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Pfirsichbowlen-Tage (Die Kochschule 3) Pfirsichbowlen-Tage (Die Kochschule 3) - eBook-Ausgabe

Lea Benthin
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Roman

— Nostalgische Saga rund um die Schülerinnen einer Kochschule in den 1970ern
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Pfirsichbowlen-Tage (Die Kochschule 3) — Inhalt

Ein Generationenwechsel bietet neue Chancen – und viele Herausforderungen 

1972: Nach dem Skandal rund um die Vergangenheit ihrer Mutter übernimmt Inga die Leitung der Kochschule. Der Fokus der Schule, die jetzt auch Männer besuchen dürfen, liegt nun auf den beruflichen Laufbahnen ihrer Absolventen.

Für die junge Witwe Eva ist der Besuch der Schule eine Chance, um sich selbst ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Beim gemeinsamen Lernen kommt sie dem Restauranterben Paul immer näher, Eva sieht endlich wieder mit Zuversicht in die Zukunft. Doch als sich Pauls Familie gegen die junge Liebe stellt, müssen die beiden für ihr Glück kämpfen.

Dritter Band der mitreißenden Reihe „Die Kochschule“.

€ 13,00 [D], € 13,40 [A]
Erschienen am 29.02.2024
288 Seiten, Klappenbroschur
EAN 978-3-492-31763-4
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€ 9,99 [D], € 9,99 [A]
Erschienen am 29.02.2024
288 Seiten
EAN 978-3-492-60535-9
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Leseprobe zu „Pfirsichbowlen-Tage (Die Kochschule 3)“

Kapitel 1

Eva Wyland hatte die Entscheidung, wieder die Schulbank zu drücken, in einem Moment der Verzweiflung getroffen. Doch als sie nun vor der Schule vorfuhr, der Wagen über das Kopfsteinpflaster rollte und sich vor ihr das imposante cremeweiße Schulgebäude auftat, mit seinen Giebeln, Erkern, Gauben und schwarz gerahmten Fenstern, war sie überzeugt, dass es die richtige Entscheidung gewesen war. Spaliere mit Rosen umrankten den Eingang, der flankiert war von schmalen Säulen. Sie war noch etwas zu früh dran und allem Anschein nach die erste [...]

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Kapitel 1

Eva Wyland hatte die Entscheidung, wieder die Schulbank zu drücken, in einem Moment der Verzweiflung getroffen. Doch als sie nun vor der Schule vorfuhr, der Wagen über das Kopfsteinpflaster rollte und sich vor ihr das imposante cremeweiße Schulgebäude auftat, mit seinen Giebeln, Erkern, Gauben und schwarz gerahmten Fenstern, war sie überzeugt, dass es die richtige Entscheidung gewesen war. Spaliere mit Rosen umrankten den Eingang, der flankiert war von schmalen Säulen. Sie war noch etwas zu früh dran und allem Anschein nach die erste Auszubildende, die angekommen war. Nachdem sie ihren kleinen Fiat auf dem ausgeschilderten Parkplatz auf der linken Seite des großen Hofes abgestellt hatte, stieg sie aus, schulterte ihre Handtasche und ging langsam auf das Haus zu. Ihren Koffer ließ sie im Wagen, den würde sie später holen.

An diesem Augustmorgen war es bereits so warm, dass sie ihre Strickjacke nicht benötigte. Eva ging zu der Ulme neben dem Haus, zog ihre Zigaretten hervor und steckte sich eine an. Den Kopf leicht zurückgelegt, atmete sie den Rauch aus und beobachtete, wie er sich langsam in den feinen Sonnenstrahlen, die durch das Blätterdach fielen, auflöste. Ihr Blick fiel auf das Messingschild, das neben der Haustür angebracht war. Koch- und Restaurantschule Inga Heinthal.

Schon als Kind hatte Eva gern gekocht und es geliebt, feine Confiserieprodukte herzustellen. Vor allem mochte sie es, Torten zu verzieren und sich dabei in Details zu verlieren, sodass ihre Mutter es zu Geburtstagen immer ihr überlassen konnte, sich um den Geburtstagskuchen zu kümmern. Nach ihrem Schulabschluss hatte sie kurz mit dem Gedanken gespielt, eine Confiserieausbildung anzufangen, doch dann hatte sie mit achtzehn ihre Jugendliebe geheiratet, Peter Wyland, der sie von dieser Idee abbrachte. Er würde schon für sie beide sorgen. Und so war sie vom Elternhaus direkt in seine Wohnung gezogen und Hausfrau geworden. Fünf Jahre hatten sie vergeblich versucht, Kinder zu bekommen. Und dann war Peter schwer an Krebs erkrankt und innerhalb weniger Monate verstorben. Der Kampf war verloren gewesen, noch ehe er ihn hatte aufnehmen können.

Mehr als eineinhalb Jahre war sie nun verwitwet und konnte die Wohnung allein und ohne Arbeit nicht mehr halten. Also war sie zurück in ihr Elternhaus gezogen, hatte Trost in der vertrauten Umgebung gesucht. Anfangs hatte die Trauer alles überschattet, aber je länger sie in ihrem ehemaligen Mädchenzimmer lebte, umso mehr spürte sie, dass sie diesem Leben entwachsen war.

Eine gute Freundin, die mittlerweile in Köln lebte, betrieb seit einigen Jahren mit ihrem Ehemann ein Restaurant, und sie war es auch gewesen, die ihr von der Schule erzählt hatte. Sie selbst hatte ihre Ausbildung dort Mitte der Sechzigerjahre abgeschlossen. Eva hatte angefragt und ihre Bewerbung eingereicht, wenige Monate später war die Zusage gekommen, und nun stand sie hier, und alles fühlte sich gut und richtig an. Sie war fünfundzwanzig und konnte ihr Leben wieder selbst in die Hand nehmen. Ihre Eltern hatten den Entschluss begrüßt und übernahmen die Ausbildungskosten. Allerdings plante Eva bereits, ihnen diese zu erstatten, sobald sie eigenes Geld verdiente.

Ein schicker weißer Benz rollte über den Schotterweg der Allee auf die Schule zu, bremste sanft ab, ehe er durch das Tor fuhr und nach links abbog, um neben Evas Fiat zu parken. Eva rauchte auf und steckte die Zigarette in einen Aschekübel, während sie beobachtete, wie ein junger Mann aus dem Benz stieg. Er ging zum Kofferraum, öffnete die Klappe, hob einen Koffer heraus und sah sich um, bevor er auf Eva zuging. Sie schätzte, dass er ungefähr in ihrem Alter sein müsste, er hatte dunkles Haar und war lässig in eine schwarz-grau karierte Hose und ein weißes Hemd gekleidet. Kurz bevor er bei ihr ankam, nahm er die Sonnenbrille ab und lächelte.

„Wissen Sie, wo ich mich anmelden muss?“, fragte er.

„Ich bin auch neu hier“, antwortete sie. „Mein Koffer steht noch im Auto.“

„Möchten Sie, dass ich ihn für Sie hole?“, fragte er, offenbar in der irrtümlichen Annahme, sie bräuchte Hilfe.

„Nein danke, das kann ich schon selbst.“

„Ich wollte Ihnen keinesfalls zu nahetreten. Haben Sie eine Zigarette für mich? Eigentlich bin ich dabei, es mir abzugewöhnen.“

„Und kaufen dann keine? Habe ich auch schon versucht, und festgestellt, dass ich dann ständig andere danach frage.“ Sie lachte und hielt ihm die Schachtel hin. „Eva Wyland“, stellte sie sich vor.

„Paul Thiemann.“

„Thiemann vom Mosel-Restaurant Thiemann?“

„In der Nähe der Burg, genau. Das ist unser Familienbetrieb.“ Er nahm einen Zug von seiner Zigarette.

„Aber was machen Sie dann hier, wenn ich fragen darf. In Ihrem Restaurant kann man doch bestimmt auch eine Menge lernen.“

„Meine Eltern halten nicht viel davon, die Kinder im eigenen Betrieb auszubilden. Ich soll hier alles von der Pike auf lernen und in anderen Betrieben Erfahrungen sammeln.“

„Das klingt sehr vernünftig.“ Eva schnippte Asche in den Kübel. Ein lauer Wind kam auf, und der Saum ihres blauen geblümten Sommerkleides umspielte ihre Knie. Sie hatte es extra für diesen Tag gekauft, der symbolisch für einen Neuanfang stand.

Zwei Autos näherten sich, und nachdem die beiden Wagen eingeparkt hatten, fuhr ein weißer VW-Käfer auf das Hoftor zu. Bei Näherkommen bemerkte Eva eine Frau hinter dem Steuer, neben ihr ein junger Mann, der noch sehr jung zu sein schien.

„So langsam füllt es sich“, sagte Paul Thiemann.

„Acht Auszubildende sind es, oder?“

„Ja, so stand es in der Broschüre. Vier Männer und vier Frauen.“

Eva zog ihren Schlüssel aus der Handtasche. „Ich hole eben meinen Koffer.“

„Soll ich Ihnen beim Tragen helfen?“

„Nein, ich habe das nicht nur aus Höflichkeit gesagt.“ Sie lächelte, um nicht abweisend zu klingen. „Wir brauchen uns auch nicht zu siezen, ich bin Eva. Immerhin wohnen wir die nächsten drei Jahre zusammen.“ Erst als die Worte heraus waren, fiel ihr auf, dass das ein wenig doppeldeutig klang, und sie rechnete es ihm hoch an, dass er keinen Witz darüber machte.

