Öfter mal die Welt wechseln Öfter mal die Welt wechseln - eBook-Ausgabe
Wie ich in die Ferne zog und immer wieder ein neues Leben fand
»Sein Leben liest sich wie ein Roman von Graham Greene.« - Welt am Sonntag
Öfter mal die Welt wechseln — Inhalt
Verfolge deinen Weg, egal was die anderen sagen!
Viele träumen davon, ganz neu anzufangen, in exotischer Natur zu leben oder in einer aufregenden Metropole zu arbeiten. Adrian Geiges ermutigt dazu. Sein Leben gleicht einer Abenteuerreise: Er zog in die Sowjetunion, erlebte mit, wie sie zusammenbrach und das neue Russland entstand. Bürger von New York war er ebenso wie Bürger von Hongkong. Er wirkte als Topmanager in Shanghai und wohnte in einer Favela von Rio de Janeiro. In diesem Buch zeigt er, wie Leben im Ausland bereichert. Er gibt all jenen Inspiration und Rat, die selbst in die Welt aufbrechen wollen. Das Buch richtet sich an Kreuzfahrer ebenso wie an Backpackerinnen, an Berufstätige im globalen Einsatz und an Studierende im Ausland – und an alle, die von der Ferne träumen.
Leseprobe zu „Öfter mal die Welt wechseln“
Der Sinn des Lebens
Sammeln von spannenden Erfahrungen
Wir Menschen sind Abenteurer. Wir wollen Neues sehen, hören, riechen und spüren. Das lässt sich schon bei Babys und Kleinkindern beobachten. Sie klettern auf jede Erhöhung, nehmen alles in die Hand und stecken es in den Mund. Die Erwachsenen aber versuchen sie zu bremsen, und im späteren Leben wird uns erklärt: „Es ist besser, brav in die Schule zu gehen, als irgendwohin auszubüxen.“ „Wer zu oft den Arbeitsplatz wechselt, schadet seiner Karriere.“ „Überall lauern Gefahren!“ Und so vergessen viele die [...]
Der Sinn des Lebens
Sammeln von spannenden Erfahrungen
Wir Menschen sind Abenteurer. Wir wollen Neues sehen, hören, riechen und spüren. Das lässt sich schon bei Babys und Kleinkindern beobachten. Sie klettern auf jede Erhöhung, nehmen alles in die Hand und stecken es in den Mund. Die Erwachsenen aber versuchen sie zu bremsen, und im späteren Leben wird uns erklärt: „Es ist besser, brav in die Schule zu gehen, als irgendwohin auszubüxen.“ „Wer zu oft den Arbeitsplatz wechselt, schadet seiner Karriere.“ „Überall lauern Gefahren!“ Und so vergessen viele die Träume ihrer Jugend und machen jahrzehntelang das Gleiche. Dieselbe Arbeit, die sie nicht befriedigt. Sie wohnen am selben Ort und treffen immer dieselben Leute.
Nun denke ich grundsätzlich: Jeder soll nach seiner Fasson glücklich werden. Wer die Stabilität liebt, darf gerne so leben. Aber den meisten reicht das nicht. Sie versuchen abends und am Wochenende aus ihrem Alltag auszubrechen, indem sie exzentrischen Hobbys nachgehen oder wilde Klubs besuchen. Und sie freuen sich das ganze Jahr auf ein paar Wochen Urlaub – und das halbe Leben auf die Rente, in der sie nachzuholen versuchen, was sie bis dahin versäumt haben.
Meine Erfahrung ist: Es besteht kein Grund, so lange zu warten. Ich habe mich entschieden, mein ganzes Leben zum Abenteuer zu machen. Diese Erfahrung möchte ich in diesem Buch mit dir teilen. Zugegeben, ich bin da vielleicht etwas extrem. Als mich meine Mutter in den Sandkasten schickte, entgegnete ich: Da war ich schon mal. Später habe ich immer nach vier, fünf Jahren den Arbeitsplatz gewechselt, bin in ein anderes Land gegangen oder beides zusammen. So weit muss man es nicht treiben. Ein bisschen davon würde aber, denke ich, den meisten guttun. Gäbe es ein solches Bedürfnis nicht, würden die Deutschen nicht 70 Millionen Urlaubsreisen im Jahr buchen, wenn nicht gerade Corona ist. Und das gilt keineswegs nur für uns Deutsche, die selbst ernannten Urlaubsweltmeister. Bei den Chinesen beispielsweise stieg die Zahl der Auslandsreisen von 20 Millionen im Jahr 2003 auf 134 Millionen im Jahr 2019. Da sind die vielen Reisen innerhalb Chinas noch gar nicht mitgerechnet, dabei ist das ein großes Land mit unterschiedlichen Kulturen und Klimazonen.
