Platzhirsch (Alpen-Krimis 5) Platzhirsch (Alpen-Krimis 5) - eBook-Ausgabe
Ein Alpen-Krimi
„Nicola Förg ist mit ›Platzhirsch‹ ein Krimi gelungen, der nicht an der Oberfläche bleibt, sondern die Tiefen dieses seit Jahren kontrovers diskutierten Themas ›Jagd kontra Tierschutz‹ erreicht.“ - Allgäuer Zeitung
Platzhirsch (Alpen-Krimis 5) — Inhalt
Sind Abschusszahlen und fiese Wilderei wirklich Grund genug für einen Mord?
Eine ermordete Biologin und ein Elch als einziger Zeuge – nicht die besten Voraussetzungen für die Ermittlungen von Irmi Mangold und Kathi Reindl, doch schon bald tauchen erste Verdächtige auf. Hatte sich die Jägerin, die Rehe lieber im Wald als auf dem Teller sieht, mit den falschen Leuten angelegt? Vielleicht mit einem Wilderer? Und was hat das mit einem Tagebuch zu tun, das sich auf dem gut versteckten Laptop der Ermordeten befindet?
Leseprobe zu „Platzhirsch (Alpen-Krimis 5)“
PROLOG
Es herrschte jene Stille, die nur der Morgen herbeizaubert. Ein paar Vögel irgendwo in den Bäumen begrüßten den Tag, die Wiesen atmeten Feuchte, und die flache Sonne stand noch hinter den Fichten.
Früher war Irmi ein Morgenmuffel gewesen – sie hatte es gehasst, in einer Landwirtsfamilie aufzuwachsen, denn dort hatte man stets zu unchristlichen Zeiten aufstehen müssen. Mittlerweile liebte sie den Morgen, er war die einzige unschuldige Zeit des Tages. Die Zeit des klaren Blicks. Auch Irmis Abende waren häufig still, aber sie hatten meist etwas [...]
PROLOG
Es herrschte jene Stille, die nur der Morgen herbeizaubert. Ein paar Vögel irgendwo in den Bäumen begrüßten den Tag, die Wiesen atmeten Feuchte, und die flache Sonne stand noch hinter den Fichten.
Früher war Irmi ein Morgenmuffel gewesen – sie hatte es gehasst, in einer Landwirtsfamilie aufzuwachsen, denn dort hatte man stets zu unchristlichen Zeiten aufstehen müssen. Mittlerweile liebte sie den Morgen, er war die einzige unschuldige Zeit des Tages. Die Zeit des klaren Blicks. Auch Irmis Abende waren häufig still, aber sie hatten meist etwas Bleiernes an sich. Ihnen war ein Tag vorhergegangen, der Körper und Geist strapaziert hatte. Nur der Morgen war unschuldig und rein, bevor die Menschen dem Tag mit ihrer Unzulänglichkeit, ihrem Hass und ihren Verzweiflungstaten die Unschuld raubten.
Aus dem Wald traten vier Rehe, eins davon war der kleine Rehbock, den Irmi insgeheim Hansi getauft hatte. Er hob den Kopf und sah herüber. Lange. Dann senkte er die glänzende schwarze Nase und begann zu fressen. Die so eleganten und filigranen Tiere zogen langsam über die meerglatten Weiten am Rande des großen Moors. Sie waren grau, denn sie trugen noch ihr Winterkleid. Bald schon würden sie fürchterlich zerrupft aussehen und ins Braune wechseln. Im Wald würden ganze Fellbüschel liegen, und die Rehe würden ihre Hälse verdrehen, um sich das juckende Fell vom Rücken zu knabbern.
Anfang März war es schon einmal ungewöhnlich warm gewesen, doch es war die typische oberbayerische Rache gefolgt: Es hatte wieder geschneit, und zwar zuhauf. Der kurze Versuch mit aufgekrempelten Jeans war ganz schnell wieder den gefütterten Gummistiefeln und den Fleecejacken gewichen. Heute Morgen hatte es auch nur zwei Grad plus, aber der Frühling schien irgendwo zu kauern und nur darauf zu warten, dem Weiß den Kampf ansagen zu dürfen. Diese ganze Jahreszeit war so unschuldig und optimistisch.