„Sehr gern.“ Paul begleitete sie zum Auto, bot ihr aber keine Hilfe an, als sie den Koffer aus dem Wagen hob. Ein weiterer Punkt für ihn.

Sie überquerten den Hof, und Eva blieb einen Moment stehen, so beeindruckt war sie von den Ausmaßen der Schule. Der Hof war in großzügigem Halbrund um einen Springbrunnen herum angelegt, in dessen Wasserkaskade sich das Sonnenlicht funkelnd brach. Die cremefarbene Villa wirkte mit ihrem säulenbestandenen Eingang und ihren hübschen Dach- und Giebelformationen, den Erkern und Gauben, äußerst elegant.

„So nobel habe ich bisher noch nie gehaust“, sagte Paul, als hätte er ihre Gedanken gelesen.

„Ist die Familie adlig?“, fragte Eva.

„Davon stand nichts in der Broschüre, aber ich glaube nicht.“

Eva hörte, wie sich hinter ihr zwei Frauen unterhielten, offenbar Mutter und Tochter. Die Jüngere äußerte die Sorge, mit jemandem auf das Zimmer zu müssen, die sie nicht mochte. Darum hatte sich Eva auch schon Gedanken gemacht, denn immerhin galt es, drei Jahre zusammen auszuhalten. Aber es würde sich schon alles fügen, und Eva hielt sich im Allgemeinen für einen sehr umgänglichen Menschen, der gut mit anderen auskam.

„Ich hoffe, ich gewöhne mich daran, das Zimmer mit jemandem zu teilen“, sagte Paul, der das Gespräch offenbar ebenfalls belauscht hatte. „Noch dazu mit jemand Fremdem. Als Kind war ich immer furchtbar neidisch auf Jungs, die ins Internat durften, aber mittlerweile finde ich die Vorstellung nicht mehr ganz so reizvoll.“

„Es ist sicher eine gute Gelegenheit, Freundschaften zu knüpfen“, antwortete Eva.

„Vorausgesetzt, man versteht sich miteinander.“

„Ich denke, es wird eine wundervolle Zeit.“ Eva legte Inbrunst in die Stimme, als müsste sie sich selbst davon überzeugen. Seit dem Tod von Peter zweifelte sie daran, dass es jemals wieder wundervolle Zeiten geben würde. Andererseits war sie noch so jung, irgendetwas musste doch noch auf sie warten.

Aus dem Augenwinkel bemerkte sie einen weiteren Wagen und sah zum Tor, durch das ein roter Ford auf sie zufuhr. Der Griff ihres Koffers war noch steif und schmerzte beim Tragen. Sie ging die breite Treppe zum Haupteingang hoch und stellte den Koffer ab. Im selben Moment, in dem Paul den Arm zum Gong ausstreckte, wurde die Tür geöffnet, und sie standen einer Frau in Evas Alter gegenüber.

„Guten Morgen, ich bin Mariella Weiß aus dem dritten Jahrgang und heiße euch herzlich willkommen.“ Die Frau trat zurück und öffnete die Tür weit, klemmte einen Keil hinein, damit sie nicht zufiel, und ging hinaus, nachdem Eva und Paul eingetreten waren. Offenbar war es ihre Aufgabe, die Neuankömmlinge zu begrüßen.

„Wahnsinn“, stieß Paul hervor, als sie in der Halle standen. Er wandte den Kopf, hob den Blick zur Stuckdecke, an der ein glitzernder Kronleuchter hing.

Auch Eva war beeindruckt. Die Halle war mit weißgrauem Marmor ausgelegt, und eine schön geschwungene Treppe teilte sich am ersten Absatz in zwei Flügel, die in die Beletage sowie den zweiten Stock führte, wo sich je eine Galerie befand. Die Umgebung erinnerte eher an ein Luxushotel als an eine Schule. Es gab eine breite Kommode, neben einer Zierpflanze stand ein bequem und modern aussehender Sessel und daneben ein Tischchen, auf dem Journale ausgelegt waren. An den Wänden entdeckte Eva gerahmte Bilder, auf denen vor allem junge Frauen zu sehen waren – vermutlich die Absolventinnen der Schule. Sie trat näher und betrachtete die Frauen in den Kleidern der Nachkriegszeit, in den schwingenden Röcken der Fünfzigerjahre, in der Mode der Sechziger, dann die ersten Bilder, auf denen auch männliche Absolventen zu sehen waren. Früher einmal hatte es eine einheitliche Uniform gegeben, Eva hatte das bereits in der Broschüre gelesen. Glücklicherweise musste man so etwas heute nicht mehr tragen, dieser Brauch war Mitte der Sechzigerjahre abgeschafft worden.

„Sieh mal, diese Journalistin hier kenne ich sogar“, sagte Paul und zeigte auf das Bild einer jungen Frau, die offenbar vor zwanzig Jahren mal einen Kurzgeschichtenwettbewerb gewonnen hatte. „Sie schreibt für eine große Zeitschrift und hat einmal einen Artikel über unseren Familienbetrieb geschrieben.“

Eva betrachtete die blonde Frau, die mit schüchternem Lächeln in die Kamera blickte. „Einige Absolventinnen haben es wirklich zu etwas gebracht.“

„Hast du schon konkrete Pläne für die Zeit nach dem Abschluss hier?“

„Nein, nicht so richtig. Ich koche gern und kann mir vorstellen, in die Gastronomie zu gehen, aber was ich letzten Endes mache, wenn ich fertig bin, entscheide ich, wenn es so weit ist.“

Paul nickte. „Eine schöne Vorstellung zu wissen, dass einem noch alle möglichen Wege offenstehen.“

„Ist es bei dir nicht auch so? Du weißt zwar schon, wo es dich beruflich hin verschlägt, aber das Leben bietet doch noch so viel mehr.“

Jetzt flog ein Lächeln über seine Züge. „Sehr weise. Und du hast natürlich recht.“

Eva sah sich um und bemerkte eine junge rothaarige Frau, die gerade zur Tür hineinkam, eine schicke Reisetasche trug und so sorgfältig gekleidet war, als sei sie einem Modemagazin entsprungen. Sie stellte den Koffer ab, schob die Sonnenbrille ins Haar und lächelte, als wollte sie sagen: „Hier bin ich.“

 

Annemarie Moll stellte ihren Koffer ab und schob die Sonnenbrille hoch ins Haar. Sie hätte früher losfahren sollen, sie hasste es, als Letzte alle Blicke auf sich zu ziehen. Um ihre Unsicherheit zu überspielen, schenkte sie den Anwesenden ein offenes Lächeln und strich sich eine Strähne ihres welligen, schulterlangen Haars hinter das Ohr. Neben der Treppe standen zwei Frauen und unterhielten sich, vielleicht Schwestern oder Freundinnen, so recht war das nicht zu unterscheiden.

Etwas weiter entfernt entdeckte sie einen jungen Mann, der offensichtlich allein gekommen war und ein wenig verloren wirkte. Das blonde Haar hatte er adrett zurückgekämmt, gekleidet war er in helle Chinos und ein dunkelgraues Hemd. Er stand direkt im Licht, das durch das Buntglasfenster in die Halle fiel, als wollte es seine schlichte Kleidung mit Farbtupfern aufpeppen. Ein Paar mittleren Alters unterhielt sich miteinander, während eine junge Frau daneben stand und sich neugierig umschaute, Annemarie ein schüchternes Lächeln schenkte, das diese erwiderte, und den Blick weiterschweifen ließ. Ein junger Mann stand etwas linkisch neben einer Frau, die auf ihn einsprach und den autoritären Eindruck der älteren Schwester machte.

Vor einem der Bilder an der Wand standen ein Mann und eine Frau, die sich offenkundig kannten. Ein Paar? Oder nur Freunde? Oder gar Verwandte? Die Frau mit dem langen goldbraunen Haar erwiderte Annemaries Blick, deutete ein Lächeln an und wandte sich dann wieder dem Mann zu, mit dem sie eine angeregte Unterhaltung führte. Eine junge Frau stand nahe der schön geschwungenen Treppe offenbar neben ihrer Mutter, denn diese redete eifrig auf sie ein, während die Jüngere mit ergebener und leicht genervter Miene nickte.

Offenbar war Annemarie nicht die Letzte, denn gerade kam noch ein junger Mann in Begleitung eines älteren Paars herein – vermutlich seinen Eltern. Er verabschiedete sich an der Tür von ihnen.

„Danke, ihr seht ja jetzt, dass ich angekommen bin.“

„Aber die anderen stehen hier ja auch mit ihren Familien“, widersprach die Mutter.

„Hannelore, lass ihn doch“, wandte der Vater ein.

Annemaries Blick begegnete dem des jungen Mannes, der daraufhin die Augen verdrehte. Sie musste lächeln. Ihre Eltern hatten sie auch begleiten wollen, was Annemarie strikt abgelehnt hatte, schließlich war sie kein kleines Kind mehr.

