Persephone: Verdammt mächtig (Greek Goddesses 2) Persephone: Verdammt mächtig (Greek Goddesses 2) - eBook-Ausgabe
Roman
— Götterfantasy aus der griechischen SagenweltPersephone: Verdammt mächtig (Greek Goddesses 2) — Inhalt
#WhyIStayed: Warum ist es so schwer, einen toxischen Partner zu verlassen? Eine Neuerzählung des Persephone-Mythos in der heutigen Zeit von der Gewinnerin des Phantastikpreises Seraph 2023 für das „Beste Debüt“
„Ich will nicht bei ihm bleiben, aber ich habe Angst zu gehen. Mit mir an seiner Seite bleibt er berechenbar. Doch wenn ich mich trenne, fürchte ich nicht nur um meine Existenz, sondern um die der Welt.“
Ermutigt durch Medusas Prozess versucht die Frühlingsgöttin Persephone, sich aus der Zwangsehe mit dem Herrscher der Unterwelt Hades zu befreien. Sie träumt von einem ruhigen Leben auf der Oberwelt. Allerdings ist sowohl ihr Körper an die Unterwelt gebunden, als auch ihre Seele nach Jahrtausenden im Reich der Toten vergiftet.
Verzweifelt setzt sie für ihre Freiheit die Göttlichkeit aufs Spiel, während Hades im Gegenzug bereit ist, die Welten der Lebenden und der Toten ins Chaos zu stürzen, um sie zurückzubekommen. Erst in seiner Falle begreift Persephone, dass es neben Fügen oder Fliehen noch eine dritte Option gibt: Kämpfen.
Leseprobe zu „Persephone: Verdammt mächtig (Greek Goddesses 2)“
1. Zweifel
Eine Stille, bedrückender als die der Toten, lauert vor dem Garten meiner Seele. Hinter den Säulen, da, wo die Schatten beginnen und mit dem Nebel verschmelzen, setzt das lang vergessene Grauen zum Sprung an.
Lass mich raus, Persephone, flüstert die Dunkelheit und versucht über meine Augen auszubrechen.
Ich antworte nicht. Kneife die Lider zusammen. Sie zittern vor Anstrengung.
Seit Medusas Prozess spricht dieses Übel zu mir. Neuerdings ist es stärker geworden.
Übel? Ohne mich würdest du wie eine Fliege in Hades’ Netz zappeln. Du hast Glück, dass [...]
1. Zweifel
Eine Stille, bedrückender als die der Toten, lauert vor dem Garten meiner Seele. Hinter den Säulen, da, wo die Schatten beginnen und mit dem Nebel verschmelzen, setzt das lang vergessene Grauen zum Sprung an.
Lass mich raus, Persephone, flüstert die Dunkelheit und versucht über meine Augen auszubrechen.
Ich antworte nicht. Kneife die Lider zusammen. Sie zittern vor Anstrengung.
Seit Medusas Prozess spricht dieses Übel zu mir. Neuerdings ist es stärker geworden.
Übel? Ohne mich würdest du wie eine Fliege in Hades’ Netz zappeln. Du hast Glück, dass er noch im Gefängnis sitzt.
Mir fehlt die Kraft, mich gegen die Worte des Schattens zu wehren.
Es klopft an der Tür. Das Geräusch reißt mich in die Realität meiner spärlich erleuchteten Gemächer zurück. Das Kerzenlicht und das Kaminfeuer reichen nicht bis in die Ecken des großen Raums, bringen jedoch auf den Wänden und der Decke das Mosaik aus bunten Edelsteinen zum Funkeln. So wirken der abgebildete Wald aus Smaragden, der Himmel aus Saphiren und Aquamarinen, die Wolken aus Bergkristallen und die Sonne aus gelben Diamanten beinahe lebendig.
