Oryx und Crake — Inhalt
Crake und Jimmy sind Freunde, und sie lieben dieselbe Frau: die rätselhafte Oryx. Sie leben in einer von Klimakatastrophen bedrohten Welt in einer gar nicht so fernen Zukunft. Crake, ein Genie genetischer Manipulation, ist Wissenschaftler und arbeitet an der Entwicklung neuer Medikamente, die die Menschen gegen Epidemien immunisieren sollen, aber er verfolgt darüber hinaus seine ganz eigenen Pläne ...
Margaret Atwood entwirft in „Oryx und Crake“ eine dystopische Welt, eine Welt der Umweltkatastrophen und des Klimawandels, der Sturmfluten und Epidemien, in der sich die wenigen Reichen in streng gesicherten Wohnkomplexen von den verarmten Massen abschotten.
„Ein atemberaubender Science-Fiction-Thriller und ein beißender Kommentar auf den Zustand unserer Welt.“ NDR
Leseprobe zu „Oryx und Crake“
Schneemensch erwacht vor Tagesanbruch. Reglos liegt er da und lauscht der kommenden Flut, die Welle um Welle über die verschiedenen Barrikaden hinwegschwappt, hin – her, hin – her, der Rhythmus des Herzschlags. Er würde so gerne glauben, dass er noch schläft.
Am östlichen Horizont liegt ein grauer Dunstschleier, der jetzt in einem blassroten, tödlichen Licht erglüht. Seltsam, wie zart diese Farbe noch wirkt. Davor stehen als schwarze Silhouetten die Türme im Meer und ragen absurd aus dem Rosa und Blassblau der Lagune auf. Die Schreie der Vögel, die dort [...]
Schneemensch erwacht vor Tagesanbruch. Reglos liegt er da und lauscht der kommenden Flut, die Welle um Welle über die verschiedenen Barrikaden hinwegschwappt, hin – her, hin – her, der Rhythmus des Herzschlags. Er würde so gerne glauben, dass er noch schläft.
Am östlichen Horizont liegt ein grauer Dunstschleier, der jetzt in einem blassroten, tödlichen Licht erglüht. Seltsam, wie zart diese Farbe noch wirkt. Davor stehen als schwarze Silhouetten die Türme im Meer und ragen absurd aus dem Rosa und Blassblau der Lagune auf. Die Schreie der Vögel, die dort draußen nisten, und der ferne Ozean, der die Ersatzriffe aus rostigen Autoteilen, aufgeschütteten Ziegelsteinen und Gerümpel aller Art abschmirgelt, klingen beinahe wie Urlaubsverkehr.
Aus Gewohnheit schaut er auf die Uhr – Stahlgehäuse, poliertes Aluminiumarmband, immer noch glänzend, obwohl sie nicht mehr geht. Er trägt sie jetzt als seinen einzigen Talisman. Sie zeigt ihm ein leeres Zifferblatt: null Uhr. Es lässt ihm ein jähes Entsetzen durch die Glieder fahren, dass es keine offizielle Zeit mehr gibt. Niemand weiß, wie spät es ist.
„Nur die Ruhe“, sagt er sich. Er holt ein paar Mal tief Luft, dann kratzt er seine Insektenstiche, rundherum, aber nicht in der am stärksten juckenden Mitte, und achtet darauf, keinen Schorf abzulösen: Eine Blutvergiftung wäre das Letzte, was er jetzt brauchen kann. Dann sucht er den Boden unter sich nach Leben ab: Alles ruhig, keine Schuppen und Schwänze. Er klettert von seinem Baum herunter, linke Hand, rechter Fuß, rechte Hand, linker Fuß. Er bürstet Zweige und Rindenstückchen ab und wickelt sich in sein schmutziges Laken wie in eine Toga. Seine authentisch nachgebildete Red-Sox-Baseballmütze hat er über Nacht an einen Ast gehängt, um sie sicher aufzubewahren; er wirft einen prüfenden Blick hinein, schnippt eine Spinne fort, setzt sie auf.
