Playground – Leben oder Sterben - eBook-Ausgabe
Roman
„Ein lesenswertes Buch, das nachdenklich macht.“ - Ruhr Nachrichten
Playground – Leben oder Sterben — Inhalt
Dies ist kein Spiel, denn du bezahlst mit deinem Leben
Jasmin Pascal-Andersson, Lieutenant in der schwedischen Armee, wird bei einem Kriegseinsatz schwer verwundet. Vierzig Sekunden lang steht ihr Herz still. Nach der Reanimation leidet sie an Halluzinationen, die Ärzte attestieren ihr ein posttraumatisches Stresssyndrom. Eine schwierige Rekonvaleszenzzeit steht ihr bevor, und zurück in Stockholm entscheidet sie sich, aus dem Militärdienst auszutreten, um ein ruhigeres Leben zu führen. Sie findet einen Job als Sekretärin, bringt wenig später ein Kind zur Welt. Alles scheint in bester Ordnung. Doch als Jasmin mit ihrem Sohn in einen furchtbaren Autounfall verwickelt wird, kehren die Halluzinationen zurück ...
Leseprobe zu „Playground – Leben oder Sterben“
Niemand weiß, wohin wir gehen, wenn wir sterben, ob die Orte, die beschrieben werden, nur in unserem Inneren existieren, in dem System aufblitzender Synapsen. Die immer wiederkehrenden Bilder in den Zeugnissen fast Gestorbener werden von den Forschern mit der panikartigen Reaktion des Gehirns auf den Sauerstoffmangel erklärt, der eintritt, wenn das Herz zum Stillstand kommt.
Unsere neurobiologischen Erklärungen sind natürlich erst einige Jahrzehnte alt, während die Zeugenberichte seit Jahrtausenden gleich sind. Von den frühesten Schriftkulturen bis heute [...]
Niemand weiß, wohin wir gehen, wenn wir sterben, ob die Orte, die beschrieben werden, nur in unserem Inneren existieren, in dem System aufblitzender Synapsen. Die immer wiederkehrenden Bilder in den Zeugnissen fast Gestorbener werden von den Forschern mit der panikartigen Reaktion des Gehirns auf den Sauerstoffmangel erklärt, der eintritt, wenn das Herz zum Stillstand kommt.
Unsere neurobiologischen Erklärungen sind natürlich erst einige Jahrzehnte alt, während die Zeugenberichte seit Jahrtausenden gleich sind. Von den frühesten Schriftkulturen bis heute wird mit auffallender Ähnlichkeit von dem berichtet, was uns erwartet, wenn wir sterben.
In der Religion des alten Ägypten wird Osiris’ Richterstuhl beschrieben, vor dem das Herz des Menschen gegen die Feder der Maat aufgewogen wird, und in Chinas klassischer Mythologie wird das Totenreich als die „Gelben Quellen“ bezeichnet. Dort hausen die Toten als hungrige Geister, bis die Herrscher der Unterwelt einen Beschluss über ihr Schicksal fassen. In der griechischen, der römischen und in vielen afrikanischen Mythologien beginnt das Totenreich am Ufer eines Flusses, den man mit dem Schiff überqueren muss. Im Islam warten alle Toten auf ihr Urteil, und im Christentum gibt es ein Vorstadium zur Ewigkeit, in das Jesus hinabsteigt und aus dem Lazarus zurückkehrt. Im Judentum landen die Toten im Scheol als Schatten, ohne Gemeinschaft mit Gott, und nach dem hinduistischen sowie dem altnordischen Glauben kann man auch im Totenreich noch sterben.
Menschen, die in moderner Zeit davon berichten, was sie erlebt haben, als ihr Herz stillstand, kommen immer wieder zurück auf Tunnel, einen sie umhüllenden Lichtschein, die Begegnung mit toten Familienmitgliedern, dunkles Wasser und Orte, die sie nie zuvor gesehen haben.
Mythologie und persönliche Zeugnisse können natürlich sowohl psychologisch als auch neurologisch erklärt werden. Sein ganzes Leben hindurch ist sich der Mensch ungefähr zehn neuer Sinneseindrücke pro Sekunde bewusst, während unsere Sinnesorgane unbewusst mehr als zehn Millionen Eindrücke pro Sekunde registrieren. Das Gehirn hat die Fähigkeit, die Informationen zu in sich schlüssigen Einheiten zusammenzufassen und zu ordnen, die wir normalerweise als Erinnerung bezeichnen. Aber wir haben nur zu einem Bruchteil all dessen Zugang, was im Langzeitgedächtnis bewahrt wird, und das meiste davon wird in diesem riesigen Reservoir jungfräulich lagern bis zum Todeszeitpunkt.