Ich bin Journalist, da lernt man schon von Berufs wegen jeden Tag neue Menschen und Orte kennen. Reisen werden im Normalfall von den Arbeit- oder Auftraggebern bezahlt. Und in den meisten Ländern sind Korrespondentenvisa leichter zu bekommen als andere Arbeitsvisa, da Korrespondenten für Medien in ihrem jeweiligen Heimatland berichten und daher den Einheimischen nicht die Arbeitsplätze wegnehmen. All das sind Gründe, die mich dazu bewegt haben, diesen Beruf zu wählen.
Aber auch Angehörige anderer Branchen können die Welt wechseln. In allen Ländern, in denen ich lebte, lernte ich Unternehmensberaterinnen und Handwerker kennen, Restaurantbesitzer und Fotografinnen, die sich entschlossen haben, in der Fremde zu arbeiten, weil sie es interessant finden, der lockeren Mentalität oder des sonnigen Wetters wegen. Auch in scheinbar geregelten Berufen ist das möglich. Meine Tochter besuchte die deutsche Schule in Peking. Lehrer können für einige Jahre in einer der deutschen Auslandsschulen unterrichten, ohne ihren Beamtenstatus in Deutschland zu verlieren. Eine prima Chance, aus dem Alltagstrott auszusteigen, in diesem Fall sogar völlig risikofrei. Umso erstaunlicher: Es fällt schwer, die Stellen zu besetzen, weil sich nicht genügend Bewerber melden.
Oft fühlen wir uns von Zwängen eingeengt und fragen uns: Passt das in meine Karriereplanung? Doch wozu soll die Karriere dienen? Worin besteht der Sinn des Lebens? Für mich im Sammeln von spannenden Erfahrungen. Nun mag man entgegnen: Leichter gesagt als getan, schließlich müssen wir unsere Kinder versorgen und die Miete bezahlen. Das ist richtig, aber mein Lebenslauf zeigt: Wenn man das verwirklicht, was einen erfüllt, wenn man etwa Sprachen lernt und in fremde Länder zieht, ist das auch für die Karriere hilfreich.
Meist sind es eingefahrene Gewohnheiten und Angst vor dem Unbekannten, die uns davon abhalten. Dabei ist ein Ausstieg aus dem Alltag, etwa eine Weltreise, einfacher, als man denkt. Davon zeugt auch das Beispiel meiner Kollegin Meike Winnemuth. Ich lernte sie kennen, als sie zur Chefredaktion von Park Avenue gehörte, einer damaligen Zeitschrift von Gruner + Jahr. Ich war China-Korrespondent des Stern, der ebenfalls in diesem Verlagshaus erscheint. So beauftragte sie mich mit einer Reportage zum Thema „Young Hot China“ über junge, aufregende chinesische Talente, von der Schriftstellerin bis zum Rockmusiker. Später gewann Winnemuth bei Günther Jauch eine halbe Million. Sie wollte sie nutzen, um ein Jahr lang in zwölf verschiedenen Städten zu leben, in denen sie jeweils für einen Monat eine Wohnung mietete: Sydney, Buenos Aires, Mumbai, Shanghai, Honolulu, San Francisco, London, Kopenhagen, Barcelona, Tel Aviv, Addis Abeba und Havanna. Am Ende merkte sie: Sie hatte den Gewinn von Wer wird Millionär? gar nicht gebraucht! Die Honorare für Artikel, die sie über diese Städte schrieb, reichten aus, um ihre einjährige Weltreise zu finanzieren.