Die Mutter gab es nach kurzem Diskutieren auf, verabschiedete sich von ihrem Sohn – glücklicherweise ohne peinliche Überschwänglichkeit – und verließ das Haus. Der junge Mann strich sich mit einer linkischen Geste durch das Haar und lächelte Annemarie erneut an, zuckte mit den Schultern, und sie musste lachen. Sie kannte das ja so gut. Dann hob er seinen Koffer hoch und ging durch die Halle, sah sich um. Bisher wirkten alle hier sehr nett.

Die Tür wurde geschlossen, offenbar waren nun alle anwesend. Mariella Weiß, die sie willkommen geheißen hatte, durchquerte die Halle und trat auf eine junge Frau zu, die hinter einem Tisch saß und eine Liste vor sich liegen hatte, sowie mehrere Broschüren und einen Stapel Zettel. Die beiden begannen in gedämpftem Ton eine Unterhaltung, und da Annemarie nicht beim unhöflichen Starren erwischt werden wollte, wandte sie sich ab und sah zur Treppe, die schön geschwungen zwei Etagen nach oben führte, jede mit einer Galerie.

Ihre Aufmerksamkeit wurde von einer Frau mittleren Alters gefesselt, die die Treppe hinunterkam, schick gekleidet in ein Kostüm, das kinnlange blonde Haar modern zu einem Pagenkopf frisiert. Begleitet wurde sie von einer dunkelhaarigen Frau in einer hellen Hose mit taubenblauer Seidenbluse, das Haar zu einem lockeren Knoten aufgesteckt. Die beiden machten einen überaus sympathischen Eindruck. Sie blieben auf dem ersten Treppenabsatz stehen, und das Stimmengemurmel verstummte.

„Einen wunderschönen guten Morgen“, begrüßte die blonde Frau sie. „Mein Name ist Inga Heinthal, ich leite die Schule zusammen mit unserer Direktorin Frau Anita Hesse. Da ich weiß, wie ermüdend lange Ansprachen sind, und jeder, den es interessiert, die Geschichte unserer Schule in der Broschüre nachlesen kann, will ich sie damit gar nicht langweilen. Stattdessen möchte Sie hiermit willkommen heißen und hoffe, Sie verbringen eine schöne und lehrreiche Zeit in unserem Haus.“

Die Umstehenden applaudierten.

„An dem Tisch zu Ihrer Rechten können Sie sich gleich bei Fräulein Baumgartner melden. Dort wird man Sie auch mit Informationen versorgen, und Sie bekommen Ihre Zimmernummern mitgeteilt. Danach haben Sie eine Stunde Zeit, sich in Ihren Räumlichkeiten einzurichten, ehe Sie um zehn Uhr hier erscheinen und von Fräulein Weiß eine Einweisung und Führung durch die Schule erhalten. Sie können sich jetzt in aller Ruhe von Ihrer Familie oder Ihren Freunden verabschieden.“

Annemarie, sowie diejenigen, die ohne Begleitung gekommen waren, machten sich direkt auf den Weg zu dem Tisch, hinter dem die junge Frau aufblickte.

„Annemarie Moll“, stellte Annemarie sich vor.

Fräulein Baumgartner, die sich umgehend als Anja vorstellte – „Wir sind doch alle fast im selben Alter“ – sah auf die Liste, hakte den Namen ab und reichte Annemarie eine Broschüre, einen Zettel mit der Hausordnung und einen weiteren mit dem Tagesablauf. „Das ist dein Stundenplan“, erklärte sie. „Die Zimmernummer habe ich darauf notiert. Die Frauenquartiere sind im vorderen Teil des Korridors. Mariella wird euch nachher in den Trakt mit den Schlafräumen bringen. Hier verläuft man sich zu Beginn noch leicht.“

Annemarie bedankte sich und machte Platz für die Frau hinter ihr, die sich als Eva Wyland vorstellte. Der Mann hinter ihr hieß Paul Thiemann, und sie tauschten sich umgehend darüber aus, wer in welches Zimmer kam. „Nummer fünf“, sagte die junge Frau, und Annemarie blickte auf.

„Dann teilen wir uns ein Zimmer“, sagte sie, und die Frau sah sie an. „Annemarie Moll“, stellte sie sich vor.

„Eva Wyland.“

„Paul Thiemann.“ Der Mann reichte ihr ebenfalls die Hand.

„Wenn wir hier schon in der Vorstellungsrunde sind“, sagte ein anderer, der gerade seine Unterlagen abgeholt hatte, „mein Name ist Martin Brandis.“ Er war es, der seine Eltern an der Tür fortgeschickt hatte.

Der blonde Mann, dessen Auftreten Annemarie als etwas linkisch empfunden hatte, trat ebenfalls hinzu und stellte sich als Stephan Schultz vor. Eine Frau mit blondem Pagenkopf kam etwas schüchtern zu ihnen. „Melanie Voss.“

Mit Sabine Walther und Chris Dorfmann – „Erspart mir bitte die Witze, die kenne ich seit meiner Kindheit“ – waren sie komplett. Chris und Paul teilten sich ein Zimmer, wie sich herausstellte, und Paul erklärte – vermutlich nicht zum ersten Mal –, dass er einer der Thiemanns war.

Mariella Weiß kam zu ihnen. „Ich führe euch zu den Zimmern“, erklärte sie munter. „In einer Stunde sehen wir uns dann in der Halle. Seid bitte pünktlich, da legen sie hier viel Wert drauf.“ Sie ging ihnen voraus und öffnete eine Tür, die in einen Korridor führte. „Das ist der ehemalige Dienstbotentrakt. Am Ende liegen die Küchen, die zeige ich Ihnen nachher.“ Es ging eine Treppe hoch in das zweite Obergeschoss, wo Mariella Weiß eine Tür öffnete. „Die Zimmernummern stehen an den Türen. Die Räume fünf und sechs sind die für den neuen Jahrgang. Der Waschraum befindet sich auf der linken Seite am Ende des Flurs. Die Herren folgen mir bitte.“ Sie ging mit den vier jungen Männern weiter, während Annemarie die Tür zu ihrem Zimmer öffnete.

Sie ging direkt zu dem Bett auf der linken Seite, das weiter von der Tür entfernt stand, während Eva sich ohne viel Aufhebens auf dem anderen Bett niederließ. „Nett ist es hier“, sagte diese und sah sich um.

Das musste Annemarie bestätigen. Der Raum war in den Farben Creme und Taubenblau eingerichtet, die Möbel waren aus Eichenholz. Es gab zwei Kleiderschränke, und als Annemarie einen öffnete, sah sie, wie praktisch dieser aufgeteilt war mit Kleiderstange, Regalfächern und zwei breiten Schubladen. Außerdem gab es einen Schreibtisch an der rechten Wand, und jedes Bett hatte ein Nachttischchen. In der Ecke zwischen linker Wand und Fensterseite stand ein gemütlicher Sessel mit Leselampe.

„Ich glaube, hier werde ich mich wohlfühlen“, sagte Annemarie.

Inga Heinthal ließ sich im Direktorinnenzimmer in der Beletage auf einen der beiden Besuchersessel sinken, während Anita auf dem anderen Platz nahm, ein Bein über das andere schlug und sich eine Zigarette anzündete. Sie hatte vor Kurzem wieder angefangen zu rauchen, nachdem sie jahrelang pausiert hatte – genau genommen ab dem Moment, an dem sie entschieden hatte, Kinder zu bekommen. Jetzt war ihr Sohn sieben Jahre alt, die Tochter fünf, und Anita vermied es tunlichst, in ihrer Gegenwart eine Zigarette anzustecken.

„Sie müssen sich das ja nicht unbedingt zum Vorbild nehmen“, hatte sie erklärt.

Lena Heinrichs hatte die Schule verlassen und war der Liebe wegen nach Hamburg gezogen. Hanne Mohnschau war in den Ruhestand getreten, dafür war nun Petra Weißhaupt als Konditorin eingestellt worden. Volker Brandis, der Bäcker, hatte geheiratet und wohnte mit seiner Ehefrau in der Nähe. Er kam jeden Morgen zum Unterricht und fuhr nachmittags wieder nach Hause. Anita und Arno wohnten ebenfalls in einer eigenen Wohnung und kamen morgens zur Arbeit. Mittags musste einer von ihnen fahren, um die Kinder aus dem Hort und der Schule zu holen, beides in der Nähe. Schwierig würde es erst werden, wenn der Ältere, Andreas, aufs Gymnasium ging. Aber bis dahin war er alt genug, um die Strecke allein mit dem Bus zu bewältigen.

Jetzt gab es in dem Haus so viele leere Räume, und aus einem hatten sie ein Lernzimmer für die Kinder gemacht, aus dem anderen ein Spielzimmer. Eines der früheren Schlafzimmer sowie die beiden ehemaligen Aufenthaltsräume waren für Gäste. Und ein weiteres Zimmer blieb frei, falls Inga doch noch ein weiteres Kind bekommen sollte. Das fünfte war zu einem Arbeitszimmer für ihren Ehemann Josh geworden, und das ehemalige Büro ihrer Mutter im Erdgeschoss – vor zwanzig Jahren ein zweites privates Speisezimmer – war nun Ingas Büro. Es gab nach wie vor eine Haushälterin, aber die kam morgens und ging am späten Nachmittag. Darüber hinaus hielten zwei Zugehfrauen das Haus sauber.