Die Rehe mussten etwas gehört haben, denn sie standen auf einmal starr wie Statuen da. Bernhard kam drüben aus dem Stall und ging über den gekiesten Vorplatz zum Haus hinüber. Hansi senkte als Erster wieder den Kopf – von diesem trampeligen Menschen drohte ihm keine Gefahr. Irmi fröstelte, aber sie konnte sich so schwer vom Anblick der Tiere lösen. Plötzlich ruckten sie wieder mit den Köpfen. Rannten eine kurze Strecke, hielten inne.
Der kleine rabenschwarze Kater kam wie ein Gummiball über die Wiesen gehüpft – in himmelhohen Sprüngen. Hansi schüttelte den Kopf, als wolle er den Kater für diese Energieverschwendung rügen. Schließlich hatte er Irmi erreicht, strich um ihre Beine und schüttelte vorwurfsvoll und angewidert die nassen Pfoten. Irmi lächelte und schenkte den Rehen einen letzten, fast wehmütigen Blick. Den Kater im Gefolge ging sie hinein.
Der Frieden eines Morgens war so kurzlebig. Auch der Friede des Frühlings wurde viel zu schnell von den donnernden Sommergewittern abgelöst, und die Rehe würden schon bald unter den Beschuss derer geraten, die um ihre Bäume fürchteten. Viele der Kitze würden die Mähmassaker nicht überleben. Der Friede für Tiere war so fragil. Jeder Friede war so anfällig für Störungen …
Es dröhnte, als würde jemand eine Lawine absprengen, und Sophia rief lachend: „Du klingst wie Dumbo, wenn du so trötest!“
„Sehr witzig!“, maulte Kathi wütend und nieste erneut. Das wiederum trieb das Soferl zu einem wahren Lachkrampf, sie wollte sich ausschütten vor Lachen, doch was sie dann tatsächlich verschüttete, war der Kakao, der den alten Holztisch flutete. Sophia sprang zwar sofort auf, um Küchenkrepp zu holen, aber die Flutwelle hatte schon die Tischkante erreicht und stürzte als brauner Wasserfall auf Kathis Jeans.
„Du blöde Nuss!“, brüllte Kathi und rannte unter Niesen die Treppe hinauf. Dort schälte sie sich aus der engen Jeans, feuerte sie neben das Bett und fingerte ein Papiertaschentuch aus der Packung am Nachttisch. Da lag draußen noch meterhoch Schnee, da zogen die Tourengeher in Karawanen zu Berge – und sie hatte Heuschnupfen. Jedes Jahr kam er wie ein plötzliches Gewitter ohne Ankündigung. Dabei war es so klar wie das Amen in der Kirche, dass die fiese Hasel und die bösartige Erle wieder blühen würden. Die gemeine Birke würde sich auch noch dazugesellen. Aber der Winter verdrängte dieses Wissen. Und eines Morgens wachte Kathi dann auf und fühlte sich, als habe sie die ganz Nacht durchgesoffen. Die Augen tränten, die Nase lief. Heißa! Der Frühling war da.
Kathi hasste das Frühjahr. Und sie hasste den Morgen. Um diese Tageszeit hatte sie gar keinen Nerv für ihre putzmuntere Tochter. Ebenso wenig wie für ihre Mutter, die immer gegen halb sechs aufstand und ihr jeden Morgen etwas zum Essen aufdrängte. Frühstück wie ein Kaiser, Mittagessen wie ein König, Abendbrot wie ein Bettler – diesen Spruch hatte sie schon in Soferls Alter gehasst. Bis heute hasste sie Frühstücken. Ein schwarzer Kaffee war doch völlig ausreichend. Warum ließen diese beiden lästigen Stehaufmännchen sie nicht einfach in Ruhe morgenmuffeln?
1
März 1936
Es geht auf Josephi. Leider. Es hat tagelang geschneit, heut hat es aufgerissen. Irgendwo singt schon ein Vogel. Er singt hinein in diese Welt aus Weiß, die uns blendet. Ich zwinkere schon den ganzen Tag gegen die Sonne. Ach, würde sie doch nur wieder verschwinden. Aber ich werde es nicht mehr lange hinauszögern können. Der Herr Vater ist im Lechtal unten gewesen, er hat telefonieren lassen. Mir ist das unheimlich. Man spricht in ein Rohr, und so viele Tagreisen entfernt hören die etwas? Ganz so, als stünde einer neben einem? Der Herr Pfarrer hat auch gesagt, das ist Teufelswerk.