„Wer ist da?“
Keine Antwort. Nicht schon wieder. Mit einer unguten Vorahnung eile ich zur goldbeschlagenen Tür und reiße sie auf. Auf dem Boden steht eine zartgelbe Vase mit einem Blumenstrauß aus etwa dreißig weißen Rosen. Daneben liegt ein kleiner Korb mit Honiggebäck. Hastig überprüfe ich den Gang. Es ist niemand da. Nur das Licht der an der Wand befestigten Fackeln flackert über die Wände.
„Hermes?“, rufe ich unsicher. Nichts bewegt sich.
Ich habe den Götterboten seit einer Ewigkeit nicht mehr gesehen. Auch nicht bei Medusas Prozess. Ist er es, der mir seit dreißig Tagen täglich Blumen, Schmuck und Köstlichkeiten im Namen von Hades, der im Gefängnis ist, überbringt? Dass der neue Blumenstrauß wieder vom gleichen Absender ist, erkenne ich an der kleinen Papyrusrolle, die zwischen den faustgroßen Blüten steckt.
Oder ist Hades’ treuer Diener und Gärtner sein Bote?
„Askalaphos?“, frage ich mit dunklerer Stimme.
Wieder Schweigen.
Zum Glück geht mir dieser widerliche Uhu aus dem Weg. Mir hat er seine Vogelgestalt zu verdanken. Ich bin sicher, dass sich Hermes oder Askalaphos in den Schatten zwischen den Lichtkegeln der Fackeln versteckt. Beide beherrschen es, die eigene Präsenz zu verbergen. Mir soll es recht sein. Ich lege keinen Wert auf ihre Gesellschaft.
Nun wende ich meine ganze Aufmerksamkeit den armen Blumen zu, die so gnadenlos zum Sterben verurteilt wurden, als man sie abschnitt. Ich nehme die Vase, drücke sie mit beiden Armen an mich und lege eine Wange auf die Blüten. Zart und kühl schmiegen sie sich an meine Haut. Sie duften verzweifelt nach ihrem nahenden Tod. Ihre Stimmen haben sie bereits verloren.
„Es wird alles gut“, flüstere ich. „Ihr werdet nicht sterben.“ Das Honiggebäck schiebe ich mit dem Fuß in mein Zimmer, bevor ich die Tür mit dem anderen hinter mir zuschlage. Zerberus wird sich über die Süßigkeiten freuen.
Die Neuankömmlinge stelle ich zu den dreißig anderen Rosensträußen in verschiedenen Roséschattierungen. Ich kann ihre Angst spüren. Also hauche ich über die Blätter. Ein Funke meiner Kraft genügt ihnen. Nur kann ich gerade nicht einmal diesen entbehren. Macht Hades das mit Absicht?
Ich pflücke die Papyrusrolle aus dem Strauß und öffne sie. Ein kleiner Fetzen von Hades’ Dunkelheit entsteigt ihr und nimmt die Gestalt des Herrschers der Unterwelt an. Die schattenhafte Präsenz meines Mannes wendet sich zu mir und beginnt mit Hades’ Stimme zu sprechen:
„Meine liebste Persephone, ich hoffe inständig, dass es dir gut geht. Ich wage es nicht, dich zu fragen, da ich vermutlich wieder keine Antwort bekommen werde. Wahrscheinlich habe ich es verdient.“ Sehnsüchtig streckt Hades’ Schatten die Arme nach mir aus. Ich weiche einen Schritt zurück. „Mein Juwel“, fährt er fort, „ich flehe dich an, rede mit mir. Ich zerbreche mir in meiner Gefängniszelle den Kopf darüber, was ich getan habe. Hast du dich gegen mich gewandt, weil ich Zeus geholfen habe? Ich wollte lediglich die bestehende Ordnung aufrechterhalten. Wie ich befürchtet habe, hat Medusas Sieg zu Chaos unter den Toten und Lebenden geführt. Sieh uns zwei an. Dir fiel es stets so schwer, mit Veränderungen zurechtzukommen. Weißt du noch, wie lange du gebraucht hast, um die Trennung von deiner Mutter zu akzeptieren? Alles, was ich tue, denke oder fühle, gilt allein dir. Ich habe mit Zeus zusammengearbeitet, um dich zu schützen.