Neben Arno und Volker Brandis gab es eine weitere Lehrköchin. Inga hatte, nachdem ihre Mutter ihr die Schulleitung übertragen hatte, das gesamte Lernsystem umgestellt. Ab dem zweiten Schuljahr lernten die Auszubildenden stundenweise direkt in Gastronomieunternehmen. Auch war es nicht mehr so, dass eine Lehrkraft die Auszubildenden drei Jahre lang betreute, sondern die neue Lehrerin, Sandra Weitzmann, übernahm das erste Jahr, das zweite Jahr unterrichtete Arno, und Anita begleitete den dritten Jahrgang. Sie hatte nach der Geburt ihres ersten Kindes die Meisterprüfung abgelegt.

Es klopfte, und Sandra trat ein. Sie war nun seit zwei Jahren Lehrerin hier, ausgebildete Köchin, die sich mit Mitte zwanzig für den Schuldienst entschieden hatte. Da sie kaum älter war als ihre Auszubildenden, fassten diese zu ihr oft sehr schnell ein besonderes Vertrauen. Sie wedelte leicht mit der Hand, wie sie das immer tat, wenn sie in einen Raum trat, in dem geraucht wurde. „Soll ich die Kinder nachher abholen? Ich muss ohnehin kurz in den Ort.“

„Das wäre lieb“, sagte Anita, „dann muss Arno nicht fahren.“

Sandra lehnte mit dem Rücken an dem Schreibtisch. „Habt ihr den jungen Thiemann gesehen?“

„Ja“, antwortete Anita, „macht einen charmanten Eindruck. Er war mit seinen Eltern hier zum persönlichen Gespräch nach der Zusage.“

Auch das war eine Neuerung, die Inga eingeführt hatte. Sie wollte ihre Auszubildenden kennenlernen, ehe das Schuljahr begann. Ihre Mutter, Edith Waltz, hatte sich stets allen neuen Ideen verschlossen und auf das Altbewährte gesetzt, erst nachdem sie sich aus der Schule zurückgezogen und die Leitung Inga übergeben hatte, wehte hier ein anderer Wind. Ihre Mutter lebte in Hamburg, meldete sich hin und wieder, fragte aber nur selten nach dem Schulbetrieb. Nachdem Inga einen Fonds eingerichtet hatte, in den ein Teil des monatlichen Schulgelds floss, den sie an Opfer des Nationalsozialismus spendete, hatte ihre Mutter eingewandt, dass sie niemandem etwas schuldig sei. Inga sah das anders. Ja, sie selbst trug keine direkte Schuld, aber ihre Familie hatte sich schuldig gemacht, und da sie die Vergangenheit nun einmal nicht ändern konnte, wollte sie zumindest dafür sorgen, dass in Zukunft die Dinge anders gehandhabt wurden.

Frank Roesner hatte ihr damals die Augen über ihre Familie geöffnet, ein Mann halbjüdischer Abstammung, dessen Familie ihre Mutter übel mitgespielt hatte. Edith Waltz war schuld daran, dass seine jüdische Familie deportiert und ermordet worden war, sodass nur er und sein Vater überlebt hatten. Er lebte nun in Köln, wo er eine Apotheke betrieb. Verheiratet war er mit einer ehemaligen Schülerin, die nach ihrem Abschluss eine Ausbildung zur PTA gemacht hatte und mit ihrem Mann zusammen in der Apotheke arbeitete. Hin und wieder tranken sie einen Kaffee zusammen, wenn Inga in Köln war. Die beiden hatten vierjährige Zwillinge – Mädchen und Junge – sowie eine weitere Tochter, die kurz darauf geboren war.

„Ich habe letztens übrigens Roesners getroffen“, sagte Anita in diesem Moment.

„Interessant, dass du das gerade jetzt erwähnst, ich musste eben an sie denken.“

„Wir wissen ja schon länger, dass wir uns ohne Worte verstehen.“ Anita drückte die Zigarette aus. „Margarethe erzählte, ihr Bruder würde mit seiner Frau nach Köln ziehen, sodass sie sich bei der Betreuung der Kinder gegenseitig unterstützen könnten. Sie wollen sich das wohl aufteilen.“

Inga sah auf die Uhr. „Gleich beginnt die Führung durch das Haus. Schließt sich jemand von euch an?“

Sandra zuckte mit den Schultern. „Geplant ist es nicht, aber ich kann es machen, wenn du möchtest.“

Kurz überlegte Inga. „Nein, dann lass nur. Es reicht, wenn sie dich gleich kennenlernen. Empfang sie ruhig, wenn sie in die Küche kommen.“

Im zweiten Stock hatte sich nichts verändert, hier befanden sich die Unterrichtsräume und außerdem ein Aufenthaltsraum für die Auszubildenden. Den Küchentrakt hatte Inga vor zwei Jahren von Grund auf modernisieren lassen, vor allem die Hauptküche, die nun über die neuesten Geräte verfügte. Die kalte Küche sowie die Kaffeeküche waren ebenfalls in Teilen renoviert worden.

Inga verließ das Büro, um mit Mariella Weiß auf die Auszubildenden zu warten. Sie nahm zwar an dem Rundgang nicht teil, aber sie zeigte dennoch gern Präsenz. Die Schule auch für junge Männer zu öffnen war die richtige Entscheidung gewesen, es brachte eine neue Dynamik in die teils etwas festgefahrenen Strukturen. Als sie die Treppe hinunterging, sah sie bereits die ersten beiden Frauen in der Halle eintreffen.

Eva war stets überpünktlich, genauso wie offenbar Annemarie, denn sie verließen das Zimmer zeitgleich. Und auch sonst hatten sie bereits in den ersten Minuten einige Gemeinsamkeiten gefunden. Beide kamen gebürtig aus Hennef, und sie hatten festgestellt, dass sie sogar gemeinsame Bekannte hatten. Besser hätte der Start wohl kaum laufen können, und Eva blickte zum ersten Mal seit Langem wieder positiv gestimmt in die Zukunft. Während sie die Treppe hinunterging, sah sie sich die Bilder an, die am Aufgang hingen, Aufnahmen von Köln im Wandel der Jahreszeiten. Die Wände waren cremeweiß gestrichen, und es wurde viel dafür getan, den einstmals wohl eher tristen Dienstbotenbereich stimmungsvoll und ansprechend zu gestalten.

Im Korridor waren Stimmen zu hören sowie jene typischen Geräusche, die beim Hantieren in der Küche entstanden. Jemand sagte etwas, und die anderen lachten. Der Duft würzig gekochter Speisen erinnerte Eva daran, wie hungrig sie eigentlich war, zum Glück knurrte ihr Magen nicht lautstark. Morgens hatte sie nur eine Scheibe Toast herunterbekommen, weil sie so aufgeregt gewesen war auf diesen neuen Lebensabschnitt. Mittagessen gab es um halb eins, das war ja nicht mehr ganz so lange hin.

Sie betraten die Halle, wo Mariella Weiß zusammen mit Frau Heinthal stand. Beide unterbrachen ihr Gespräch, als sie Eva und Annemarie bemerkten, und Frau Heinthal lächelte herzlich.

„Konnten Sie sich schon ein bisschen wohnlich einrichten?“

„Ja“, antwortete Annemarie. „Es ist wirklich sehr hübsch.“

„Das freut mich.“ Ehe Eva etwas sagen konnte, kamen Paul, Martin und Melanie in die Halle. „Dann sind wir ja fast vollständig“, sagte Inga Heinthal.

Kurz darauf erschienen Stephan, Sabine und Chris, und nachdem Inga Heinthal noch einige warmherzige Worte zur Begrüßung der Nachzügler gesprochen hatte, verabschiedete sie sich und überließ es Mariella Weiß, sie durch das imposante Haus zu führen. Sie erkundeten die modern eingerichteten Klassenräume, erfuhren, dass jede Etage über die ehemalige Dienstbotentreppe erreichbar war und die Auszubildenden ausschließlich diese benutzen durften.

Von der Treppe, die hoch in die Schlafquartiere führte, ging in jeder Etage eine Tür in den Korridor, wobei sich im ersten Stock die Wohnräume von Inga Heinthal befanden und von den Auszubildenden nur im Notfall betreten werden durften. Im Erdgeschoss durchquerten sie die imposante Halle, und Mariella Weiß zeigte ihnen den Salon, der für Feierlichkeiten genutzt wurde, und die Bibliothek, in der sie darum bat, Bücher, die man mit aufs Zimmer nahm, in die Liste neben der Tür einzutragen.

„Wirklich sehr nett hier“, bemerkte Paul, als sie in der Bibliothek standen.

Das war der Raum in der Tat. Eva hatte noch nie in einem Haus mit eigener Bibliothek gewohnt, aber so hatte sie sich das immer vorgestellt – dieser Duft nach Leder, Holz und Papier. Es gab eine Leseecke mit ledernen Clubsesseln sowie einen großen Kamin, der aber vermutlich nicht mehr genutzt wurde. Der Raum war mit einer modernen Heizung ausgestattet, und die Brandgefahr wäre vermutlich zu groß.