Aber der Herr Vater hat kein Einsehen. Er hat gesagt, dass ich gehen muss, auch wenn ich schon sechzehn bin. Solange dich keiner heiratet, musst du gehen. Er hat gesagt, ich sei selber schuld, dass ich noch keinen Burschen hätt. Wo soll ich denn einen Burschen hernehmen? Wir kommen den ganzen Winter doch nicht raus.
Die Flausen hierzubleiben, die wolle er mir schon austreiben, hat der Herr Vater gesagt. Und dass ich a gschnablige Fechl bin. Das ist nicht schön von ihm. Und das ist auch gar nicht wahr. Aber ich bin ein Mädchen, und der Herr Vater mag keine Mädchen. Die Zwillingsbrüder sind vor sechs Jahren am Joch gestorben, die Lawine hat sie beide mitgerissen.
Nur gut, dass die Johanna mit von der Partie ist und der Jakob. Mir wird jedes Jahr banger. Das erste Jahr war es am leichtesten, obwohl ich mir zwei Zehen erfroren habe. Aber das geschieht allen. Wir sind neun gewesen und eine Frau, die uns führen sollte. Von Elbigenalp waren sie auch heraufgestiegen, weswegen wir vier Hinterhornbacher immer am Hornbach entlang bis zur Hermann-von-Barth-Hütte hatten gehen müssen. Dort trafen wir uns, es gab eine Marend, sogar Muggafugg. Wir aßen und tranken, denn um den Krottenkopf herum und auf zum Mädelejoch, das war keine feine Strecke. Vereist war es gewesen, das Mädelejoch hatte kaum Schnee, der Wind hatte ihn verblasen. Aber dann kamen die Kitzabolla. Und kalt war es gewesen. So kalt.
Aber ich wusste damals noch nicht, was geschehen würde. Die Großen waren schon oft außi zu den Fritzle, der Konrad war sogar auf dem Kindermarkt in Ravensburg gewesen. Was er berichtet hat, war nicht schön. Später hatte auch der Konrad feste Herrschaften, und nun ist er längst als Stuckateur dussa. Ab dem dritten Jahr wurden wir in Kempten immer schon erwartet, sogar mit einem Fuhrwerk abgeholt. „Was für ein Glück“, hat die Mama immer gesagt. „Was ihr für ein Glück habt.“ Und dann hat sie mich jedes Jahr so komisch angesehen, und bekreuzigt hat sie sich. Jedes Jahr mehr. Ich hatte ja Glück, zwei erfrorene Zehen sind nichts. Dem Oswald fehlen sogar drei Finger. Ganz schwarz sind die gewesen.
Mir wird es dennoch jedes Jahr schwerer ums Herz. Wir sind die Letzten. Aus Elbigenalp kommen sie nicht mehr, zwei der Mädchen, die Hermine und die Maria, sind tot. Warum, weiß ich nicht genau. Seit wir die Letzten sind, gehen wir den kürzeren Weg übers Hornbachjoch. Ich fürchte mich immer unter den Höllhörnern. Der Herr Pfarrer hat gesagt, der Teufel hause in den Zacken. Und dass wir beten müssten am Joch und uns bekreuzigen und einen Rosenkranz sprechen. Der Herr Pfarrer ist ein Knatterle, hat die Johanna gesagt, so was darf man aber doch nicht über einen Kirchenmann sagen. Wenn der Herr Pfarrer wüsste, dass wir uns immer nur ganz kurz bekreuzigt und nie einen Rosenkranz gebetet haben … Aber der Herr Pfarrer weiß ja nicht, wie eisig kalt es ist im Sturm droben am Joch.
Die Johanna hat gesagt, dass sie dieses Jahr nicht mehr heimkommen will, so wie die Gertrud. Diese Johanna. Solche Pläne hat die Johanna! Sie ist ein Wildfang, die Johanna! Ich habe viel lesen können im Winter. Der junge Herr Kaplan hat mir Bücher zugesteckt und Lesen mit mir geübt. Wir sind ja immer nur im Winter in der Schule, und oft fiel der Unterricht aus. Der junge Herr Kaplan musste aber bald nach der Christnacht gehen, ein Sozialist sei er, wurde geraunt. Was ist ein Sozialist? Ist ein Mann Gottes ein Sozialist?