Er geht ein paar Meter nach links, pinkelt ins Gebüsch. „Kopf hoch“, sagt er zu den Heuschrecken, die beim Aufprall des Strahls davonhüpfen. Dann geht er auf die andere Seite des Baums hinüber, weit weg von seinem gewohnten Pissoir, und stöbert in seinem Versteck, das er behelfsmäßig aus ein paar Betonplatten errichtet und zum Schutz gegen Ratten und Mäuse mit Stacheldraht umwickelt hat. Hier bewahrt er ein paar Mangos auf – in einer zugeknoteten Plastiktüte –, eine Dose Vegetarische Sveltana-Würstchen und eine kostbare halbe Flasche Scotch – nein, eigentlich nur noch ein Drittel –, außerdem einen Kraftriegel mit Schokogeschmack, erbeutet auf einem Wohnwagenstellplatz, weich und halb in sein Stanniolpapier eingeschmolzen. Er kann sich noch nicht entschließen, ihn zu essen: Es könnte der letzte sein, den er je finden wird. Er verwahrt hier auch einen Dosenöffner und, ohne besonderen Grund, einen Eispickel; ferner sechs leere Bierflaschen, aus sentimentalen Gründen und um frisches Wasser zu lagern. Auch seine Sonnenbrille liegt hier; er setzt sie auf. Sie hat nur noch ein Glas, aber das ist besser als gar nichts.
Er knotet die Plastiktüte auf: Nur noch eine Mango ist übrig. Komisch, er hätte gedacht, es wären noch mehr. Die Ameisen sind eingedrungen, obwohl er die Tüte so fest verknotet hat, wie es ging. Sie laufen bereits seine Arme herauf, die von der schwarzen Sorte und die bösartigen kleinen Gelben. Erstaunlich, wie stark es brennt, wenn sie angreifen, vor allem die Gelben. Er wischt sie fort.
„Nur die strikte Einhaltung der täglichen Routine führt zur Wahrung der Moral und zum Erhalt der Gesundheit“, sagt er laut. Er hat das Gefühl, dass er aus einem Buch zitiert, aus irgendeiner veralteten, schwerfälligen Verhaltensregel zum Nutzen europäischer Siedler, die Plantagen der einen oder anderen Art betrieben. Er kann sich nicht entsinnen, je so etwas gelesen zu haben, aber das hat nichts zu bedeuten. In seinem Resthirn sind viele leere Flecken, wo einst das Gedächtnis war. Kautschukplantagen, Kaffeeplantagen, Juteplantagen. (Was ist Jute?) Gewiss legte man ihnen nahe, Tropenhelme zu tragen, sich zum Dinner umzuziehen, auf Vergewaltigung der Eingeborenen zu verzichten. Nein, Vergewaltigung hätten sie nicht gesagt. Verzichten Sie darauf, mit den weiblichen Eingeborenen zu fraternisieren. Oder anders ausgedrückt …
Er könnte wetten, dass sie nicht darauf verzichteten. In neun von zehn Fällen.
„Im Hinblick auf die mildernden“, sagt er und ertappt sich dabei, wie er mit offenem Mund dasteht und sich an den Rest der Wendung zu erinnern versucht. Er setzt sich auf den Boden und beginnt die Mango zu essen.
Am weißen Strand, zermahlene Korallen und Knochensplitter, geht eine Gruppe Kinder entlang. Sie müssen im Wasser gewesen sein, denn ihre Haut ist noch nass und glänzend. Sie sollten vorsichtiger sein: Wer weiß, womit diese Lagune verseucht ist. Aber sie sind leichtsinnig; anders als Schneemensch, der keine Zehe ins Wasser tauchen würde, nicht einmal nachts, wenn die Sonne ihn nicht erwischen kann. Korrektur: vor allem nicht nachts.
Voller Neid sieht er ihnen zu; oder ist es Nostalgie? Nein, das kann es nicht sein, er ist als Kind nie im Meer geschwommen, ist nie nackt an einem Strand herumgerannt. Die Kinder suchen den Boden ab, bücken sich, lesen Treibgut auf; dann beraten sie miteinander, behalten manche Fundstücke, werfen andere wieder weg; ihre Schätze stecken sie in einen zerlumpten Sack. Früher oder später – darauf kann er sich verlassen – werden sie ihn aufspüren, in seinem zerlumpten Laken, die Arme um die Schienbeine geschlungen und an seiner Mango lutschend, tief im Schatten der Bäume wegen der mörderischen Sonne. Für die Kinder, die dickhäutig und resistent gegen UV-Strahlen sind, ist er ein Geschöpf des Zwielichts, der Dämmerung.
Da kommen sie schon. „Schneemensch, o Schneemensch“, stimmen sie ihren Singsang an. Sie kommen ihm nie zu nahe. Aus Respekt, wie er gern annähme, oder weil er stinkt?