Weiter ging es in die Küchen. Auf dem Weg dorthin zeigte Mariella Weiß ihnen den Speisesaal, der durch eine große Doppelflügeltür mit dem Salon verbunden war. „Bei Feiern wird die Tür geöffnet, so hat man mehr Platz“, erklärte die junge Frau.

Die Hauptküche war ein großzügig angelegter Raum mit modernster Ausstattung. „Hier kochen gerade die Auszubildenden des dritten Jahrgangs“, erklärte Mariella Weiß. „Unter Anleitung von Anita Hesse, unserer Direktorin.“

Frau Hesse hatten sie bereits bei der Begrüßung gesehen, eine attraktive Dunkelhaarige. Sie trug nun eine weiße Schürze und eine Kochmütze. Es duftete wunderbar in der Küche nach Geschmortem, und Eva bemerkte, wie sie allmählich Hunger bekam. Mariella wechselte ein paar Scherzworte mit einem der jungen Männer, dann gingen sie weiter in die angrenzende kalte Küche, wo leicht verderbliche Nahrungsmittel wie Fleisch verarbeitet wurden. Daran grenzte die Kaffeeküche. Hier wurden viele der Süßspeisen zubereitet, und jetzt gerade waren die Auszubildenden dabei, Creme anzurühren.

„Herr Hesse ist Lehrkoch des zweiten Jahrgangs“, erklärte Mariella Weiß und deutete auf einen Mann, den Eva auf Mitte oder Ende vierzig schätzte. „Wie Sie am Namen vermutlich bereits erahnt haben, ist er der Ehemann unserer Frau Direktorin.“ Herr Hesse lächelte freundlich, und Eva konnte sich gut vorstellen, wie anziehend er früher auf seine Schülerinnen gewirkt haben musste.

„Ihre Lehrköchin für das erste Jahr stelle ich Ihnen nach dem Mittagessen vor. Außerdem gibt es noch den Bäcker Volker Brandis und eine Konditorin, Frau Weißhaupt, die aber diese Woche krankgemeldet ist.“

Mariella Weiß führte sie aus der Küche hinaus in die Eingangshalle. „Die Hausregeln habt ihr ja erhalten. Eure Freizeit könnt ihr nach Belieben gestalten. Wir schließen in der Woche abends um zehn Uhr die Tür ab, und es wäre gut, wenn ihr bis dahin auch wieder zurück seid, schließlich geht der Unterricht morgens früh los. Sollte aber doch mal der Fall eintreten, dass jemand länger unterwegs sein möchte, sprecht es bitte ab, damit euch jemand einlässt. Am Wochenende wird in der Regel um elf Uhr abgeschlossen. Wenn ihr außerhalb übernachtet, sagt bitte Bescheid, damit sich hier im Haus niemand Sorgen macht. Das gilt natürlich nur für die Auszubildenden, die das Wochenende über hierbleiben.“ Die junge Frau sah auf ihre Uhr. „Ihr habt jetzt bis zum Mittagessen um halb eins Zeit zur eigenen Verfügung. Der Gong wird fünf vor halb geschlagen, und da hier großer Wert auf Pünktlichkeit gelegt wird, wird erwartet, dass ihr euch dann auch hier einfindet. Jeder sollte an seinem Platz sitzen, bevor die Türen geschlossen werden. Es muss zwar keiner hungern, der zu spät kommt, aber einen guten Eindruck macht das nicht. Dann sehen wir uns später. Und wenn ihr Fragen habt, könnt ihr jederzeit mich oder die anderen Auszubildenden ansprechen. Außerdem sind Frau Heinthal oder Frau Hesse immer für euch da.“

Eva sah sich in der Halle um, in die Mariella Weiß sie geführt hatte. Die Treppe ins Obergeschoss machte wirklich was her und vermittelte einen Eindruck davon, wie die Menschen hier früher residiert haben mussten.

„Hat jemand Lust, spazieren zu gehen?“, fragte Paul. „Ich möchte mir mal die Gegend anschauen.“

„Ich komme gern mit“, antwortete Eva. Sabine schloss sich ihnen an, Chris und Annemarie wollten lieber im Garten sitzen, während Stephan, Martin und Melanie die Bibliothek aufsuchten. Sie verabschiedeten sich voneinander, und Eva verließ zusammen mit Paul und Sabine das Haus.

Die Schule lag wirklich schön, eingebettet inmitten der Natur, und mit dem Auto war man trotzdem in einer guten halbe Stunde in der Kölner Innenstadt.

„Mit dir haben wir ja praktisch eine Berühmtheit unter uns“, scherzte Sabine.

Paul lächelte schief. „Wie man es nimmt. Berühmt sind wohl eher meine Eltern.“

Sabines Lächeln hatte etwas Flirtendes, bemerkte Eva. Da konnte jemand es wohl kaum erwarten, mit einem der jungen Männer anzubandeln. Aber wenn es ihr Spaß machte, warum nicht? Unvermittelt dachte sie an sich und Peter, darüber, wie schön es zu Beginn gewesen war, diese frische Verliebtheit. Rasch schob sie diesen Gedanken beiseite, wollte nicht zulassen, dass sie wieder in solche Fahrwasser geriet. Sie wagte einen Neuanfang und wollte nun an nichts anderes mehr denken als daran, wie schön es war, bei herrlichem Sommerwetter mit zwei sympathischen Menschen spazieren zu gehen.

Schon bald drehte sich das Gespräch um das Restaurantgewerbe. Sabines Verwandte waren ebenfalls in der Gastronomie tätig, und so entspann sich eine angeregte Unterhaltung zwischen ihr und Paul, der Eva interessiert lauschte.

Als sie nach einem ausgedehnten Spaziergang das Haus betraten, wurde gerade der Mittagsgong angeschlagen.


Kapitel 2

Eva hatte es eigentlich gar nicht an die große Glocke hängen wollen, dass sie bereits verheiratet gewesen war. Aber es kam dann doch heraus, weil sie nicht als Fräulein, sondern als Frau Wyland angesprochen wurde. Dass sie verwitwet war, entlockte den anderen mitfühlende Blicke, und genau die hatte sie vermeiden wollen. Niemand sollte sie bemitleiden oder gar denken, man müsse sie mit Samthandschuhen anfassen.

„Ich komme damit zurecht“, sagte sie deshalb direkt, als das Thema beim Nachmittagskaffee zur Sprache kam. „Das hier wird mein Neuanfang.“

„Ich möchte mir die Anrede als Fräulein auch verbitten“, sagte Sabine.

„Na ja, du bist halt unverheiratet“, entgegnete Chris und nahm sich noch ein Stück Kuchen.

„Du auch, und ich nenne dich trotzdem nicht Herrlein“, konterte Sabine.

Das brachte die anderen am Tisch zum Lachen. Chris krauste die Stirn, sagte jedoch nichts mehr.

„Dann hast du ja schon einen Haushalt geführt“, nahm Annemarie das Thema wieder auf.

„Kochen kannst du dann vermutlich schon“, fügte Stephan hinzu.

„Man kann ja nicht gleich gut kochen, nur weil man verheiratet war“, entgegnete Sabine. „Meine Mutter feiert bald Silberhochzeit, und sie kocht immer noch schauderhaft.“

Nachdem sie am Vortag in Ruhe hatten ankommen dürfen, ging es heute bereits mit dem Unterricht los, was Eva sehr gefiel. Die grundlegenden Dinge beherrschte sie zwar bereits, aber es noch einmal von professionellen Köchen gezeigt zu bekommen, war doch etwas völlig anderes. In ihrer eigenen Küche damals hatte sie einen modernen Elektroherd gehabt, aber von ihrem Elternhaus aus war ihr das Kochen mit dem Gasherd vertraut, und so fand sie sich schnell ein. Eigentlich kochte sie sogar lieber mit Gas, weil sich die Temperatur feiner regulieren ließ, aber sie hatten damals alles so modern wie möglich gewollt.

„Ich koche ganz gut, aber natürlich nicht auf dem Niveau, wie es hier unterrichtet wird.“

„Wenn man das einfach so könnte, bräuchte auch niemand mehr ins Restaurant zu gehen“, antwortete Paul. „Kommt sonst noch jemand von euch familiär aus der Gastronomie?“

„Meine Tante hat einen Betrieb“, sagte Melanie. „Da habe ich als Schülerin hin und wieder ausgeholfen und irgendwann beschlossen, dass ich in dem Bereich gern selbst arbeiten würde.“

„Mit deiner Tante zusammen?“, fragte Paul.

„Nein, ich möchte lieber wegziehen. Mich reizt es, mal was Neues kennenzulernen. Vielleicht Hamburg oder Berlin.“

„Das wäre mir zu groß“, antwortete Annemarie. „Ich möchte in der Region bleiben, in der Nähe meiner Familie.“

„Das wird eine Umstellung“, räumte Melanie ein, „aber es ist mein sehnlichster Wunsch, und es gibt ja Züge, mit denen ich schnell zu Hause bin. Außerdem möchte ich mir ein Auto zulegen.“

„Ich habe schon eine Stelle in Aussicht“, erklärte Chris. „Ein Freund meiner Eltern betreibt ein Hotel im Allgäu, dort kann ich in die Gastronomie.“

„Direkt als Küchenchef?“, scherzte Stephan.