1
Vor gefährlichen Einsätzen betrachtete Leutnant Jasmin Pascal-Andersson stets für eine Weile ein Foto, das sie in ihrer Brieftasche bei sich trug. Das glänzende Papier hatte einen tiefen Knick quer durch das Motiv. Auf dem Bild war die Gefechtsgruppe aus ihrem Zug zu sehen. Fünf Kampfteams à zwei Mann und Jasmin als einzige Frau in der Mitte. Die Männer standen wie Verehrer um sie herum, in Schutzwesten und Helmen. Mark hatte seine rosa Sonnenbrille aufgesetzt und eine Zigarette im Mundwinkel. Lars hatte sich einen weißen Strich unter die Augen und auf die Nase gemalt, und Nico hatte die Augen geschlossen.
Auf dem Foto trug Jasmin ihr rotes Haar in einem stramm geflochtenen Zopf, sie lachte wie ein Geburtstagskind und hielt ihre M240 Bravo mit aufgeklappter Lafette in den Händen. Das Maschinengewehr war fast so lang wie sie, und die Muskeln ihrer sommersprossigen Arme waren angespannt. Der schwere Patronengürtel mit vollummantelter Munition ringelte sich neben ihren Kampfstiefeln auf der Erde.
Eigentlich hatte Jasmin nie Angst, aber sie wusste, wann ein Einsatz ungewöhnlich riskant war. Eine Weile betrachtete sie das Foto, um sich bewusst zu machen, dass die Männer ihr vertrauten, dass deren Sicherheit in ihrer Verantwortung lag.
Sie war eine gute Gruppenleiterin.
Mark witzelte gern, es sei gar nichts anderes denkbar gewesen, als ihr das Kommando zu übertragen, weil sie sowieso immer das letzte Wort haben müsse.
„Muss ich gar nicht“, antwortete sie jedes Mal darauf.
Jasmin schob das Foto zurück in die Brieftasche und blieb eine Weile reglos stehen.
Es war äußerst selten, dass sie schlechte Vorahnungen hatte, aber im Augenblick hatte sie das Gefühl, ihre Seele wäre in ein Schattenreich geraten, obwohl doch alles war wie immer.
Sie zögerte, dann setzte sie die Perlenohrringe ein, die sie von ihrer Mutter geschenkt bekommen hatte.
Irgendwie machte sie das ruhiger.
Jasmins Sonderkampfgruppe gehörte zur NATO-Operation Joint Forge, ihr war jedoch ein Spezialauftrag in Leposavi´c zugeteilt worden.
Die serbischen Streitkräfte hatten sich schon vor langer Zeit aus dem Kosovo zurückgezogen. Wie eine riesige Schlange waren die Soldaten auf dem Rückzug durch Dörfer und Städte marschiert. Es hätte jetzt vorbei sein sollen, aber im Nordkosovo gab es immer noch Enklaven, die auf eigene Faust handelten.
Jasmins Gruppe war eine von fünf, die die Berichte von Übergriffen auf die Zivilbevölkerung in Soˇcanica untersuchen sollten.
Sie hatten keine Truppentransporter zur Verfügung, und als der Regen zunahm, wurde es für ihre Jeeps immer schwerer voranzukommen. Die Straßen waren kaputt gefahren, die Straßenränder weggespült, und der Fluss Ibar war trüb vom Lehm.
Vom Fahrersitz aus konnte Jasmin sehen, dass Lars ganz blass im Gesicht war, er hatte seinen Helm abgenommen und hielt ihn jetzt im Schoß.
„Vielleicht wäre es schlauer, in eine Plastiktüte zu kotzen“, neckte sie ihn.
„Mir geht es fantastisch“, entgegnete Lars und hielt den Daumen in die Höhe.
„Wir haben ein bisschen Misty Green für dich aufbewahrt“, sagte Nico grinsend.
„Und Nudeln mit Rattenscheiße“, ergänzte Mark mit einem Lachen.
Die Männer hatten die Erlaubnis erhalten, am Abend zuvor zu feiern. Die Sonderkampfgruppe hatte als Ausrede das chinesische Neujahrsfest angeführt. Sie bastelten aus Popcorntüten rote Lampions und feuerten Leuchtgranaten in den Himmel, die mit ihren Fallschirmen wie verzögerte Sternschnuppen zu Boden segelten. Sie aßen Frühlingsrollen und Instantnudeln und mixten sich einen Drink aus schwedischem Wodka und grünen Teeblättern aus der Hangzhou-Provinz zurecht, den sie Misty Green nannten.