„Schneewittchen ist schon tot“, sagte Benedikt. Dabei klang er altklug wie immer, und Julia atmete auf.
Sie selbst war schon wieder tausend Tode gestorben, weil Bene sich einmal mehr von der Gruppe abgesetzt hatte. Der Junge war eine Katastrophe, er schien osmotisch durch Wände diffundieren zu können. Man hatte ihn gerade noch im Blick, und eine Sekunde später war er verschwunden. Fand man ihn dann doch irgendwann, sagte er gerne: „I hob mi verzupft.“ Das hatte er vom Allgäuer Opa, „der, wo in Trauchgau residiert“. Bene sagte wirklich „residiert“, der Opa schien ein relativ großes Haus zu haben. Julia beneidete weder Benes Eltern noch seine zukünftigen Lehrer. Bene beneidete sie auch nicht. Das war ein Kind, das anecken würde, ein allzu wacher Geist und ein Übermaß an Phantasie verunsicherten den Rest der dumpfen Welt.
„Benedikt, wo warst du schon wieder?“ Julia versuchte streng zu klingen.
„Julia“, er ahmte die Stimme der Erzieherin nach, „ich habe doch gesagt, dass ich das tote Schneewittchen besuchen muss.“
In diesem Moment kam ihre Kollegin Lea zurück. Sie wirkte immer etwas überfordert und hatte offenbar das Elend der ganzen Welt auf ihre schmalen Schultern geladen.
„Diese Regina von Braun ist nirgendwo“, jammerte sie. „Die Haushälterin weiß auch nicht, wo sie steckt.“
„Oh, du liabs Herrgöttle“, kam es von Benedikt, und er schlug sich theatralisch die Hand auf die Stirn.
Das hatte er bestimmt auch vom Trauchgauer Opa. Julia unterdrückte das Grinsen, wies Bene zurecht und wandte sich an die Kollegin: „Vielleicht ist sie schon zu den Gehegen gegangen und füttert die Tiere. Wir gehen einfach mal runter.“
Gehen war allemal eine gute Idee, denn es hatte höchstens null Grad an diesem Morgen. Die Zwergentruppe war nur deshalb vergleichsweise ruhig, weil sie Kakao und Kekse bekommen hatte. Julia begann die Becher einzusammeln, überprüfte, dass jedes Kind seinen Rucksack hatte, und erklärte den Kleinen, dass sie nun ganz leise sein müssten, um die Tiere nicht zu erschrecken. „Pst“, machte sie, was augenblicklich eine ganze Woge von „Pst“-Geräuschen hervorrief – in der Lautstärke eines Düsenjets. Unter abflauenden „Psts“ marschierten die Kinder in Zweierreihen hinter Julia her, hinein in den Wald, vorbei an einem Schild, das in Richtung Wildgehege deutete.
Julias Kindergartengruppe hatte am Morgen eigentlich einen Termin bei Dr. Regina von Braun. Die Biologin besaß ein Gut, das sie – wie man sich erzählte – mehr als Bürde denn als Würde ererbt hatte. Um es am Leben zu erhalten, hatte sie ein Walderlebniszentrum initiiert. Julia war die Eigentümerin nicht ganz unbekannt, weil Regina von Braun gern in Kindergärten vom Wald und seinen Bewohnern erzählte und dabei auch mal eine Eule mitbrachte oder einen Greifvogel. Sie war nämlich nicht nur Biologin, sondern auch Jägerin und Falknerin, und das wenige, was Julia von ihr wusste, war, dass ihre Tage offenbar mehr als vierundzwanzig Stunden hatten. Heute sollten die Kinder zwei zahme Elche und einige Rentiere besuchen. Das war natürlich eine Sensation im Oberland, ein echter Elch!