„Schön wär’s.“

Martin, der bisher geschwiegen hatte, sagte: „Mein Großvater hatte mal eine kleine Wirtschaft, aber die gibt es seit Jahren nicht mehr. Ich denke, mich zieht es auch eher hinaus in die Welt. Die Schweiz reizt mich besonders.“

„In der Schweiz waren wir jedes Jahr, meist in der Gegend um Montreux“, entgegnete Annemarie.

»Alors je suis sûr que tu parles couramment le français«, sagte Paul.

»Mais bien sûr«, antwortete Annemarie.

Eva fühlte sich an die Zeit in der Schule erinnert, wenn sie bei Ausflügen gemeinsam am Tisch saßen und scherzten. Noch vor Kurzem hätte sie nicht geglaubt, sich wieder so wohlzufühlen. Das kurze Stimmungstief bei der Erwähnung ihres Witwenstatus war verflogen, und sie war wieder gut gelaunt. Bisher ließ es sich für sie alles bestens an, sie mochte die anderen Auszubildenden und war glücklich darüber, mit Annemarie das Zimmer zu teilen.

Die Kaffeestunde um drei rundete den Schulalltag ab. Hier saßen sie noch einmal alle zusammen, ehe sie frei hatten. Früher einmal, so hatte sie in der Broschüre gelesen, hatte es danach Fächer gegeben wie Handarbeiten und Säuglingspflege, aber die Zeiten waren glücklicherweise vorbei. Mittlerweile teilte sich der Schulalltag in theoretische Unterrichtsfächer in den Klassenräumen und Praxis in der Küche. Zudem lernten sie Buchhaltung und Wirtschaft, was Eva zwar nicht besonders interessierte, doch sie wusste natürlich, dass dieses Dinge äußerst wichtig waren, wenn man einen Betrieb führen wollte.

„Hast du heute noch etwas vor?“, fragte Paul, als sie nach der Kaffeestunde den Speisesaal verließen.

„Nichts Konkretes.“

„Gehen wir spazieren? Wir waren ja den ganzen Tag noch nicht draußen.“

Da es im Gegensatz zum Vortag eher trüb und etwas regnerisch war, wäre Eva gar nicht auf diese Idee gekommen, aber sie willigte dennoch ein.

Die Pflastersteine auf dem Hof glänzten nass, als sie nach draußen traten. Immerhin regnete es nicht mehr, und die Wolken rissen auf und ließen einen blassblauen Himmel zwischen den Fetzen hervorblitzen. Kühl war es nicht, daher verzichtete Eva auf eine Strickjacke.

Sie spazierten über den Hof, wichen den Pfützen aus und gingen durch das Tor auf die Landstraße. Seitlich zweigte ein Fußweg ab, den sie jedoch mieden, weil er zu matschig war für Evas Schuhe. Sie hätte besser ihre Gummistiefel angezogen, aber jetzt wollte sie auch nicht mehr zurück. Sie entschieden sich dafür, entlang der Straße spazieren zu gehen, hielten sich dabei links, um Autos frühzeitig bemerken zu können.

„Es tut mir leid, wenn die Fragen nach deinem Familienstand vorhin am Tisch dir zu nahe gegangen sind“, sagte Paul.

Eva hob in einer knappen Geste die Schultern. „Es war klar, dass die Fragen kommen würden, und es ist auch nicht schlimm, ich kann damit umgehen.“

„Aber es macht dich immer noch traurig.“

„Ja, und so wird es vermutlich noch eine ganze Weile bleiben.“ Um das erneute Aufkommen betroffenen Schweigens zu vermeiden, fuhr sie rasch fort: „Aber mir geht es gut. Das hier ist genau das, was ich gebraucht habe. Meine Eltern hat fast der Schlag getroffen, als ich mit achtzehn gesagt habe, ich möchte heiraten. Ich meine, das war 1968, überall sprach man von freier Liebe.“

Paul grinste. „Ja, das fand ich auch sehr aufregend damals.“

„Meine Eltern sind nicht besonders konservativ, und ich glaube, sie hätten es gut gefunden, wenn ich noch etwas gewartet und das Leben einfach genossen hätte.“

„Ich schätze, bei mir wären sie nicht abgeneigt, wenn ich früh heirate, am besten eine Frau, die sich gut in das Familiengeschäft fügt. Aber jünger als Mitte zwanzig sollte ich dabei nicht sein. Sie denken, man bräuchte eine gewisse Reife, um sich zu binden.“

„Da haben sie vermutlich nicht ganz unrecht. Wobei ich mich auch heute noch dafür entscheiden würde, meinen Mann zu heiraten. Manchmal spürt man einfach, wenn es passt.“ Eva atmete den Geruch regenfeuchter Erde ein, in den sich das schwere Aroma von Jasmin mischte. „Wir hatten eine Wohnung in Bonn, da war es schon eine Umstellung, wieder nach Hause zu meinen Eltern zu ziehen und diese Eigenständigkeit aufzugeben.“

„Das kann ich mir gut vorstellen. Waren es dir zu viele Erinnerungen in der Wohnung?“

„Nein … also doch, ja, irgendwie schon, aber das war nicht der Grund für meinen Auszug. Ich konnte die Wohnung schlicht nicht mehr halten. Als ich geheiratet habe, war ich ja gerade zwei Jahre mit der Schule fertig und habe nichts gelernt. Na ja, hauswirtschaften kann ich. Irgendwie war klar, er verdient das Geld, und ich bleibe zu Hause.“

Paul nickte nur.

„Arbeitet deine Mutter?“, fragte Eva.

„Ja, wir sind ein Familienbetrieb, da packt jeder mit an.“

„Das bedeutet, wenn du mal heiratest, dürfte die Frau nicht einfach nur Hausfrau sein?“

„Wenn es nach meinen Eltern geht, nicht. Wenn ich mich in eine Frau verliebe, die genau das sein möchte – na ja, dann soll es eben so sein.“

Sie verfielen in Schweigen, während sie langsam weitergingen. Als sie an einer kleinen Wirtschaft ankamen, um die es nur wenige, verstreute Häuser gab, überlegte Eva kurz, Paul zu fragen, ob sie für eine Limonade einkehren sollten, unterließ es dann jedoch, und so machten sie sich auf den Weg zurück.

Annemarie war es immer schon schwergefallen, sich an Regeln zu halten. Es war ihr großer Wunsch gewesen, hierherzukommen, und nach wie vor stand sie zu dieser Entscheidung – aber der klar strukturierte Tagesablauf machte ihr dennoch zu schaffen. Nach ihrem Schulabschluss hatte sie in den Tag hineingelebt, hatte mehrere Ausbildungen begonnen, wieder abgebrochen, war mit Freundinnen ausgegangen und hatte ihrer Mutter im Haushalt geholfen. Durch ihre Freude am Kochen und Backen war der Wunsch gereift, daraus einen Beruf zu machen. Ihre Eltern drängten schon seit Längerem darauf, dass sie etwas mit ihrem Leben anfing, aber Annemarie sah sich nun mal nicht in einem Büro sitzen oder inmitten einer Kinderschar als Erzieherin.

Normalerweise war es für sie kein Problem, früh aufzustehen, aber jeden Morgen um halb sechs aus dem Bett, das war doch zu viel des Guten. Eva schien damit keine Probleme zu haben und wünschte ihr bereits kurz nach dem Aufstehen überschwänglich einen guten Morgen, während Annemarie kaum mehr tun konnte, als grummelnd mit der Hand nach dem Wecker zu tasten und entnervt draufzuschlagen. Sie war an diesem Tag so spät aufgestanden, dass sie sich beeilen musste, um pünktlich zum Frühstück zu erscheinen. Aber sicher gewöhnte sie sich noch daran, sie war ja gerade erst angekommen.

Nach der Kaffeestunde zog Annemarie sich in die Bibliothek zurück. Es war gar nicht mal so, dass sie gern las, aber sie mochte die Atmosphäre, die hier herrschte. Sie stöberte ein wenig in den Regalen, las sich die Titel durch, konnte sich jedoch nicht so recht entscheiden, weil ihr keines der Bücher zusagte. Sie wollte sich gerade in einen der Clubsessel sinken lassen, als sie dahinter zwei Beine, die in kurzen Hosen steckten, erblickte und einen leisen Schrei des Erschreckens ausstieß. Die Beine bewegten sich, und hinter dem Sessel kam ein Junge zum Vorschein mit verstrubbeltem blonden Haar und Sommersprossen auf der Nase.

„Pst“, machte er. „Meine Eltern dürfen doch nicht wissen, dass ich hier bin.“ Er kam nun vollends zum Vorschein, in einer Hand ein Buch, zwischen dessen Seiten er einen Finger geklemmt hatte. „Die wollen sonst, dass ich Hausaufgaben mache und für eine Mathearbeit lerne, lauter ödes Zeug.“

Annemarie nickte verständnisvoll. „Dabei ist so herrliches Wetter.“

„Ja, aber wenn ich rausgehe, finden sie mich sofort. Und mein Buch ist gerade so spannend.“

„Werden sie dich hier nicht suchen?“

Unmittelbar darauf war eine Frauenstimme zu hören, die „Andreas!“ rief. Schritte näherten sich der Tür, und der Junge legte rasch einen Finger an die Lippen, sah Annemarie verschwörerisch an und verschwand wieder hinter dem Clubsessel. Im nächsten Moment ging die Tür auf, und Anita Hesse betrat die Bibliothek. Ausgerechnet ihr Sohn war es, der sie zu seiner Komplizin machte.