Nun magst du einwenden: Meike Winnemuth hatte damals schon eine gewisse Bekanntheit und gute Kontakte, es ist nicht für jeden so einfach. Doch auch sie hat einmal irgendwo begonnen. Das gilt natürlich auch für mich, und deshalb werde ich meine Geschichte von Anfang an erzählen. Es stimmt, bei Reisen um die Welt und der Arbeit in anderen Ländern sind Hindernisse zu überwinden. Aber die Mühen werden dir mit Glück vergolten. Wie der amerikanische Präsident Franklin D. Roosevelt sagte: „Das Einzige, was wir zu fürchten haben, ist die Furcht selbst.“
Der Wunsch, aus dem Alltagstrott auszubrechen und in die Ferne zu ziehen, wird bei mir schon in der Kindheit geweckt, durch die Bücher Jim Knopf und Lukas der Lokomotivführer und Jim Knopf und die Wilde 13 des Schriftstellers Michael Ende. Weil es auf der kleinen Insel Lummerland zu eng geworden ist, fahren der schwarze Junge Jim Knopf und der weiße Lokomotivführer Lukas mit seiner Dampflok Emma in die Welt hinaus und erleben dabei die verrücktesten Abenteuer. Sie schaffen es bis nach China, wo bunte Bäume wachsen, Brücken aus Porzellan das Wasser überspannen und Glöckchen aus Silber läuten. Im Muff der damaligen Bundesrepublik beschuldigten Rezensenten Michael Ende, „Opium für Kinder“ zu schreiben. Statt sie auf den Ernst des Lebens vorzubereiten, würden sie hier zur Fantasterei verführt (genau, ich bin ein Beispiel dafür!). Das konnte aber den Erfolg der Bücher nicht aufhalten und verhinderte auch nicht die Verfilmung durch die Augsburger Puppenkiste.
Als ich etwas älter bin, lese ich das Werk Reise um die Erde in 80 Tagen des französischen Schriftstellers Jules Verne, inspiriert übrigens durch eine wahre Geschichte, nämlich die des US-Amerikaners George Francis Train. Der fuhr tatsächlich, vor der Erfindung des Flugzeugs, mit Schiffen und Zügen in genau 80 Tagen um die Welt. Wer war dieser Mann? Das lässt sich nicht in einem Satz zusammenfassen, denn er hat in seinem Leben dies und das getan. Er arbeitete als Kaufmann in Chicago und ging dann nach Australien. Er startete in London eine Straßenbahn, die von Pferden gezogen wurde – dem Unternehmen war allerdings kein Erfolg vergönnt. Er nahm am Amerikanischen Bürgerkrieg teil, klugerweise nicht mit der Waffe in der Hand, sondern indem er in England und Irland Vorträge hielt, in denen er die Position der Nordstaaten erläuterte. In den USA gründete er dann eine Eisenbahngesellschaft, diesmal mit Erfolg. Das Geld, das er damit gewann, investierte er als Reeder in die Schifffahrt. Gleichzeitig war er Schriftsteller und schrieb elf Bücher. Er kandidierte als US-Präsident, erfolglos, wobei er gleichzeitig behauptete, australische Revolutionäre hätten ihm die Präsidentschaft einer noch zu gründenden australischen Republik angetragen. Auch hat er sich einen Namen als Frauenrechtler gemacht und wurde, weil er die aufkommende Frauenbewegung unterstützte, sogar inhaftiert. Er finanzierte die Zeitschrift Die Revolution, ein wichtiges Blatt der damaligen Frauenbewegung. Kurzum – dieser Mann ist ein echtes Vorbild!
Auch bei mir mischt sich der Drang, die Welt kennenzulernen, in meinem weiteren Leben zunehmend mit dem Wunsch, die Welt zu verändern. Zu meiner neuen Lektüre gehören die Reportagen von Egon Erwin Kisch. Die Titel seiner Bücher sprechen für sich: Der rasende Reporter; Zaren, Popen, Bolschewiken; Die Reise um Europa in 365 Tagen; Asien gründlich verändert; China geheim; Wagnisse in aller Welt und viele mehr. Kisch war nicht nur Reporter, sondern auch Revolutionär. Das beeinflusst mich. Der Schriftsteller Friedrich Torberg schreibt, Kisch habe ihm gesagt: „Weißt du, mir kann eigentlich nichts passieren. Ich bin ein Deutscher. Ich bin ein Tscheche. Ich bin ein Jud. Ich bin aus gutem Hause. Ich bin Kommunist. Ich bin Corpsbursch. Etwas davon hilft mir immer.“
„Geh doch rüber in die DDR“
Ein ungewöhnliches Auslandsstudium
Wer direkt nach dem Abitur sein Studium aufnimmt, hat mit dem Leben schon abgeschlossen. Ich meine hier ein Studium in Deutschland, schlimmstenfalls in der eigenen oder der nächsten Stadt. Es gibt viele Möglichkeiten, zunächst einmal etwas von der Welt zu sehen – Freiwilligenarbeit im Ausland, Work and Travel, Sprachaufenthalt, ein Job als Au-pair … Du kannst auch dein ganzes Studium im Ausland absolvieren, zumindest aber eines oder mehrere Auslandssemester einplanen.