Wie furchtbar muss es gerade für dich sein? Du leidest jeden Moment, in dem du die Bürde der Unterwelt auf deinen zarten Schultern trägst. Ich kenne diese Last nur zu gut. Den Druck, die Grenzen zur Oberwelt geschlossen zu halten, die Notwendigkeit, für Gerechtigkeit und Ordnung unter den Seelen zu sorgen. Stets habe ich diese Aufgabe von dir ferngehalten und dich geschont.
Nur um in deiner Nähe zu bleiben, habe ich mich der UGO gestellt. Ich mache mir furchtbare Sorgen um dich. Unsere gemeinsame Zeit verrinnt. Bald wird dich deine Mutter zu sich rufen. Doch der Olymp ist verschlossen. Zeus ist nicht da. Der Zugang zu Nektar und Ambrosia ist dir verwehrt.
Ich beknie dich, wenn du schon nicht um meinet- und unseretwillen mit mir reden willst, so lass mich dir wenigstens helfen, das kommende Sommerhalbjahr unversehrt zu überstehen. Du hast nichts von mir zu befürchten. Ich werde dir verzeihen. Wie ich es immer getan habe. Ich kann dir nicht beschreiben, wie sehr ich dich vermisse. Ohne dich bin ich nichts. Verloren und allein in ewiger Finsternis. Hat für dich denn kein einziger guter Moment zwischen uns existiert? Früher oder später werde ich zurückkommen. Bitte vergiss das nicht. In ewiger Liebe, dein Ehemann Hades.“
Die schattenhafte Gestalt gibt mir einen Luftkuss und löst sich in Rauch auf.
Langsam rolle ich das Pergament wieder zusammen.
„Warum hast du gelogen?“, flüstere ich, um das Zittern meiner Stimme nicht hören zu müssen. Meine Brust ist eng. Ich fürchte seine Rache. Ja, er wird mir verzeihen. Aber nicht ohne Gegenleistung. Werde ich seine Strafe aushalten?
Ich bin am Ende meiner Kräfte. Hades muss es spüren. Er macht sich Sorgen um mich, um die Seelen, um die Ordnung hier.
Nimmst du es ihm wirklich ab? Nicht dein Ernst, oder?
Ich hole scharf Luft. Es ist unwichtig, ob ich ihm glaube oder nicht. Egal was zwischen uns war, er hat mich die Last der Herrschaft nie spüren lassen. Wie sorglos war ich doch vor Medusas Prozess. War es richtig, aufzustehen? Hätte ich seine Lügen nicht ignorieren können? Nur dieses eine Mal?
Ich weiß, dass er mich braucht, wie schlecht es ihm jedes Jahr ging, wenn meine Zeit kam, zu Mutter an die Oberfläche zu steigen. Wie verloren und einsam er bei den Abschieden wirkte.
Ein Blitz bahnt sich einen Weg aus meinen Augen heraus und schlägt in Hades’ Papyrusrolle ein. Erschrocken lasse ich sie fallen. Sie geht in Flammen auf, und die Asche fällt vor meine Füße.
Ich kann das nicht mehr hören! Hades ist der Grund, dass du überhaupt hier bist, dass du ohne Nektar und Ambrosia keinen halben Tag draußen aushältst. Mein Schatten tobt.
Ich schlage mir die Hände vors Gesicht und kneife die Lider zusammen. Er darf nicht ausbrechen.
„Lass mich ihm schreiben“, keuche ich.
Niemals!, brüllt das Übel. Ein weiterer Blitz sammelt sich in mir. Dieses Ding hat jeden schriftlichen Antwortversuch in Flammen aufgehen lassen. Es lähmt mich, hindert mich daran, eine Lösung mit Hades zu finden.
„Es war nicht alles schlecht zwischen uns. Wir alle machen Fehler. Je länger ich mit einer Antwort warte, desto wütender wird Hades.“
Du hättest ihn davonjagen oder vor ihm fliehen sollen. So weit und so schnell du kannst!