Nach fünf Minuten erreichten sie eine Lichtung. Die Sonne stand schon höher am Himmel und beleuchtete eine große Erklärungstafel und eine Sitzgruppe aus dickem Holz. Das Gehege lag dahinter, rechts davon stand ein großer Schuppen mit einer Schubkarre davor, die ein wenig vereinsamt wirkte. Bevor Julia ihn noch am Kapuzenzipfel erwischen konnte, sauste Benedikt davon, am Zaun entlang, hinüber zum Schuppen und hinein durch ein hohes Stahltor, das er öffnete, als habe er nie was anderes getan. Lea brüllte ihm ein verzweifeltes „Benedikt!“ hinterher, Julia stöhnte. Es hätte so nette Jobs im Büro gegeben, bei Krankenkassen oder Behörden – warum nur hatte sie sich als Zwergenbezwingerin verdingt?
„Ihr bleibt hier und schaut euch schon mal mit Lea die Bilder auf der Tafel an. Ich hole den Bene, vielleicht ist Frau von Braun ja auch noch in dem Schuppen.“
Julia eilte zu dem Tor, das überraschend leichtgängig war. Der Schuppen entpuppte sich als Unterstand mit einem gewaltigen Vordach. Frische Hackschnitzel waren ausgebreitet, es duftete nach Holz. Benedikt stand da und betrachtete interessiert den Boden.
Dort lag Regina von Braun. Ihre ausgesprochen blauen Augen schienen verwundert ins Leere zu starren. Sie war blass, und ihr langes dunkles Haar war auf den Holzschnitzeln ausgebreitet. Aus einer Schusswunde an der Stirn trat Blut aus. Das kalkweiße Gesicht, die Haare wie Ebenholz, das rote Blut – eine tote Märchenfrau.
„Siehst du, Julia? Schneewittchen ist schon tot“, sagte Benedikt völlig ungerührt.
Julia war wie paralysiert und wachte erst auf, als hinter ihr das Chaos ausbrach. Natürlich war es Lea nicht gelungen, die Kinder auf den Holzbänken zu halten. Nun standen sie hier, und als eines zu weinen begann, brach ein kollektives Heulkonzert aus. Julia schaffte es irgendwie, die Kleinen wegzuscheuchen und sie zurück zum Haupthaus zu bringen, wo es in einem Nebengebäude einen Seminarraum mit Küche gab. Es glückte ihr sogar noch, Lea zum Kakaokochen abzukommandieren, die Polizei und die Haushälterin zu alarmieren.
Als die sich völlig erschüttert in Richtung des Geheges aufmachen wollte, stellte sich ihr Benedikt in den Weg. „Das darfst du nicht, das verwischt die Spuren. Wie im Fernsehen.“
Du lieber Himmel, was fand man im Hause Haggenmüller denn passend als TV-Kost für einen Fünfjährigen? Nun ja, bei den beiden Rechtsanwaltseltern konnte man ja nie wissen, dachte Julia und wunderte sich über sich selbst. Da draußen lag eine tote Frau, und sie dachte über Kindererziehung nach.
Die Haushälterin war leise weinend auf einen Stuhl gesunken. Benedikt ging zu ihr hin und reichte ihr einen Becher Kakao. „Abwarta und Kakau trinka“, sagte er. Oh, du segensreicher Opa aus dem schönen Halblechtal …
Irmi war beschwingt ins Büro gekommen. Dort traf sie auf eine Kathi, die wie die Inkarnation von „I don’t like Mondays“ aussah. Die Augen verquollen, fummelte Kathi ein Taschentuch nach dem anderen heraus und verfluchte ihre Allergiemedikamente, die alle nichts halfen.
„Versuch’s doch mal mit Sulfur-Globuli“, schlug Irmi vor, was ihr einen Blick einbrachte, der vernichtend war.
„Zuckerkügelchen mit nix drin. Du glaubst auch an jeden Hokuspokus, Irmi, oder? So ein Placeboscheiß.“
Bevor Irmi in eine Diskussion einsteigen konnte, dass die homöopathischen Globuli sogar bei ihren Kühen wirkten und die Rinder ja kaum im Verdacht standen, auf ein Placebo hereingefallen zu sein, kam Sailer.
„Morgen, die Damen. Des wird heit nix mit Kaffeetrinken. Im Waldgut Braun is wer tot geworden.“
Tot geworden – der gute Sailer.
„Weiß man auch, wer tot geworden ist, Sailer?“
„Ja, die Frau Regina von Braun höchstselber. Derschussen.