Als ich vor dem Abi stehe, bieten sich dafür viel weniger Chancen als heute. Und man findet nichts darüber im Internet, denn das existiert noch nicht. So plagt mich das Gefühl, dass ich gern vor der Uni etwas anderes machen möchte, aber leider weiß ich nicht, was. Da erreicht mich ein ungewöhnliches Angebot, das mir gerade recht kommt.
Wie schon im vorherigen Kapitel angedeutet, trifft auf mich die Lebensweisheit zu: „Wer mit 20 kein Kommunist ist, hat kein Herz. Wer mit 30 noch Kommunist ist, hat keinen Verstand.“ Zu diesem Zeitpunkt bin ich erst 18 und ein überaus aktiver Kommunist, Mitglied der DKP und ihrer Jugendorganisation Sozialistische Deutsche Arbeiterjugend, und das ausgerechnet am Rande des Südschwarzwalds, damals auch im politischen Sinn eine der schwärzesten Gegenden Westdeutschlands. Aus dieser Region um Freiburg im Breisgau stammt auch Hans Filbinger. Im Dritten Reich war er NSDAP-Mitglied, noch in den letzten Tagen des Zweiten Weltkriegs verurteilte er als Richter junge Soldaten zum Tode, weil sie sich weigerten, weiter für Hitler zu morden. Trotzdem steigt er damals zum Ministerpräsidenten von Baden-Württemberg auf. Das empört mich und viele aus meiner Generation und ist für mich einer der Gründe, aus Protest weit nach links zu gehen.
Und so spricht mich eines Tages die Kreisvorsitzende unserer Jugendorganisation an: „Kannst du dir vorstellen, für ein Jahr zur weiteren Qualifizierung ins sozialistische Ausland zu gehen?“ Ich muss keine Sekunde nachdenken, bin sofort begeistert: ein Jahr ins Ausland, dazu noch in ein sozialistisches! Das hat damals viel Exotik, denn es ist sehr schwer, auf der anderen Seite des Eisernen Vorhangs zu studieren. Trotzdem frage ich natürlich nach: „In welches Land? Und an was für eine Hochschule?“ „Das darf ich dir noch nicht sagen, die genauen Umstände sind streng geheim. Aber du wirst rechtzeitig Direktiven bekommen.“
Das klingt aus heutiger Sicht schräg. Aber wir sprechen von der Zeit des Kalten Kriegs, und da leuchtet es mir ein. Gegen Lehrerinnen, Lokomotivführer und sogar Briefträger werden damals Berufsverbote verhängt, nur weil sie Mitglied in einer linken Organisation sind. Ein längerer Aufenthalt in einem sozialistischen Land brächte also auf jeden Fall schwere Nachteile, wenn er bekannt würde. Was sich aber unabhängig von diesen speziellen Umständen auf heute übertragen lässt: Ein Auslandsstudium verspricht Spannung, und du solltest diese Chance ergreifen, auch wenn die Einzelheiten vorher unklar oder sogar dubios sind.
Einige Wochen später erfahre ich bei einem Vorbereitungstreffen mit meinen zukünftigen fünf Mitstudenten aus der Bundesrepublik, dass es in die DDR geht. In die DDR! Man muss sich das einmal vorstellen in der damaligen Zeit. Egal ob wir Jugendliche lange Haare trugen, als Hippies der freien Liebe frönten oder das konservative Schulsystem kritisierten – bei jeder Abweichung hielten die Alten uns Jungen damals entgegen: „Geht doch rüber in die DDR, wenn es euch hier nicht passt.“ Und ich sollte es tatsächlich tun!
