicht umgehen, erst recht konnte er sich mit ihnen nicht abfinden. Entsprechend fiel auch seine Reaktion aus, wenn er mit Missbrauchsfällen konfrontiert wurde. Charles Scicluna, viele Jahre Chefankläger an der Glaubenskongregation, arbeitete lange Zeit eng mit Ratzinger an solchen Fällen. Er beschreibt, wie Ratzinger auf Missbrauchsfälle reagierte: „Ich habe Kardinal Ratzinger als einen Mann gekannt, der den Menschen vertraut und von ihnen das beste Verhalten erwartet, und er war schockiert, als er mit Fällen konfrontiert wurde, die zeigten, wie ungeheuerlich bestimmte von Geistlichen begangene Verbrechen waren. (…) Sein Schock angesichts der Realität war sehr tiefgreifend, und er verursachte Kardinal Ratzinger großes Leid.“ Das heißt, anders als andere Kirchenmänner konnte Ratzinger schon von seiner Gemütsveranlagung her solche Taten nicht entschuldigen oder relativieren, denn er glaubte ehrlich an die Heiligkeit der Kirche und ihrer Sendung.
Seine geniale Theologie
Ratzingers Charakter prägt seine Theologie. Das genial Anmutende an ihr ist gerade ihre Einfachheit. Er will keinen abgehobenen theologischen Elfenbeindiskurs führen, er will den Glauben in verständlichen Worten erklären und damit überzeugen, und zwar über rein akademische Debatten hinaus. Sein Wirken als junger, aufstrebender Theologe in der Mitte des 20. Jahrhunderts war ganz wesentlich darauf ausgerichtet, den Glauben vom Ballast der damals dominierenden hochkomplexen neuscholastischen Denksysteme zu befreien und ihn wieder in Kontakt zu bringen mit dem Glauben der einfachen Leute, ihn wieder verständlich zu machen in einer Zeit, in der er anscheinend immer weniger verstanden wurde. Diesem Ziel blieb er durch alle Stationen seiner Laufbahn treu, denn „Ratzinger zielte sicherlich nicht auf eine große Karriere. Er wollte eigentlich nur eines sein, und zwar Professor. Ein Lehrer der Theologie. Und das ist er auch durch alle Karrierestufen eigentlich geblieben. Bis hin zum Pontifikat. Es hat meines Wissens nie einen Papst gegeben, der als Papst (…) ein auf Wissenschaftlichkeit Anspruch erhebendes Werk veröffentlicht hat wie das Jesus-Buch. Und eben zwar als jemand, der Papst ist, aber nicht mit päpstlicher Autorität, sondern der das als Diskussionsbeitrag eines Wissenschaftlers geschrieben hat. Das ist sicher einmalig und sagt etwas aus über seine Persönlichkeit. Er ist im Grunde seines Herzens ein Lehrer der Theologie.“
Um verstehen zu können, worin die genial anmutende Einfachheit von Ratzingers theologischem Stil besteht, muss man sie vor dem Hintergrund der theologischen Standardsprache seiner frühen Zeit betrachten. Das heißt, man muss sich vor Augen führen, wie hölzern und schwer verdaulich, durchsprenkelt mit lateinischen Formeln und vor allem bar jeden Gegenwartsbezuges und jeglicher kritischen Selbstreflexion typische theologische Texte Mitte des 20. Jahrhunderts in aller Regel daherkamen. Als Beispiel kann der „Ott“ dienen, ein theologisches Standardwerk, das in über zehn Sprachen übersetzt wurde und im Deutschen insgesamt elf Auflagen erreichte. Auf rund 600 Seiten listet dieses Lehrbuch Satzwahrheiten auf, klassifiziert nach Gewissheitsgraden, angefangen mit „absolut gewiss“ (sententia de fide) bis „geduldete Lehrmeinung“ (opinia tolerata). Dort heißt es beispielsweise über die Existenz Gottes:
An der Spitze der kirchlichen Glaubenssymbole steht der fundamentale Glaubensartikel: Credo in unum Deum. Das Vatikanische Konzil lehrt: Sancta catholica apostolica Romana Ecclesia credit et confitetur, unum esse Deum. Die Leugnung der Existenz Gottes erklärt dasselbe Konzil als Häresie. Nach Hebr 11,6 ist der Glaube an die Existenz Gottes eine unerlässliche Heilsbedingung (…). Die übernatürliche Offenbarung der Existenz Gottes bestätigt die natürliche Gotteserkenntnis und bewirkt, dass das Dasein Gottes von allen leicht, mit fester Gewissheit und ohne Beimischung von Irrtum erkannt werden kann.