(Er stinkt tatsächlich, das weiß er sehr gut. Er mieft, er bockelt, er ranzelt wie ein Walross – ölig, salzig, fischig –, nicht, dass er je so ein Vieh gerochen hätte. Aber er hat Bilder gesehen.)
Die Kinder öffnen ihren Sack und singen im Chor: „O Schneemensch, was haben wir gefunden?“ Sie nehmen Gegenstände heraus, halten sie hoch wie Ware zum Verkauf: eine Radkappe, eine Klaviertaste, ein Stück einer hellgrünen Limonadeflasche, glatt poliert vom Meer. Eine BlyssPluss-Flasche aus Plastik, leer; einen ChickieNobs-Behälter, ebenfalls leer. Eine Computermaus, jedenfalls der zertrümmerte Rest davon, mit langem drahtigem Schwanz.
Schneemensch kommen fast die Tränen. Was soll er ihnen sagen? Unmöglich kann er ihnen erklären, was diese sonderbaren Gegenstände sind oder waren. Aber sicher haben sie schon erraten, was er sagen wird, er sagt ohnehin immer dasselbe.
„Das sind Sachen von früher.“ Er spricht in freundlichem, aber distanziertem Ton. Eine Kreuzung aus Erzieher, Wahrsager und wohlwollendem Onkel – so sollte sein Tonfall sein.
„Können sie uns wehtun?“ Manchmal finden sie Motoröl und ätzende Lösemittel in Dosen, Plastikflaschen mit Bleichlauge. Versteckte Bomben aus der Vergangenheit. Er gilt als Experte für mögliche Unfälle: ätzende Flüssigkeiten, Übelkeit erregende Dämpfe, Giftstäube. Schmerzen sonderbarer Art.
„Diese nicht“, sagt er. „Die sind harmlos.“ Daraufhin verlieren sie das Interesse, lassen den Sack sinken. Aber sie gehen nicht weg: Sie stehen da und starren. Die Treibgutsuche ist eine Ausrede. Hauptsächlich wollen sie ihn ansehen, weil er so anders ist als sie. Manchmal bitten sie ihn, die Sonnenbrille abzunehmen und wieder aufzusetzen: Sie wollen sehen, ob er wirklich zwei Augen hat oder drei.
„Schneemensch, o Schneemensch“, singen sie, weniger an ihn gerichtet als an einander. Sein Name bedeutet ihnen nichts, für sie sind es einfach zwei Silben. Sie wissen nicht, was ein Schneemensch ist, sie haben nie Schnee gesehen.
Eine von Crakes Regeln bestand darin, dass kein Name ausgesucht werden durfte, für den sich nicht eine materielle Entsprechung zeigen ließ, und sei sie ausgestopft oder nur noch ein Skelett. Kein Einhorn, kein Drache, kein Mantikor oder Basilisk. Aber diese Regeln gelten nicht mehr, und für Schneemensch war es ein bitteres Vergnügen, sich dieses zweifelhafte Etikett zuzulegen. Der Abscheuliche Schneemensch – existent und nicht existent, eine flüchtige Erscheinung am Rand eines Schneesturms, ein affenähnlicher Mensch oder menschenähnlicher Affe, verstohlen, ungreifbar, nur Gerüchte gab es und rückwärts gerichtete Fußspuren. Gebirgsstämme, heißt es, hätten ihn gejagt und, wenn es ihnen gelang, getötet. Sie hätten ihn gekocht, gebraten, ein besonderes Fest veranstaltet – umso erregender, nimmt er an, als dieses Mahl an Kannibalismus grenzte.
Zu gegenwärtigen Zwecken hat er den Namen abgekürzt. Er nennt sich nur Schneemensch. Das Abscheuliche hat er für sich behalten, sein heimliches härenes Hemd.
Nach kurzem Zögern hocken sich die Kinder im Halbkreis nieder, Jungen und Mädchen gemeinsam. Ein paar von den Jüngeren kauen noch an ihrem Frühstück, der grüne Saft rinnt ihnen über das Kinn. Entmutigend, wie schnell man verkommt, ohne Spiegel. Trotzdem sind sie immer noch erstaunlich anziehend, diese Kinder: jedes nackt, jedes perfekt, jedes von anderer Hautfarbe – schokoladebraun, rosig, teefarben, butter-, krem-, honiggelb –, aber alle mit grünen Augen. Crakes Ästhetik.