„Wie?“, schreie ich. „Und wohin soll ich gehen? Ich bin gebunden an diesen Ort! Wieso bist du wieder da? Wieso bist du ausgerechnet während Medusas Prozess aufgetaucht?“
Du hattest in diesem Gerichtssaal seit Jahrtausenden deinen ersten vernünftigen Moment. Ich dachte, du wachst endlich auf.
„Lass mich in Ruhe“, sage ich stöhnend. „Verschwinde wieder dahin, wo du hergekommen bist!“
Ich war nie weg. Ich habe geschlafen, mich formiert, Kräfte gesammelt, eine Stimme gesucht, damit du mich verstehst. Diesmal werde ich nicht mehr stillhalten. Es ist genug.
Wieder klopft jemand bei mir an. Hekates Präsenz strömt in meine Gemächer. Stolpernd gehe ich zur Tür, öffne sie. Hekate mustert mich missbilligend. Sie hält nicht viel davon, wie ich mich neuerdings kleide. Als ich Medusa besucht habe, um ihr den Kopf ihrer Schwester zu übergeben, habe ich festgestellt, wie bequem die Kleidung der Menschen ist. Seitdem habe ich das lange dunkelblaue Beinkleid aus festem Stoff und das hüftlange rote Wolloberteil nicht mehr ausgezogen.
Hekates sonst schon blasse Haut zeigt heute einen ungesunden Graustich, und ein Schleier liegt über den scharfen silbernen Augen. Sie wirkt müde. Sogar ihr dunkelblaues, mit Sternenstaub durchwirktes Gewand hat den Glanz verloren.
„Wir müssen reden“, sagt sie.
Ich mache Platz, damit sie eintreten kann.
„Nicht hier.“ Hekate dreht sich um und bedeutet mir mit einer Handbewegung, ihr zu folgen.
Schweigend gehe ich mit. Sie führt mich in den Thronsaal des Hades. Mein Magen verkrampft sich, als wir die Halle durchschreiten. Ich starre Hades’ breiten Thron auf dem Podest vor uns an. Aus schwarzem Marmor gemeißelt dominiert er den Raum.
Seit Medusas Prozess vor einem Mondzyklus habe ich den Thronsaal gemieden. Nicht einmal meine Pflanzen habe ich hier besucht und sie verdorren lassen. Anklagend strecken sie ihre vertrockneten Äste nach mir aus, und ich senke beschämt den Kopf.
Hier liegt das Zentrum der Unterwelt und von Hades’ Macht. Erschaffen aus Tränen, Stille und Dunkelheit. Unzählige Porträts von mir in verschiedenen Größen bedecken die Wände bis zur Decke, die so hoch ist, dass sie im Zwielicht kaum erkennbar ist. Alle Bilder hat Hades selbst gemalt.
Hekate bleibt vor dem Thron stehen und dreht sich zu mir um. Ewig jung steht die uralte Göttin vor mir. „Wovor hast du Angst, Persephone? Vor dem Thron oder vor dir selbst?“
Ich antworte nicht.
„Umarme deine dunkle Kraft. Warum sträubst du dich gegen sie?“
„Meine Kraft? Ich würde es als parasitäre, aus Gewalt entstandene Finsternis bezeichnen.“
„Etwa heute vor einem Mondzyklus hat sie dich gerettet. Du konntest Medusa helfen. Hades sitzt deswegen im Gefängnis.“
„Du hast die Tür zu Hades’ Gemach aufgesperrt und mich rausgelassen, Hekate, Wächterin der Übergänge. Es war nicht der Schatten. Und geherrscht habe ich hier nie.“
„Du bist als Unterweltgöttin in Gaias Verzeichnis eingetragen. Zum einen darfst du über die Unterwelt herrschen, zum anderen bist du die Einzige, die es außer Hades vermag.“
Diese Unterhaltung ist ermüdend.