Studierende, die sich mit solchen Texten herumschlugen, lebten in Deutschland aber schon in den 1950ern, erst recht in den 60ern und 70ern, als Ratzingers akademische Karriere ihren Höhepunkt erreichte, in einer Welt, in der nicht nur der Duktus solcher Texte, sondern auch die Rede von „übernatürlicher Offenbarung“ oder „unerlässlichen Heilsbedingungen“ fragwürdiger wurde. Die Menge der Menschen, die nichts vom Dasein eines Gottes spürten, wuchs; und das war nur eine der vielen Fragen, die junge Theologiestudierende umtrieb. Außerdem stellten sich Fragen nach der jüngeren Vergangenheit. Nach und nach kamen mehr Details über die Verbrechen der Nazis ans Licht. Die Autorität der Elterngeneration, der Politik und Geistlichkeit wurde brüchig. Hinzu kamen neue Thesen der Sprachphilosophie, neue technische Möglichkeiten in der Raumfahrt, der Atomtechnik und den Humanwissenschaften, ganz zu schweigen von neuen Geschlechterrollen und Lebensmodellen. Alles das beschäftigte und prägte junge Studierende nachhaltig. Vor allem aber war die religiöse Sprache für viele von ihnen unzugänglich geworden. Ratzinger schien das zu spüren. Deshalb waren seine Vorlesungen zum Bersten voll. Denn wenn der junge Professor Ratzinger vom Glauben an das Dasein Gottes sprach, begann er nicht mit einem scheinbar unantastbaren Lehrsatz, zu dem er dann auswendig zu lernende Schriftbeweise und Kirchenvätertexte herunterbetete. Er tat nicht so, als wäre alles klar, er schreckte nicht davor zurück, die ungeheure Frage zu stellen:
Was ist das eigentlich, „Gott“? In anderen Zeiten mochte diese Frage problemlos klar scheinen, für uns ist sie wirklich neu zur Frage geworden. Was kann dieses Wort „Gott“ überhaupt sagen? Welche Wirklichkeit drückt es aus, und wie kommt den Menschen die Wirklichkeit zu, von der hier gesprochen wird?
Und seine Antwort liefert er nicht im Stile einer Satzwahrheit, sondern er nähert sich ihr mit einem existenzialistischen Impetus:
Wo der Mensch sein Alleinsein erfährt, erfährt er zugleich, wie sehr seine ganze Existenz ein Schrei nach dem Du ist und wie wenig er dazu gemacht ist, nur ein Ich in sich selbst zu sein. Dabei kann die Einsamkeit sich dem Menschen in verschiedenen Tiefen zeigen. Fürs Erste kann sie gestillt werden durch das Finden eines menschlichen Du. Aber dann gibt es den paradoxen Vorgang, dass nach einem Wort von Claudel jedes Du, das der Mensch findet, sich zuletzt als eine unerfüllte und unerfüllbare Verheißung erweist; dass jedes Du im Grunde doch auch wieder eine Enttäuschung ist und dass es einen Punkt gibt, wo keine Begegnung die letzte Einsamkeit übersteigen kann: Gerade auch das Finden und Gefundenhaben wird so wieder zum Rückverweis in die Einsamkeit, zu einem Ruf nach dem wirklich in die Tiefe des eigenen Ich hinabsteigenden, absoluten Du.
Es war ganz wesentlich diese eingängige theologische Sprache Ratzingers, die ihm eine große und begeisterte Zuhörerschaft einbrachte, sowohl in seiner Zeit als Professor als auch später als Bischof, Kardinalpräfekt und Papst. Joseph Ratzinger blieb diesem theologischen Stil und Vorhaben immer treu: Glaubenswahrheiten, die in einer modernen Zeit unverständlich geworden waren, in einer zugänglichen, bestechend einfachen und menschlichen Sprache so auszudrücken, dass die Menschen sie verstehen können. Dabei setzte er sich zunehmend auch von den akademischen Diskursen seiner Theologengeneration ab, die mit den Entwicklungen anderer Disziplinen Schritt zu halten versuchte, deren Fragestellungen aufgriff und deren Methoden für die theologische Forschung nutzbar machte. Die so entstehenden neuen theologischen Ansätze und Theorien erscheinen Ratzinger zu verkopft und abgehoben. Mit einem Seitenhieb auf die damalige Forschung zum „historischen Jesus“ bemerkt er schon in seiner Einführung ins Christentum: „Für meinen Teil gestehe ich freilich, dass ich (…) lieber und leichter zu glauben imstande bin, dass Gott Mensch wird, als dass ein solches Hypothesen-Konglomerat zutrifft.“