Erwartungsvoll sehen sie Schneemensch an. Anscheinend hoffen sie, dass er mit ihnen spricht, aber er ist heute nicht in Stimmung. Allenfalls wird er sie seine Sonnenbrille aus der Nähe sehen lassen oder seine glänzende, stehen gebliebene Uhr, oder seine Baseballmütze. Die Mütze gefällt ihnen, aber sie verstehen nicht, wozu er so etwas braucht – abnehmbare Haare, die aber keine Haare sind –, und er hat noch keine Geschichte dazu erfunden.
Eine Zeit lang sind sie still, starren, denken nach; dann fängt der Älteste an. „O Schneemensch, bitte erzähl – was ist das für ein Moos, das aus deinem Gesicht herauswächst?“ Die anderen fallen ein. „Bitte erzähl, bitte erzähl!“ Kein Quengeln, kein Kichern: Die Frage ist ernst.
„Federn“, sagt er.
Sie stellen diese Frage mindestens einmal in der Woche. Er gibt immer dieselbe Antwort. Schon in einem so kurzen Zeitraum – zwei Monate? drei? Er hat den Überblick verloren – haben sie sich einen Vorrat an Mythen, an Mutmaßungen über ihn zugelegt: Schneemensch war einmal ein Vogel, aber er hat das Fliegen verlernt, und die meisten Federn sind ihm ausgefallen, deshalb friert er und braucht eine zweite Haut, er muss sich einwickeln. Nein: Er friert, weil er Fische isst, und Fische sind kalt. Nein: Er wickelt sich ein, weil ihm sein männliches Ding fehlt, und er will nicht, dass wir das sehen. Deswegen geht er auch nicht schwimmen. Schneemensch hat Falten, weil er früher unter Wasser gelebt hat, und davon ist seine Haut runzelig geworden. Schneemensch ist traurig, weil die anderen, die so waren wie er, über das Meer davongeflogen sind, und jetzt ist er ganz allein.
„Ich möchte auch Federn“, sagt der Jüngste. Eine vergebliche Hoffnung: Unter Crakes Kindern gibt es keine männlichen Bärte. Crake fand Bärte irrational; außerdem ärgerte ihn das ständige Rasieren, und deshalb schaffte er die Notwendigkeit kurzerhand ab. Natürlich nicht für Schneemensch: Für ihn war es zu spät.
Jetzt fangen sie alle auf einmal an. „O Schneemensch, o Schneemensch, können wir auch Federn haben? Bitte?“
„Nein“, sagt er.
„Warum nicht, warum nicht?“, singen die beiden Kleinsten.
„Wartet einen Moment, ich werde Crake fragen.“ Er hält seine Uhr zum Himmel hinauf, dreht sie rund um das Handgelenk, dann legt er sie ans Ohr, als lauschte er. Sie beobachten gebannt jede Bewegung. „Nein“, sagt er. „Crake meint, nein. Keine Federn für euch. Jetzt verpisst euch.“
„Verpisst euch? Verpisst euch?“ Sie sehen einander an, dann ihn. Er hat einen Fehler gemacht, er hat etwas Neues gesagt, hat einen Begriff verwendet, der unmöglich zu erklären ist. „Pissen“ ist für sie nichts Anstößiges. „Was heißt verpissen?“
„Geht weg!“ Er wedelt mit einem Zipfel des Lakens in ihre Richtung, und sie stieben davon, rennen den Strand entlang. Sie sind immer noch unschlüssig, ob sie sich vor ihm fürchten sollen, und wie sehr. Soweit man weiß, hat er noch keinem Kind etwas zu Leide getan, aber sein Wesen ist nicht ganz zu begreifen. Unmöglich, sein Verhalten vorherzusagen.
„Jetzt bin ich allein“, sagt er laut. „Ganz, ganz allein. Allein auf dem endlos weiten Meer.“ Noch ein Fetzen aus dem brennenden Notizbuch in seinem Kopf.
Korrektur: an der Meeresküste.
Er empfindet das Bedürfnis nach einer menschlichen Stimme – einer wirklich menschlichen Stimme, wie seine eigene. Manchmal lacht er wie eine Hyäne oder brüllt wie ein Löwe – wie seine Vorstellung von einer Hyäne, seine Vorstellung von einem Löwen. Als Kind hat er alte DVDs von solchen Wesen gesehen: diese Tierverhaltensfilme, die Kopulation und Geknurre und Eingeweide vorführten und Mütter, die ihre Jungen leckten. Warum hatte er sie so tröstlich gefunden?