Sauber derschussen. Ned derhängt oder so was Unguats.“ Sauber derschussen – auch eine schöne Formulierung. Abgesehen davon war es für Irmi mehr als überraschend, dass der sonst so kryptische Sailer die komplette Information von sich gab, ohne dass sie ihm alles aus der Nase ziehen musste. Der Mann schien Montage zu mögen.
„Wer hat uns informiert?“, fragte Kathi unter Niesen.
„A Madl, das wo Kindergärtnerin ist. De Kinder ham de
Frau g’funden.“
Auch das noch! Ein verschreckter Haufen Kinder, die überall herumgetrampelt waren, dachte Irmi.
„Na merci, Mausi“, kam es von Kathi.
Irmi sparte sich eine Zurechtweisung, informierte stattdessen das Team von der Kriminaltechnischen Untersuchung und forderte die Polizeipsychologin an – wegen der Kinder und weil sie ein ungutes Gefühl hatte, das sie momentan schwer zu deuten wusste. Dann nickte sie Kathi zu und wies Sailer an, den Kollegen Sepp im Streifenwagen mitzunehmen. Seit Irmi und ihr altes Cabrio vom TÜV geschieden worden waren, fuhr sie einen japanischen SUV, und der hatte dank Blechdach natürlich den Vorteil, dass man ein Blaulicht draufsetzen konnte. Außerdem besaß er eine gewisse Bodenfreiheit, was bei den alpinen Einsätzen nicht von Nachteil war.
Die Bodenfreiheit erwies sich heute als recht sinnvoll.
Zwei Kilometer hinter Grainau war das Waldgut durch ein verwittertes Holzschild ausgewiesen. Die Teerdecke der Zufahrtsstraße war von Löchern durchsetzt, die gut und gern als Ententümpel hätten herhalten können. Auf den Tümpeln lag eine dünne Eisschicht, die unter den Autoreifen brach.
Das Sträßchen mäandrierte durch den Wald. Es lagen noch immer Schneehaufen am Wegesrand, und Irmi vermutete, dass das Gut im Winter bisweilen von der übrigen Welt abgeschnitten war. Sie fand den Gedanken gar nicht so uncharmant, während Kathi böse nach vorne starrte und maulte: „Das ist voll am Arsch der Welt hier.“ Und nieste.
Zu ihrer Linken lag ein kleiner Moorsee, alles sehr idyllisch und doch auch düster in seiner schweren Farbigkeit. Sie kamen aus dem Wald, ein Feld lag vor ihnen und mittendrin das Gut. Rechts thronte das Haupthaus auf einem kleinen Hügel, ein stolzer Bau oder besser ein ehemals stolzer Bau im Stil eines kleinen Jagdschlösschens. Links stand ein Wirtschaftsgebäude mit einem anschließenden Stadl. Vor ihnen schlängelte sich das Sträßchen weiter, vorbei an einem Tipidorf, und danach schon wieder der Wald, der hier alles umschloss. Sogar Irmi empfand das als etwas bedrückend, so als könnte der Wald auf sie zukommen und alles überwuchern wie in einem Dornröschenschloss.
Sie parkten vor dem Wirtschaftsgebäude, und ein bärtiger kräftiger Mann, der sicher schon in den Siebzigern war, kam auf sie zu.
„Veit Bartholomä“, stellte er sich vor. „Meine Frau und ich stehen der Regina ein wenig bei und helfen ihr …“ Er schluckte. Es war schon auf den ersten Blick klar, dass er eigentlich ein tatkräftiger Mann war, der momentan jedoch am Limit seiner Beherrschung angelangt war. Ein Dackel saß neben ihm und begutachtete die Neuankömmlinge. Er hatte den Kopf schräg gelegt und blickte Irmi so an, wie das nur Dackel können. Dann begann er zu bellen.
Das zentrale Thema in ihrem neuen Krimi ist die Jagd. Wie stehen Sie persönlich dazu?
Nicola Förg: Ich lebe hier am Waldrand mit Rehen auf du und du. Diese Rehe fressen Rosenknospen und die Bepflanzung unseres Fischteichs. Ich persönlich finde das amüsant, und wenn der Verlust einiger Knospen das Schlimmste ist, was mir im Leben passiert, bin ich sehr gut dran. Mir ist aber bewusst, dass Waldbesitzer die ökonomisch denken müssen, auch Lösungen gegen Verbiss finden müssen.