Wie lange willst du noch so tun, als gäbe es mich nicht? Der Schatten drückt wie eine giftige Wolke nach draußen. Meine Sicht verdunkelt sich. Nur unter größter Anstrengung gelingt es mir, ihn zurückzuhalten. Allerdings bricht ein Blitz aus mir heraus. Krachend schlägt er neben Hekate ein. Der Boden vor ihren nackten Füßen raucht. Sie zuckt nicht einmal zusammen.
Ist das der Dank dafür, dass ich dir während Medusas Prozess geholfen habe?
Ein Zug an meiner sowieso kaum vorhandenen Energie lässt mich aufstöhnen. Eine mächtige göttliche Präsenz versucht die Grenzen zur Unterwelt zu passieren. Mutter.
„Warum lässt du sie nicht herein?“ Natürlich hat Hekate ihre alte Freundin auch erspürt.
Ich balle die Fäuste. „Und dabei riskieren, dass etwas aus der Unterwelt entweicht?“
Auch Hades hat es gehasst, wenn jemand unerlaubt in sein Reich eingedrungen ist: Es hat für kurze Zeit die Grenzen geschwächt. Fortwährend drängen wütende Seelen nach draußen. Das hier ist kein Ort, an dem man freiwillig bleibt.
„Mutter sollte wissen, wie viel Kraft mich allein ihr Anklopfen kostet.“
„Willst du ihr nicht einmal eine Nachricht schicken? Sie macht sich Sorgen um dich.“
„Dann hätte sie während Medusas Prozess nicht zu Hades halten sollen.“
Hekate seufzt. „Sie hat es aus Furcht vor Zeus’ und Hades’ Rache an dir getan.“
„Hast du mich deswegen hierherbestellt? Um über Mutter zu reden?“
Die Göttin der Magie winkt mit einer Hand, und Aiakos, einer der drei Totenrichter des Hades, eilt mit einem Tablett zu uns. Ich beiße mir auf die Unterlippe. Darauf liegt ein handflächenlanger, glanzloser Schlüssel.
2. Ein furchtbares Angebot
Dieser Schlüssel müsste golden glänzen, um einiges länger sein und Macht ausstrahlen.
„Aiakos, die Flüsse und ich sind am Ende unserer Kräfte und können dir nicht mehr helfen.“ Sie nimmt den Schlüssel vom Tablett und bedeutet mir wieder, ihr zu folgen.
Wie ich befürchtet habe, führt sie mich zum Tempel der Flüsse, der von Nebelschwaden umgeben ist. Nichts wächst hier. Das runde Dach des riesigen Monopteros wird von sechs Säulen getragen. Jede ist einem Fluss gewidmet. Wir betreten das Innere. Gegenüber der saphirblauen Säule des eisigen Flusses des Grauens, Styx, steht die rubinrote Säule des flammenden Phlegeton. Der Strom des Leides und Schmerzes, Acheron, dessen Säule mit violetten Amethysten überzogen ist, wird auf der gegenüberliegenden Seite durch die rauchkristallgraue Säule des Kokytos, des Flusses des Wehklagens, gespiegelt. Zuletzt stehen sich die Säulen der Lethe und der Mnemosyne gegenüber. Das Vergessen in Onyxschwarz und die Erkenntnis in hellem Aquamarinblau.
In der Mitte des Monopteros erhebt sich ein breiter runder Sockel, über dem der goldene Kelch der Iris schwebt. Selbst in der Dunkelheit strahlt er in allen Regenbogenfarben. Als einziges existierendes Gefäß kann er die Wasser der Unterwelt halten, insbesondere das der Styx.
Hekate stellt sich neben den Sockel. Flammen steigen aus dem schillernden Kelch hervor, sodass er einer Fackel ähnelt. In einiger Entfernung bleibe ich stehen.
„Tritt näher, Persephone.“
Ich bewege mich nicht.