„Entschuldigen Sie bitte, aber haben Sie einen kleinen Jungen gesehen?“

Annemarie zögerte. „Mir ist keiner über den Weg gelaufen“, antwortete sie schließlich.

Anita Hesse bedankte sich und verließ die Bibliothek wieder. Der Junge tauchte hinter dem Sessel auf, kletterte über die Rückenlehne und machte es sich auf der Sitzfläche gemütlich.

„Du hast meine Mutter angelogen.“ Er hatte den Kopf schräggelegt und blinzelte sie an, als seien sie Komplizen.

„Ich habe nicht gelogen, mir ist in der Tat kein kleiner Junge über den Weg gelaufen.“

„Mama nennt das ›die Wahrheit beugen‹.“

„Ich mache das auch nicht noch mal.“

Der Junge zuckte unbekümmert mit den Schultern. „Wie heißt du?“

„Annemarie. Und du bist Andreas, das habe ich bereits gehört.“

„In der Schule nennen mich alle Andi.“

„Ich mache das nicht, ich mag keine Abkürzungen.“

Er fläzte sich auf den Sessel und klappte sein Buch wieder auf. „Holst du mir ein Stück Kuchen aus der Küche?“

„Übertreib es nicht.“

Daraufhin grinste er nur, und sie verließ die Bibliothek. Da sie nichts Rechtes mit sich anzufangen wusste, ging sie die Galerie entlang und sah sich die Fotos an, danach machte sie sich auf den Weg in die Küche, um sich eine Tasse Tee zuzubereiten. Schon im Gang vernahm sie Kinderlachen, und als sie die Kaffeeküche betrat, sah sie Arno Hesse mit zwei Mädchen im Kindergartenalter an der Anrichte stehen, wo sie Teig kneteten. Offenbar war es Annemarie bestimmt, an diesem Tag den gesamten Nachwuchs des Haushaltes zu treffen.

„Entschuldigung, ich möchte nicht stören.“

Herr Hesse lächelte freundlich. „Sie stören nicht.“

„Ich möchte mir nur einen Tee kochen.“

Er nickte und wandte sich wieder den beiden Mädchen zu, die nun recht großzügig Schokoflocken in den Teig schütteten.

„Wir backen Kekse“, erklärte das dunkelhaarige Mädchen, das aussah wie eine Kinderversion von Anita Hesse.

„Das habe ich mit meiner Mutter auch immer gemacht“, antwortete Annemarie.

„Ist sie auch Köchin?“

„Nein, aber sie kann trotzdem hervorragend kochen und backen.“

Die Mädchen widmeten sich wieder ihrem Teig und waren nun mit roten Bäckchen damit beschäftigt, ihn auf einer bemehlten Fläche auszurollen. Wie es wohl war, in so einem großen herrschaftlichen Haus aufzuwachsen? Wobei sie wusste, dass die Hesses hier nicht wohnten und abends nach Hause fuhren. Annemarie mochte zwar so große Häuser, dennoch hätte sie dem gemütlichen Häuschen, in dem sie großgeworden war, jederzeit den Vorzug gegeben.

Sie bereitete sich eine Tasse Tee zu – eine starke Ostfriesenmischung – und ging dann damit auf ihr Zimmer. Eva war offenbar immer noch mit diesem hübschen Kerl spazieren, für den sich auch Sabine interessierte, das war Annemarie schon bei ihrer ersten Begegnung aufgefallen. Kleine Liebschaften hatten durchaus ihren Reiz, aber von den jungen Männern aus ihrem Jahrgang hatte niemand ihr Interesse geweckt, sie waren ihr viel zu jung.

Annemarie setzte sich mit dem Tee an den Schreibtisch und schlug ihr Tagebuch auf. Sie hatte es bisher nur nachlässig geführt, so, wie sie alles mit Elan anfing und dann schnell das Interesse verlor. Aber dieses Mal, das versprach sie sich, würde alles anders werden. Und als wollte sie für sich selbst ein Zeichen setzen, begann sie den ersten Eintrag in ihrem Buch.

„Es ist zum Haareraufen mit ihm“, klagte Anita.

„Hab ein bisschen Nachsicht. Er ist noch klein“, antwortete Inga. „Meine Mutter hat sich vermutlich auch ständig über mich beklagt.“

„Das war etwas anderes. Ich halte mich eigentlich für modern und aufgeklärt, und trotzdem bringt Andreas mich regelmäßig an meine Grenzen.“

Inga musste lachen. „Er ist ein kleiner Junge, der lieber spielt und liest, anstatt seine Hausaufgaben zu machen. So furchtbar ungewöhnlich kann ich das nicht finden. Er ist so ein lieber kleiner Kerl.“

Seufzend steckte sich Anita eine Zigarette an, öffnete das Fenster und atmete den Rauch nach draußen. Sie und Arno fuhren meist erst abends nach Hause, und so waren die Kinder fast den ganzen Tag zusammen. Hier hatten sie mehr Platz als in der Kölner Stadtwohnung, es gab den Garten, den Hof, das große Haus, das es zu erkunden galt. Nur der Zutritt zu den Quartieren der Auszubildenden war ihnen untersagt, um die Privatsphäre der Schülerinnen zu schützen. Ebenso, wie die Auszubildenden nicht durch ihre Wohnung laufen sollten, wollte sie, dass auch sie nicht unangekündigt in deren Bereich eindrangen. In der Regel hielten sich die Kinder daran.

„Wenn ich erfahre, dass er oben war“, sprach Anita Ingas Gedanken laut aus, „dann kann er sich wirklich auf etwas gefasst machen.“

Inga warf einen Blick auf die Uhr. Bald würde Josh heimkommen, das war meist das Zeichen für Anita und Arno, sich mit Andreas und Finja auf den Heimweg zu machen. Dann gab es Abendessen, sie würden ihre Tochter Martha ins Bett bringen und den Tag gemeinsam ausklingen lassen. Sie war in letzter Zeit ständig so müde und hatte sogar kurz gehofft, sie sei in anderen Umständen. Mit Martha war es ihr damals ganz ähnlich ergangen, aber seit diesem Morgen wusste sie, dass ihre Vermutung sich nicht bestätigt hatte. Dabei war es bei Martha so schnell gegangen, sie war umgehend schwanger geworden, sobald sie aufgehört hatten, zu verhüten. Danach hatte sie mehrere Fehlgeburten gehabt, und nun klappte es überhaupt nicht mehr.

Die Tür wurde geöffnet, und Arno kam herein, gefolgt von den beiden Mädchen, die jede einen Teller balancierte, Martha mit roten Bäckchen, während Finja konzentriert die Stirn krauste und vorsichtig einen Schritt vor den anderen setzte, damit nur nichts zu Boden fiel. Anita stand auf und schien im Begriff, auf die Kinder zuzugehen, um ihnen die Teller abzunehmen, überließ es ihnen dann jedoch, ihre Werke selbst auf dem kleinen Besuchertisch zu platzieren.

„Die haben wir selbst gebacken“, erklärte Martha.

„Papa hat nur ein ganz bisschen geholfen“, fügte Finja hinzu.

„Aber wirklich nur ein bisschen“, bestätigte Arno ernsthaft. „Möchten die Damen Tee und Limonade? Beides gerade frisch zubereitet.“

„Ja!“, riefen die beiden Mädchen zeitgleich.

„Einen Tee hätte ich gern“, sagte Anita.

Inga schloss sich an, und Arno verließ das Arbeitszimmer, um das Gewünschte zu holen.

„Wo ist Andreas?“, fragte Finja und setzte sich in einen der bequemen Clubsessel.

„Wenn ich das wüsste“, antwortete Anita.

„Bleibt er hier?“

„Ganz sicher nicht, er muss ja morgen in die Schule.“ Anita schob sich eine Pfefferminzpastille in den Mund, ehe sie sich in den Sessel neben ihrer Tochter setzte. „Ich suche ihn gleich noch einmal.“

„Er ist in der Bibliothek“, sagte Martha beiläufig.

Finja blickte auf. „Du bist so eine Petze.“

„Bin ich gar nicht.“

„Wohl.“ Finja schlenkerte mit den Beinen. „Petze“, wiederholte sie. „Petze, Petze.“

„Das reicht jetzt“, sprach Anita ein Machtwort. Martha lief rot an, und da Inga einen Wutausbruch fürchtete, fragte sie rasch, ob die Mädchen nicht schon mal ein Plätzchen nehmen wollten. Martha griff zu, aber Finja rief: „Wir warten auf Papa!“

Kurz zuckte Marthas Hand zurück, aber dann nahm sie sich den Keks trotzdem.

„Ihr sollt euch nicht immer streiten“, erklärte Anita. „Und in der Bibliothek war ich vorhin, da war er nicht.“

„Er taucht schon wieder auf.“

Arno kehrte mit einem Tablett zurück, auf dem Teegeschirr, eine bauchige Kanne, eine Karaffe mit Limonade und zwei Gläser standen.