Allerdings liegt die Wahrheit sicher nicht nur im Abschuss. Wenn die Tiere ausreichend Äsung außerhalb des Waldes haben, verbeißen sie auch nicht. Ich werde sicher keine Jägerin mehr werden, ich war, bin und werde aber auch keine verbitterte Parolenschreiern gegen die Jagd generell.
Haben Sie persönlich Erfahrung beim Jagen?
Nicola Förg: Nein, aber ich habe als Reiterin Erfahrung mit Jägern, die mit einem Gewehr vor mir und dem Pferd herumgewedelt und dabei wüste Schimpftiraden losgelassen haben. Und ich bin da nicht quer durch den Wald und auch nicht in der Dämmerung geritten, sondern mittags auf einem Feldweg am Saume eines Waldes, ein Dorf im Blick. Mein Nachbar hat noch einige Schrotkugeln im Allerwertesten stecken – sah sein Hund doch angeblich aus wie ein Fuchs….
In Ihrem Buch gibt es „böse“ und „gute“ Jäger. Lassen sich Jagd und Tierschutz wirklich vereinen, wie es Ihr Mordopfer Regina von Braun versucht hat?
Nicola Förg: Gut und böse vereinfacht mir das Thema zu sehr. Aber Jagd und Tierschutz ist möglich, auch wenn das sicher eine Gratwanderung ist. Die Positionen sind verhärtet, aber wenn jemand wirklich die Natur liebt, ein echter Wildbiologe ist und Ahnung von Ökologie hat, dann kann Jagd auch Tierschutz sein. Problematisch wird es, wenn man nur noch rein ökonomische Gesichtspunkte anlegt. Unsere ganze zubetonierte, verdichtete, begradigte Welt lässt Tieren keinen Raum mehr. Wir sind beängstigend weit weg von der Natur, wie die ganze Geschichte um „Schadbär“ Bruno gezeigt hat.
Sie sind bekannt für Ihre akribische Recherche. Jäger gelten aber auch heute noch als verschworene Gemeinschaft, auch weitgehend als Männerdomäne. Wie konnten Sie da vordringen?
Nicola Förg: Ich habe Bekannte, die Jäger sind. Die um jeden Abschuss ringen. Die zögern, die nachdenken. Die eben auch in einem Ökonomie-Ökologie-Konflikt stehen. Ich hatte sehr kompetente und nie propagandistische Hilfe im Bayerischen Jagdverband. Und ich hatte einige Informanten, die wissen, warum sie lieber unerwähnt bleiben wollen angesichts ihrer Geschichten von Waffennarren, skrupellosen Wilderern und reinen Trophäengierigen.
Was war das Eindrucksvollste, das Sie bei dieser Recherche gelernt haben?
Nicola Förg: Dass kein Klischee stimmt, dass es eben nicht die Guten und die Bösen gibt. Dass es in unserem Umgang mit der Natur längst kurz vor zwölf ist. Oder der Zeiger leider die Marke übersprungen hat.
Ein zweites großes Thema des Buchs sind die so genannten „Schwabenkinder“ – Bergbauernkinder aus den Alpen, die in früheren Zeiten auf Kindermärkten in Oberschwaben als billige Saisonarbeiter feilgeboten wurden. Wie sind Sie darauf gekommen?
Nicola Förg: Ein sehr lieber Freund von mir, dem ich das Buch auch gewidmet habe, stammt aus Galtür in Tirol. Er hat mich schon vor 20 Jahren mit dem Thema in Verbindung gebracht. Galtür hatte eine intensive Kinderwanderung. Es ist ein sehr bitteres Kapitel, das ich umso bitterer finde, als es bis weit ins 20. Jahrhundert gereicht hat.
Und das hier bei mir auch geografisch so bedrückend nahe liegt. Ich bin in 30 Minuten im Außerfern, über dessen Pässe und Steige sich vor 100 Jahre unterernährte Kinder in Lumpen und schlechtem Schuhwerk schleppten und nicht selten von Lawinen verschüttet wurden. Die Zeitzeugen sterben uns weg, es ist wichtig, solche Ereignisse vor dem Vergessen zu bewahren.
Regionalkrimis gibt es heute wie Sand am Meer. Was muss man tun, um aus der Masse hervorzustechen, um mehr als nur Durchschnitt zu sein?