Es läuft alles sehr konspirativ, wie heute vielleicht beim Besuch einer lateinamerikanischen Drogengang oder einer Reise durchs Afghanistan der Taliban. Als Westdeutscher braucht man für die DDR ein Visum, doch wir haben keins, aus Sicherheitsgründen, damit niemand weiß, wo wir hinfahren. Ohne irgendwelche Unterlagen gehe ich am Berliner Grenzübergang Bahnhof Friedrichstraße zur Passkontrolle. Die DDR-Grenzsoldaten sind als unfreundlich und aggressiv bekannt. Doch ich sage die Zauberformel, die uns vorher eingetrichtert wurde: „Ich bin avisiert.“ Der Grenzer schaut auf den Namen im Pass und vertauscht schlagartig das übliche grimmige Gesicht mit einem freundlichen, fast thailändischen Lächeln. Schließlich sind es pro Tag nicht so viele Leute, die „avisiert“ werden. In einer Kladde hat er ein Einlegevisum bereitliegen – ich bekomme ein separates Blatt statt eines Stempels in den Pass, damit die feindlichen Grenzschützer der BRD nach meiner Rückreise später nicht erkennen können: Ich habe ein Jahr in der DDR gelebt.
Den Anweisungen folgend, gehe ich aus dem Bahnhof die Friedrichstraße rechts entlang und biege Unter den Linden rechts ab. Dort werden wir erwartet im Gebäude des Zentralrats der Freien Deutschen Jugend (FDJ), wo heute das ZDF-Hauptstadtstudio untergebracht ist. Bald trudeln auch die anderen fünf Studenten ein, die ich von dem Vorbereitungstreffen kenne. Es begrüßt uns Hans Pischke, der sich als Betreuer unserer westdeutschen Seminargruppe vorstellt. Er werde uns im Fach „Dialektischer und historischer Materialismus“ unterrichten, also in marxistischer Philosophie. Andere Dozenten würden uns anderes revolutionäres Wissen beibringen. „Und vor allem sollt ihr hier den realen Sozialismus kennenlernen“, sagt Hans. „Bisher, bei Delegationen, habt ihr die Schokoladenseite der DDR gesehen. Jetzt werdet ihr erfahren, wie es hier wirklich ist.“ Hinter dem Wort „Delegationen“ verbergen sich die organisierten Kurzreisen in den Osten, die wir bisher erlebt haben. Jetzt hält man uns für reif genug, auch die „Übergangsprobleme der sozialistischen Entwicklung“ zu verstehen, wie man das hier nennt.
In einem olivgrünen Kleinbus, Zweitakter Marke Barkas B 1000, verlassen wir Berlin und knattern Richtung Norden – mit unbekanntem Ziel. Dozent Hans sagt: „Wir fahren zu einem der geheimsten Orte der DDR“ – was viel verspricht, da die DDR insgesamt schon als geheimnisvolles Land gilt. Auf dem Weg erzählt Hans von dem „Objekt“, wie er sich ausdrückt, in dem wir das nächste Jahr unseres Lebens verbringen werden: „Es war einst das Liebesnest von Hitlers Propagandaminister Goebbels. 1936 schenkte Berlin dem Joseph Goebbels zum 39. Geburtstag ein idyllisches Stück Land mit See, Bäumen und Wiesen und baute ihm ein Landhaus. Der Kriegsverbrecher vergnügte sich dort mit Schauspielerinnen und anderen Gespielinnen. 1945 besetzten sowjetische und polnische Soldaten das Gebäude, gegen erheblichen Widerstand von Schergen der Waffen-SS, die sich da verschanzt hatten. In einem Lazarett pflegten die Freunde dort verwundete Soldaten.“ Als „Freunde“ bezeichnet man in der DDR Sowjetbürger, vor allem sowjetische Soldaten. „1946 übergaben die Freunde das Objekt der Freien Deutschen Jugend, seither bilden wir dort Verbandsfunktionäre aus. 1950 verlieh Wilhelm Pieck der Schule seinen Namen. Deshalb heißt sie Jugendhochschule Wilhelm Pieck.“ Das klingt kultig in meinen Ohren. Wilhelm Pieck, das erste Staatsoberhaupt der DDR, starb 1960. Er hatte schon zu Lebzeiten einer Schule seinen Namen „verliehen“? Immerhin erfahren wir auf diese Weise, wie der Ort heißt, an dem wir ab heute studieren werden.