Oder er grunzt und quietscht wie ein Organschwein oder heult wie ein Hunolf: Aruuuh! Aruuuh! In der Abenddämmerung springt er manchmal auf und rennt im Sand hin und her, schleudert Steine ins Meer und brüllt: Scheiße, Scheiße, Scheiße, Scheiße, Scheiße! Danach fühlt er sich besser.
Er steht auf und reckt die Arme, um sich zu dehnen, und das Laken fällt von ihm ab. Abgestoßen blickt er an sich hinunter: die schmutzige, grindige Haut, die grau melierten Haarbüschel, die verhornten, gelben Zehennägel. Nackt wie am Tag seiner Geburt. Obwohl er davon nicht mehr das Geringste weiß. So viele einschneidende Ereignisse finden hinter dem Rücken der Leute statt, wenn es ihnen unmöglich ist, zuzusehen: Geburt und Tod zum Beispiel. Und das zeitweilige Vergessen beim Sex.
Denk gar nicht erst dran, schärft er sich ein. Sex ist wie Alkohol, es ist schlecht, schon so früh am Tag darüber zu brüten.
Früher hat er auf sich geachtet; ist regelmäßig gelaufen, hat im Fitnessraum trainiert. Jetzt kann er seine Rippen zählen; er verfällt zusehends. Nicht genug tierisches Eiweiß. Eine Frauenstimme flüstert ihm zärtlich ins Ohr: Netter Hintern! Es ist nicht Oryx, sondern irgendeine andere Frau. Oryx ist nicht mehr sehr gesprächig.
„Sag irgendwas“, fleht er sie an. Sie kann ihn hören, das muss er glauben, aber sie straft ihn mit Schweigen. „Was kann ich tun?“, fragt er. „Du weißt, dass ich …“
Oh, ein richtiger Waschbrettbauch!, kehrt das Flüstern zurück und fällt ihm ins Wort. Leg dich einfach zurück, Schatz. Wer ist das? Irgendein Flittchen, das er einmal gekauft hat; Korrektur: eine professionelle Sexarbeiterin. Eine Trapezkünstlerin mit Gummirückgrat, Flitter auf der Haut wie Fischschuppen. Er hasst diese Echos. Heilige haben sie gehört, wahnsinnige, verlauste Einsiedler in ihren Höhlen und Wüsten. Bald wird er betörende Dämonen erblicken, die ihn herbeiwinken und sich die Lippen lecken, Gestalten mit rot glühenden Brustwarzen und zuckenden rosigen Zungen. Seejungfrauen werden sich aus den Wellen erheben, dort draußen, jenseits der halb zerfallenen Türme, und er wird ihren Sirenengesang hören und hinausschwimmen und von Haien gefressen werden. Kreaturen mit weiblichen Köpfen und Brüsten und Adlerklauen werden sich auf ihn stürzen, er wird sie mit offenen Armen empfangen, und das ist sein Ende. Hirngeröstet.
Oder schlimmer: Irgendein Mädchen, das er kennt oder gekannt hat, wird durch die Bäume auf ihn zukommen, sie wird sich freuen, ihn zu sehen, aber aus Luft bestehen. Sogar das wäre ihm recht, der Gesellschaft wegen.
Mit seinem einen sonnenbebrillten Auge sucht er den Horizont ab: nichts. Das Meer ist aus flüssigem Metall, der Himmel ein ausgebleichtes Blau bis auf das Loch, das die Sonne hineinbrennt. Alles ist so leer. Wasser, Sand, Himmel, Bäume, Fragmente der Vergangenheit. Niemand kann ihn hören.
„Crake!“, brüllt er. „Arschloch! Nur Scheiße im Hirn!“
Er lauscht. Das salzige Wasser rinnt ihm wieder über das Gesicht. Er weiß nie im Voraus, wann das passiert, und nie kann er es beenden. Sein Atem ist ein Keuchen, als umklammerte eine Riesenhand seine Brust – Klammern, Lockern, Klammern. Sinnlose Panik.
„Das hast du angerichtet!“, schreit er den Ozean an.
Keine Antwort, natürlich nicht. Nur die Wellen, hin – her, hin – her. Er wischt sich mit der Faust über das Gesicht, über Schmutz und Tränen und Rotz und den kläglichen Schnurrbart und den klebrigen Mangosaft. „Schneemensch, Schneemensch“, sagt er. „Fang endlich zu leben an.“
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