Hekate streicht mit einem langen schlanken Finger vorsichtig über den Rand des Bechers. „Ist er nicht schön?“ Ihr Blick verklärt sich. „Die ersten Unsterblichen dieser Welt haben ihn aus der Essenz des ersten Regenbogens erschaffen. Damals formten sich noch Himmel, Erde, Wasser“, sie deutet mit einer eleganten Bewegung um sich, „die Unterwelt. Die einzige Sphäre, über die niemand herrschen wollte. Verhasst und von den Göttern lieblos vom einen an den anderen weitergereicht. Uranus, Kronos, ich, Hades.“ Sie lächelt. „Ich mochte es hier. Die Flüsse hatten genug davon, von Herrscher zu Herrscher geschoben zu werden. So beschlossen sie, in Zukunft nur mit der Gottheit ihre Macht zu teilen, die sie akzeptieren wollte und in der Lage war, aus diesem Kelch zu trinken. So wie die Säulen hier das Dach des Monopteros tragen, schultern die Flüsse die Macht ihrer Herrscher.“
Gespannt lausche ich ihr. Niemand hat je mit mir darüber geredet.
„Ich war die Erste, die aus diesem Becher trinken musste“, fährt Hekate fort. „Kronos übergab mir einst die Herrschaft über die Unterwelt. Dann brauchte Zeus für den einzigen Gott, der ihm gefährlich werden konnte, einen Ort weit weg vom Olymp. Für Hades. Ein Los, das keines sein konnte, entschied über seine Bestimmung hier. Ob Hades die Unterwelt freiwillig annahm, Zeus ihm etwas versprach oder ihn bedrohte, weiß ich nicht. Jedenfalls tauchte Hades während einer ruhigen Nacht hier auf. Er trank als Zweiter aus dem Becher.“
„Wie konnte er eintreten? Hast du ihn reingelassen, oder hat er sich den Zutritt erzwungen?“
„Ich war unaufmerksam und schon lang – wie die Götter vor mir – anderen, interessanteren Aufgaben zugewandt. Als Hades den Thron der Unterwelt von mir forderte, wehrte ich mich nicht. Die Flüsse spürten, dass ich nicht mehr mit vollem Herzen dabei war. Da sich niemand Besseres fand, teilten sie ihre Macht mit Hades. Ich durfte noch den Schlüssel hüten, bis Aiakos hier ankam.“
Hekate ergreift den Kelch, kommt auf mich zu und hält mir in der einen Hand den Schlüssel, in der anderen den Kelch der Iris hin. Die Flüssigkeit darin wirbelt in allen Farben der Flüsse. Sie brennt, und gleichzeitig ist sie so kalt, dass sich Eiskristalle auf der Oberfläche bilden, die sogleich wieder vom Feuer verzehrt werden. Das Getränk ist grün, blau, schwarz, violett und grau. Es ist Eis und Feuer. Ich weiche einen Schritt zurück.
„Entfessle deine Dunkelheit, trinke die Macht der Flüsse, setz dich auf den Thron und ergreife den Schlüssel zur Unterwelt. Handle, Persephone.“
Panisch trete ich zurück, und kalter Schweiß überzieht meine Haut. „Ich kann nicht. Das ist nicht meine Bestimmung. Nach dem, was nur einige Granatapfelkerne mit mir angestellt haben, die lediglich mit diesen Wassern gegossen wurden, was würden die Quellen des Übels aus mir machen? Ich hätte Glück, wenn es mich einfach nur töten würde.“
Hekate versucht nicht einmal, die Enttäuschung in ihrem Gesicht zu verbergen.
„Und die Flüsse … Ich habe sie nie darum gebeten, ihre Macht mit mir zu teilen. Vielleicht gilt das Wasser im Kelch dir! Trink du es. Nimm dir die Unterwelt zurück.“
Hekate führt den Kelch zum Mund. Je weiter sich ihre Lippen der Flüssigkeit nähern, desto kleiner wird die Flamme darin. Hekate lässt mich dabei nicht aus den Augen. Sobald sie das Gefäß wieder vom Gesicht entfernt, lodert das Feuer des Phlegeton erneut auf.