Nach einer Stunde Fahrt Richtung Norden biegen wir am Wandlitzer See rechts ab in einen Waldweg. Ein Schild in Deutsch, Englisch und Französisch erklärt das Gebiet zur militärischen Sperrzone, Zugang verboten für Patrouillen der alliierten Streitkräfte (die ansonsten die DDR inspizieren durften). Der Mischwald verdichtet sich. Einige Minuten später fällt uns auf: Ein Maschendrahtzaun versperrt mitten im Wald den Zugang zu einem Gelände. Der Barkas stoppt. Hinter Kiefern und Birken versteckt sich ein Wachhäuschen. Ein Volkspolizist tritt heraus. Wie ein Grenzsoldat lugt er in den Kleinbus, erkennt den Dozenten Hans und winkt uns durch. Wir fahren auf das Gelände der Jugendhochschule Wilhelm Pieck, der höchsten Bildungsstätte der Freien Deutschen Jugend! Hier, so wissen wir jetzt, studieren der politische Nachwuchs der DDR, junge Revolutionäre aus aller Welt – und wir sechs linke Jugendliche aus der Bundesrepublik.
Herr Geiges, in drei Sätzen gesagt: Worum geht es in Ihrem Buch?
Es ermuntert und ermutigt: Geht raus in die Welt und erlebt Abenteuer! Dass man diesen Traum verwirklichen kann, zeige ich anhand meiner eigenen Erfahrungen.
Sie waren schon in vielen Ländern der Welt, oft haben Sie dort auch für längere Zeit gelebt. Was begeistert Sie daran?
Mich begeistert das Andere: andere Sitten, andere Kultur, andere Natur, andere Sprache, anderes Essen. Das Leben ist wie ein Film. Keiner will nur Wiederholungen sehen.
Wenn man von einer langen Reise zurückkommt: Verändert das auch den Blick auf die Situation zu Hause?
Auf jeden Fall! Im doppelten Sinn: Man sieht besser, was bei uns schiefläuft oder was eigenartige Macken von uns Deutschen sind. Gleichzeitig wird einem bewusst, wie gut es uns geht in vielerlei Hinsicht.
Viele möchten auch so durch die Welt kommen wie Sie! Aber ist das überhaupt realistisch für Menschen, die nicht wie Sie Journalisten sind? Bietet Home Office von unterwegs da neue Möglichkeiten?
Es ist in fast allen Berufen möglich: von Lehrerin an deutschen Auslandsschulen bis zu Masseur auf Kreuzfahrtschiffen, von der Gründung eines Restaurants bis zur Arbeit an Bauprojekten. Und genau, dank der Möglichkeit des Home Office spielt es heute in vielen Berufen keine Rolle mehr, wo man sich aufhält, selbst wenn man für deutsche Unternehmen tätig ist. Warum sollten eine IT-Spezialistin oder ein Grafiker in Bielefeld arbeiten, wenn es auch von Bali aus geht?
Geben Sie in Ihrem Buch auch praktische Tipps, wie man in spannenden Ländern reisen und leben kann?
In erster Linie geht es um die Einstellung dazu. Ich gebe aber auch ganz praktische Tipps, von Geldangelegenheiten im Ausland bis zu Versicherungen. Mein Buch richtet sich an alle, die Abwechslung suchen, indem sie verschiedene Länder kennenlernen, die aber nicht gleich zu Hause alle Zelte abbrechen und komplett auswandern wollen. In den meisten Fällen kehren sie irgendwann nach Deutschland zurück und müssen deshalb hier sozial abgesichert bleiben. Ich zeige, wie das geht.
»Sein Leben liest sich wie ein Roman von Graham Greene.«
„Was bleibt, sind Geiges’ oft spannende Erzählungen aus fernen Welten und fremdem Alltag. Und was nützlich ist, sind seine vielen Tipps für Menschen, die ihr Leben zum Abenteuer machen wollen.“
„Der Schreibstil ist flüssig und hat mich förmlich in die einzelnen Episoden gesaugt.“
Gut geschrieben, und sehr interessant. Man erfährt viel über die Welt und das Leben
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