Nicola Förg: Das muss letztlich der Leser entscheiden. Und wenn man Bestseller steuern könnte, ertränken wir in selbigen. Ich kann nur meinen Weg weitergehen, und der setzt zwar auch auf Humor, aber er ist weit weg von Slapstick und Hauruck-Comedy, wie das ja anscheinend Usus ist im Regionalen.
Ich erzähle Geschichten über das Leben, über das Menschsein, das oftmals sehr schwer werden kann. Es liegt so viel Tragik hinter den Fassaden. Man glaubt mir gottlob mein Anliegen und die Authentizität. Und ich glaube, der Leser hat ein gutes Gespür dafür, ob Figuren echt sind und nicht bloß Marionetten.
Wenn Sie schreiben, wie sehr verwachsen Sie dann mit Ihrem Alter Ego Irmi Mangold?
Nicola Förg: Sie ist kein Alter Ego, aber ich mag sie sehr. Ich fahre in den „heißen Schreibphasen“ z. B. Auto und lasse Irmi dann Dialoge sprechen. Sie kann denken, fühlen und damit auch wachrütteln. Und manches was sie denkt und sagt, würde ich auch sagen. Aber sie hat es ja schon für mich getan!
Skifahren, Milchpreise, Kurtreiben, jetzt die Jagd haben Sie bereits in Ihre Krimis eingearbeitet – welche Alpenthemen warten noch auf Irmi und Kathi?
Nicola Förg: Da setzen wir doch mal auf die Spannung und Vorfreude. Aber es liegt noch genug Sprengstoff über den hohen Bergen und dem buckligen Voralpenland!
„Ein neuer vergnüglicher Krimi rund um das Ermittlerinnen-Duo.“
„Nicola Förg in Hochform: Spannend, unterhaltsam, viel Lokalkolorit und dazu eine bewegende Schilderung des harten Schicksals der sog. ›Schwabenkinder‹.“
„Nicola Förg ist mit ›Platzhirsch‹ ein Krimi gelungen, der nicht an der Oberfläche bleibt, sondern die Tiefen dieses seit Jahren kontrovers diskutierten Themas ›Jagd kontra Tierschutz‹ erreicht.“
„Unterhaltungslektüre mit Witz und Charme.“
„Ein unterhaltsames und entspannendes Lesevergnügen.“
„Zünftig und wenig zimperlich! (...) Genial...“
„Die Autorin paart gekonnt Witz und Spannung. "Platzhirsch" bietet beste Unterhaltung unter weiß-blauem Himmel und ist wahrlich auch für Deutsche geeignet, die nördlich des Weißwurst-Äquators leben.“
„Sie verstrickt spannenden Stoff in einem unterhaltsamen Fall.“
„Geschichts-, Politik- und Umweltbewusstsein, fein verpackt in einer spannenden Krimihandlung - das kommt richtig gut.“
„Spannend und klug konstruiert.“
„Unterhaltungslektüre mit Witz und Charme.“
„Die Mörderjagd ist gut gemachtes, unterhaltsames Krimi-Handwerk, das auch nicht jagenden Fans des Genres einen spannenden Kamin-Abend bescheren wird. Lesenswert.“
„Ein wirklich witziges Buch, das Einblick gibt in das Leben in einem engen, finsteren Tal. Ideal für den Urlaub, welchen auch immer.“
„Spannend, geradezu investigativ und sehr lesbar.“
„Absolut empfehlenswert und sorgt für unterhaltsame Lesestunden.“
„komplex und hochspannend“
„Wie gewohnt hat die Allgäuerin Nicola Förg gut recherchiert und einen spannenden Krimi geschrieben.“
„Lässt sich flott lesen, ist im besten Sinne Unterhaltung, und als jagdlicher Leser muss man sich nicht ständig über schlecht recherchiertes Halbwissen zum Thema Jagd ärgern. Das hat heute schon Seltenheits- und dementsprechend hohen Stellenwert.“
„Mit ›Platzhirsch‹ ist es Nicola Förg gelungen, das Schicksal der Schwabenkinder und aktuelle Umweltpolitik in einem spannenden Krimi zu verflechten.“
„Förg verwebt geschickt diverse Handlungsstränge ineinander, baut alte Familiengeschichten genauso ein wie die Dauerdebatte um den Wildverbiss in Wäldern.“
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