„Siehst du. Sie werden ihre Macht nicht mehr mit mir teilen. Ich habe sie einmal enttäuscht, ihre Macht freiwillig abgegeben und die Unterwelt verraten. Als Dank für meine langen Dienste durfte ich hier unbehelligt bleiben. Mehr habe ich nicht zu erwarten.“
Ich spüre die Anwesenheit der Flüsse hinter den Säulen.
„Sollen sie sich zeigen?“, fragt Hekate.
Ich greife mir an die Brust. Es ist zu viel. „Sie sollen verschwinden“, flüstere ich. „Ich will das nicht.“ Mit jedem Wort wird meine Stimme wieder lauter. „Niemand bei Sinnen würde freiwillig aus diesem Kelch trinken. Nicht, wenn man wie ich eine Ahnung davon hat, was es mit einem anrichten wird.“ Ich weiche weiter zurück, bis ich mit dem Rücken gegen die eiskalte Säule meiner ehemaligen Jugendfreundin Styx stoße. Sie schweigt mich seit Jahrtausenden an und lässt sich nicht blicken. Das befeuert meinen Hass gegen die Flüsse. Sie haben mir nie geholfen, und jetzt soll ich ihr Wasser trinken? Wütend schlage ich mit einer Faust gegen die kalten Saphire hinter mir. „Haut ab!“
Die Flüsse folgen meinem Befehl. Die Enttäuschung der Styx, die hinter ihrer Säule stand, kann ich fast greifen. Sobald sie weg sind, bekomme ich wieder Luft.
„Dann der andere Weg“, sagt Hekate kalt. „Du weißt, was du tun musst.“
„Kannst du nicht zu ihm gehen?“ Meine Stimme bricht.
„Es tut mir leid, dass es für dich keinen leichten Weg gibt. Ein Schluck aus dem Kelch oder ein Besuch bei Hades im Gefängnis. Einen Pfad wirst du gehen müssen.“
Ich sinke an der Säule zu Boden, ziehe die Knie an und lege den Kopf darauf. Mir fehlt die Kraft, um Entscheidungen zu treffen, und noch mehr, um schwere Wege zu gehen.
„Auch wenn ich es dir gern abnehmen würde, sie würden mich nicht zu ihm lassen.“ Ein Hauch Mitleid schwingt in Hekates Stimme. „Ich stehe in keinem Verwandtschaftsverhältnis zu Hades. Du als seine Ehefrau wirst ihn dagegen ohne Probleme besuchen können.“
Meine Körpermitte zieht sich zusammen. „Kann das nicht noch ein wenig warten?“
„Der Schlüssel hätte besser gestern als morgen mit Kraft aufgefüllt werden müssen. Außerdem brauchst du diese Begegnung, damit du dich endlich festlegst, in welcher Beziehung zu Hades du leben willst. Es wäre ratsam, dass du diese Frage klärst, bevor er entlassen wird.“
„Ich habe noch Zeit.“ Panisch blicke ich hoch.
Der Schatten in mir lacht hämisch.
„Außerdem glaube ich nicht, dass Hades bald …“
Hekate zieht eine Augenbraue hoch und ich verstumme. Sie hat sich in den letzten Wochen zu viele Ausreden anhören müssen. Sobald ich mich damit auseinandersetze, wird mein Kopf leer. So habe ich mich weder entschieden, ob ich mich von Hades trennen will, noch habe ich diesbezüglich etwas unternommen. Hades weiß noch nicht einmal, dass ich über eine Trennung nachdenke.
Hekate deutet mit dem Zeigefinger hinter mich. Ich drehe mich um und schlage erschrocken eine Hand vor den Mund. Zerberus steht in den Nebelschwaden hinter mir. Der Schatten nutzt diesen Moment der Schwäche und versucht erneut auszubrechen. Keuchend kann ich es gerade noch verhindern. Nur ein Blitz schlägt neben mir ein.
Weil ich zu erschöpft war, habe ich Zerberus seit einigen Tagen nicht besucht. Noch nie habe ich ihn so ausgelaugt gesehen. Nicht einmal, als Hades ihn jahrelang bestraft und an die Kette gelegt hat, nachdem Orpheus am Höllenhund vorbei in die Unterwelt eingedrungen war.