„Als Kellner hättest du auch eine gute Figur gemacht“, bemerkte Anita.

„Das wäre der Plan gewesen, falls ich als Koch scheitere.“ Arno stellte das Tablett ab. „Habe ich schon die Geschichte erzählt, wie ich kurz nach dem Krieg in einer Schwarzmarktkneipe gekellnert habe?“

„Mehr als einmal“, antwortete Anita.

„Mir nicht“, rief Finja.

„Mir auch nicht“, fügte Martha mit vollem Mund hinzu.

„Also, dann hört mal zu“, sagte Arno, und Anita seufzte.

Inga kannte die Geschichte bereits und ließ sie an sich vorbeirauschen. Sie wusste, dass Arno eine sehr bewegte Vergangenheit hatte und oftmals auf einem schmalen Grat zur Illegalität balanciert war. Aber so war es damals, jeder kämpfte für sich. Als Kind hatte sie selbst davon kaum etwas mitbekommen, da ihre Mutter sie stets behütet und von allem abgeschirmt hatte. Ihre Mutter, die zu jenen gehörte, denen dieses Elend überhaupt erst zu verdanken gewesen war. Aber Inga wollte jetzt nicht an sie denken. Seit sie ihr das Haus überschrieben hatte und fortgezogen war, hatten sie nur noch sporadisch Kontakt. Inga für ihren Teil konnte darauf gut und gern verzichten, und Josh war ebenfalls nicht böse darum, dass seine Schwiegermutter sich nur selten meldete. Je weniger Kontakt sie zu Martha hatte, desto besser war es, nach seinem Dafürhalten.

„Ich möchte nicht, dass sie der Kleinen ihr krudes Weltbild nahebringt“, hatte er gesagt.

Dass ihre Mutter das wagen würde, glaubte Inga zwar nicht, aber es war einfach zu viel zwischen ihnen kaputtgegangen. Und nach wie vor vermisste Inga die Einsicht ihrer Mutter, die Erkenntnis darüber, wie falsch der Weg gewesen war, für den sie sich entschieden hatte. Ihre Mutter schien vielmehr zu bedauern, dass alles ans Licht gekommen war, für ihr Tun fand sie stets Ausflüchte und Begründungen, erklärte, warum sie seinerzeit ja gar nicht anders hatte handeln können. Besonders häufig war dabei der Satz gefallen: „Aus deiner heutigen Sicht kann man ja immer gut reden.“ Aber Inga hielt stets dagegen, dass es auch damals Menschen gegeben hatte, die anständig geblieben waren. Sicher, nicht jeder hatte einen offenen Widerstand gewagt, aber ihre Mutter hatte ja nicht einmal Stillen geleistet, sondern im Gegenteil sich diesem System auch vollumfänglich angedient.

„Mama, du isst ja gar keine Plätzchen“, brachte Martha ihr Backwerk anklagend in Erinnerung.

„Ach, entschuldige bitte, mein Schatz, ich war in Gedanken.“

„Weil Papa gleich kommt?“

Inga lächelte. „Ja, das auch.“ Ehe weitere Fragen kamen, nahm sie rasch ein Plätzchen, biss hinein und schloss genießerisch die Augen. „Das habt ihr ganz großartig hinbekommen.“

Die Mädchen strahlten. „Ich werde auch eine Bäckerin später“, erklärte Martha.

„Ich nicht.“ Finja schlenkerte mit den Beinen, während sie in ein Plätzchen biss. „Ich baue Eisenbahnen.“

„Große Pläne“, antwortete Inga und sah beide Mädchen an.

„Da müsst ihr vorher fleißig lernen in der Schule“, bemerkte Arno. „Und wo wir gerade dabei sind, wo ist eigentlich Andreas?“

„Bisher noch nicht wiederaufgetaucht.“ Anita blickte zur Tür, die genau in diesem Moment aufging.

Es war jedoch nicht ihr Sohn, der eintrat, sondern Josh.

„Papa!“, Martha sprang auf und lief zu ihm. Er fing sie auf und wirbelte sie einmal herum.

„Jetzt ich, Onkel Josh“, rief Finja und lief ebenfalls zu ihm.

„Hast du zufällig Andreas gesehen?“, fragte Anita nach der Begrüßung. „Er ist verschwunden.“

„Nein, aber spätestens zum Abendessen taucht er bestimmt auf.“

„Wir wollten aber eigentlich jetzt fahren.“

„Dann lasst ihn doch hier, ich kann ihn morgen früh auf dem Weg zur Arbeit mitnehmen und lasse ihn an der Schule raus.“

Anita seufzte. „Das ist lieb. Allerdings wüsste ich trotzdem gern, wo er ist.“

„Entführt hat ihn hier sicher niemand.“ Arno erhob sich. „Ich gehe noch einmal und suche ihn. Hier zu übernachten wäre ganz nach seinem Geschmack, und für dieses ungezogene Benehmen sollten wir ihn schließlich nicht auch noch belohnen.“

Josh ließ sich auf einem Sessel nieder und griff nach einem Plätzchen.

„Die habe ich mit Finja gebacken“, krähte Martha und kletterte auf seinen Schoß.

„Sie sind wirklich hervorragend“, antwortete er.

„Ich kümmere mich um das Abendessen.“ Inga erhob sich, um hinunter in die Küche zu gehen. Die Auszubildenden aßen abends zusammen im Speisesaal. Es war jedoch nicht mehr so, dass der zweite Jahrgang das Essen servierte, da dieser während des Blockunterrichts im Restaurant oftmals zu den Mahlzeiten nicht hier war. Wer mit dem Servieren an der Reihe war, wechselte wöchentlich. Diese Woche waren die Auszubildenden des dritten Jahrgangs an der Reihe. Da es junge Erwachsene waren, fand Inga es nicht mehr zeitgemäß, dass Aufsichtspersonen mit ihnen dort saßen. Jeden Morgen erschien Frau Kranitz, die Haushälterin. Sie bereitete das Frühstück und räumte nach den Mahlzeiten die Küche auf. Morgens war auch Inga im Speisesaal mit ihrer Familie anwesend, zum Mittagessen waren sie und das Lehrpersonal dort. Nur beim Abendessen erlaubte sie sich Privatheit, und die gönnte sie auch ihren Auszubildenden.

Als sie die Küche betrat, kamen ihr bereits die jungen Frauen und Männer mit drei Servierwagen entgegen. Inga wünschte ihnen einen schönen Abend und belud dann ein Tablett mit Brot, Butter, Wurst, kaltem Braten und Käse. Für Martha kam noch ein Krug Milch hinzu.

Inga trug das Tablett hinauf in ihr privates Esszimmer, stellte es auf dem Tisch ab und ging ins Arbeitszimmer zurück, zeitgleich mit Arno, der mit einem bockig dreinblickenden Andreas die Treppe hinaufkam.

„Hat sich in der Bibliothek verkrochen und gelesen.“

„Hatte Anita da nicht nachgeschaut?“

„Vermutlich hat er sich da hinter einem der Sessel versteckt.“

Der Junge hielt ein Buch in den Händen und hatte die Stirn grimmig gekraust. Offenbar hatte er eine gehörige Standpauke bekommen.

„Endlich.“ Anita erhob sich, als sie eintraten. „Wo hast du denn gesteckt?“

„In der Bibliothek.“

„Ach ja?“ Anita hob die Brauen. „Hast du unsere Auszubildende um den Finger gewickelt?“

Andreas sah sie mit unschuldig geweiteten Augen an und schwieg. Kurz darauf brachen sie auf, und Inga ging mit Josh und Martha ins Esszimmer.

„Schöne Grüße von Frank und Margarethe“, sagte Josh. „Ich habe die beiden heute gesehen, als ich kurz in der Apotheke war.“ Er stellte Teller auf den Tisch, und Inga reichte ihm die Gläser. „Lass uns doch mal wieder einen Abend gemeinsam ausgehen. Martha kann bei Hesses übernachten.“

„O ja!“, rief Martha.

Inga strich ihr lächelnd über den Kopf und spürte ein leichtes Ziehen in der Brust, wie so oft, wenn ihr Glücksgefühl sich mit Verlustängsten mischte. Sie liebte dieses Kind so sehr, dass sie Ängste entwickelte, die sie vorher nie gekannt hatte. Sie verbrachte ungern die Nacht getrennt von ihrer Tochter, wusste aber, dass sie diese Ängste nicht auf das Kind übertragen durfte. Sie erinnerte sich nur zu gut an sich selbst, an ihren Wunsch nach Eigenständigkeit, den sie jetzt auch schon bei Martha erahnen konnte. Und so nickte sie und lächelte. „Ja, sehr gern.“

Über Lea Benthin

Biografie

Lea Benthin wurde im Münsterland geboren, hat einen Teil ihrer Kindheit im hohen Norden verbracht und lebt seit ihren Studententagen in Bonn. Nach ihrem Germanistikstudium widmete sie sich dem Schreiben. Die DELIA-Preisträgerin reist gerne und liebt das Stöbern in Bibliotheken, wo sie für ihre...

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