Nachdem er 1982 Präfekt der Glaubenskongregation (Congregatio pro doctrina fidei, CDF) geworden war, blieb er diesem Anliegen treu. Obwohl er sich in dieser Zeit durch eine Reihe von Instruktionen und Lehrverurteilungen den Ruf des „Panzerkardinals“ zuziehen sollte, sah er selbst seine Aufgabe völlig anders. Ganz im Einklang mit seiner Haltung als Theologe ging es ihm als Präfekt darum, den katholischen Glauben gegen seine Kritiker zu verteidigen, und zwar als Dienst am Glauben der einfachen Menschen. Das geht unter anderem aus einem Brief hervor, den er als scheidender Erzbischof an seinen Klerus schrieb. Dort heißt es über seine neue Aufgabe in Rom:
Das Amt, das mir übertragen wurde, hat ja in Deutschland keinen guten Ruf. Das Stichwort „Inquisition“ ist nahe bei der Hand; man spricht vom Ketzerjäger. Und einige haben mir das Wort vom „Wachhund“ untergeschoben. Wenn ich meinen Auftrag recht verstehe, geht es einfach darum, dem Petrusamt zu dienen, das im Neuen Testament mit verschiedenen Stichworten, wie Binden und Lösen, Schlüsselgewalt, Weiden, umschrieben wird. Der Aspekt, in dem ich mit meinem Teil Hilfe leisten soll, scheint mir am ehesten anzuklingen in dem lukanischen Herrenwort „Stärke deine Brüder“ (Lk 22,32). Dem Petrusnachfolger ist damit aufgetragen, das Wort des Glaubens immer neu in diese Welt hineinzusprechen und den Maßstab des Evangeliums aufzurichten.
Das Wort des Glaubens verkünden: Das war seine Aufgabe, und das war sein Ziel, nicht nur wenn er predigte oder wenn er Stellungnahmen herausgab, sondern auch wenn er einzelne Lehrmeinungen von Theologinnen und Theologen verurteilte. Es ging ihm nicht ums Verurteilen. Es ging ihm letztlich darum, den Glauben der Menschen zu schützen und zu stärken. Er hatte die Verantwortung dafür, dass sie nicht durch einen unkontrollierten Wildwuchs aller möglichen theologischen Trends verunsichert wurden. Der Glaube war Eigentum der Getauften, der einfachen gläubigen Menschen, nicht der Gelehrten. Er war Lebensgrundlage, nicht Spekulationsobjekt. Er durfte nicht zum Gegenstand eines intellektuellen Gedankenspiels oder akademischer Selbstbeschäftigung degradiert werden. So sagte Ratzinger es schon in einer Predigt, in der er sich an Silvester 1979 hinter die Lehrverurteilung Hans Küngs stellte: „Nicht die Gelehrten bestimmen, was an dem Taufglauben wahr ist, sondern der Taufglaube bestimmt, was an den gelehrten Auslegungen gültig ist.“ Theologen, die sich von diesem Taufglauben entfernen, betrieben wie Küng „Theologie sozusagen im Alleingang, allein mit sich und der modernen Vernunft“. Es ist keine Frage, dass viele Theologinnen und Theologen Ratzingers Verurteilungen für verfehlt hielten. Dabei wird gelegentlich übersehen, dass andere, weniger medial sichtbare und eloquente Menschen Ratzinger dankbar waren. Sie fühlten sich von ihm verstanden und beschützt.
Worum geht es in Ihrem Buch?
Es geht um Joseph Ratzinger und um seine Rolle in der Missbrauchskrise. Als Präfekt der vatikanischen Behörde, die bis heute für Missbrauchsfälle zuständig ist, ließ er Fälle jahrelang liegen. Auch als er Papst war, kümmerte er sich nicht ernsthaft. Anders als viele behaupten, hat er in dieser Krise nicht frühzeitig und mutig gehandelt, sondern spät, zögerlich und nicht im Sinne der Opfer, sondern mit dem Ziel den Glauben, das Priestertum und die Kirche zu retten.
Wer sollte Ihr Buch lesen?
Alle, die verstehen wollen, was mit der katholischen Kirche los ist und warum sie es einfach nicht schafft, diese Krise zu überwinden. Manche sagen, Joseph Ratzinger / Benedikt XVI. hätte alles getan, was er konnte, um Missbrauch zu bekämpfen.
Sie kommen zu einer anderen Einschätzung. Warum?
Ein nüchterner Blick in Originalakten aus seiner Zeit als Präfekt und Papst lässt keinen anderen Schluss zu: Dieser Mann hatte andere Prioritäten. Er hat mehr unter dem „Verfall des Glaubens“ gelitten als mit den Opfern seiner Kirche. Er hat Missbrauchsfälle liegen lassen und hatte oft mehr Mitleid mit Tätern im Priesteramt als mit deren Opfern. Letztlich muss man sagen: Er hat die Problematik über Jahrzehnte nicht wirklich verstanden und damit vieles schlimmer gemacht.
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