Die zwei äußeren Köpfe lässt Zerberus kraftlos herunterhängen. Lediglich den mittleren Schädel hält er halbwegs aufrecht. Ungehindert läuft aus allen drei Mäulern Hundesabber. Statt grün und ätzend tropft der Speichel weiß und harmlos auf den Boden. Die normalerweise aufmerksam hochgestellten Ohren zeigen in undefinierbare Richtungen, die strahlend roten Augen, die sonst wie Kerzen in der Nacht glühen, sind stumpf. Sogar die stets neugierige Schlange, die seine Rute bildet, schwebt nicht über seinen Köpfen, sondern liegt kraftlos und mit geschlossenen Lidern auf seinem mittleren Kopf.
Erst vor drei Tagen hat er nicht annähernd so zerstört gewirkt wie jetzt.
„Was ist passiert?“, frage ich schwach.
„Er wollte dir keine Sorgen machen und hat sich zusammengerissen, wenn du bei ihm warst. Allerdings ist auch er am Ende“, sagt Hekate. „Persephone, bitte. Wir können nicht mehr. Du auch nicht. Wenn du nicht innerhalb der nächsten Stunden die Machtübernahme über die Unterwelt planst, musst du Hades im Gefängnis besuchen.“
Meine Hände beginnen zu zittern.
Hab keine Angst. Wenn du zu ihm gehst, bin ich bei dir.
Die Worte meiner Dunkelheit lösen diesmal statt Abscheu eine trotzige Genugtuung aus. Wenn ich mich Hades stellen muss, darf sich der Herrscher der Unterwelt mit dem Ergebnis seiner eigenen und Zeus’ Taten herumschlagen. Dieser Schatten in mir ist ihr Geschöpf.
Ich rapple mich hoch, gehe zu Hekate und nehme ihr den Schlüssel ab. Entschlossen nähere ich mich Zerberus. Er winselt schwach, was mir das Herz bricht. Ich ziehe seinen mittleren Kopf, der mich um eine Armlänge überragt, zu mir herunter und drücke ihm einen Kuss auf die Nase.
„Es tut mir leid, dass ich es nicht bemerkt habe“, flüstere ich. „Das nächste Mal spielst du nicht den starken Höllenhund. Ich bin diejenige, die auf dich aufpassen muss, nicht umgekehrt.“
Er zittert unter meinen Händen. Mit letzter Kraft hebt er die anderen beiden Köpfe. Mit dem linken schleckt er mir über die Wange, mit dem rechten schmiegt er sich in meine Halsbeuge und schnaubt mit heißem Atem hinein. Sogar der Schlangenkopf seiner Rute erhebt sich und lugt über dem mittleren Kopf hervor. Ich bin dankbar, dass die Schlange es vermeidet, mich zu berühren. Wobei sich meine Abneigung gegen die Reptilien seit der Bekanntschaft mit Medusa deutlich gebessert hat.
Ich sehne mich nach meiner neuen Freundin und frage mich, wie es ihr geht. Vielleicht hat mein Besuch bei Hades auch etwas Gutes. Wenn er den Schlüssel der Unterwelt wieder mit seiner Macht anreichert, dann werde ich wieder mehr Freiraum haben. Möglicherweise kann ich die Unterwelt dann sogar für kurze Zeit verlassen, um Medusa zu besuchen. Diese Aussicht verleiht mir den Mut und die Kraft, die ich dringend brauche, um den Gang zu Hades anzutreten.
Widerstrebend löse ich mich von Zerberus. Ich umklammere den Schlüssel und eile zum Reiseraum mit den Statuen von Hades, Zerberus und mir. Der Höllenhund folgt mir trotz seines Zustandes.
Seit einem Monatszyklus haben wir uns nicht mehr gesehen, und jetzt ist es unausweichlich. Ich muss mich Hades im Gefängnis stellen.
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