Wie üblich trank Lars zu viel, und als er sich übergab, stand Mark daneben und behauptete, er hätte Rattenkot unter die Nudeln gemischt, um so das Jahr der Ratte willkommen zu heißen.
Als Lars über der Kloschüssel hing und schrie, er werde sterben, grölte der Rest der Gruppe, es sei eine Ehre, unter Jasmins Befehl zu sterben.
Jasmin war in ihr Zelt gegangen, hatte die neuesten Satellitenbilder studiert und versucht, sich das Terrain einzuprägen, während das Fest weiterging. Sie hörte die Jungs gern lachen, tanzen und singen.
Im Laufe der Jahre hatte Jasmin mit drei der Männer der jetzigen Sonderkampfgruppe Sex gehabt, aber das war, bevor sie die Leitung übernahm. Wenn sie ehrlich war, konnte sie sich durchaus vorstellen, mit dem einen oder anderen noch einmal zu schlafen.
Was natürlich nicht passieren würde – auch wenn die Einsamkeit sich in Todesnähe deutlich bemerkbar machte.
Früher am Abend war sie Marks funkelndem Blick begegnet und hatte ihm zugenickt. Er war süß, mit Augen, die immer bereit für einen Flirt waren, und breiten, muskulösen Oberarmen, und sie hatte überlegt, ob sie in dieser Nacht nicht doch eine Ausnahme machen sollte oder lieber nur onanieren.
Der Morgen war mit einem bleifarbenen, regenschweren Himmel gekommen. Der Jeep legte sich zur Seite, braunes Wasser reichte bis über die Räder. Jasmin schaltete runter, drehte das Lenkrad nach links und fuhr langsam den steilen Hang hinauf.
Einen halben Kilometer südlich von Soˇcanica war die Straße vollkommen zerstört, und Jasmin beschloss, zu Fuß weiterzugehen.
Während sie die Gruppe hinunterführte, nahm sie den Geruch von Waffenfett deutlicher als je zuvor wahr. Plötzlich war das Gewicht der Waffe eine Qual. Bei jedem Schritt hüpfte das Maschinengewehr im Tragegurt, als versuchte es, seinem Schicksal zu entkommen.
Ihre düstere Vorahnung wurde immer stärker.
Mark rauchte im Regen und sang China Girl zusammen mit Simon. Alles erschien wie von einem dumpfen Schmerz gedrückt: der nasse Himmel, die kahlen Hügel und das spatzengraue Wasser des Flusses.
Im Funkgerät knisterte es, die Verbindung war schlecht, aber sie konnte genug hören, um zu verstehen, dass die beiden britischen Sonderkampfgruppen kurz hinter Mitrovica festsaßen.
Jasmin beschloss, den Ort zu erkunden, solange sie auf die Engländer warten mussten, und führte die fünf Kampfteams hinunter auf den farblosen Ort zu.
Ihre Ohrringe klickten im Takt ihrer Schritte gegen den Riemen des Helms.
Noch bevor sie das erste Haus erreichten, sahen sie ein kleines Mädchen davor liegen, mit dem Gesicht zum Boden, in dem nassen Gras neben seinem Dreirad. Vor dem Haus saß eine schwangere Frau gegen die Wand gelehnt. Sie war an einer Schusswunde in der Brust verblutet. Ein paar weiße Hühner pickten im Kies vor ihr, und der Regen schlug Blasen in den Wasserpfützen.
Jasmin beruhigte Nico, ließ ihn zu Gott beten und sein Kruzifix küssen, bevor sie die Männer weiter hinunter in den Ort führte.
Ein entfernter Knall, kurz wie ein Peitschenhieb, hallte zwischen den Häusern in der Talsenke wider.
Vor einer langen Treppe zwischen zwei Häusern ließ Jasmin ihre Truppe halten, schob sich vorsichtig zur Seite und schaute hinunter auf den Marktplatz mit Gemüseständen und einem alten Wohnwagen. An die dreißig Männer der serbischen Enklave hatten eine Gruppe Jungen vor sich in einer Reihe aufstellen lassen.
Ein Soldat hielt einen Regenschirm über einen Offizier mit dichtem, schwarzem Bart, der auf einem geblümten Sessel saß. Der Regen vermochte nicht das Blut auf dem Boden vor seinen Füßen wegzuspülen. Ein Junge wurde gezwungen, sich hinzuknien, der Offizier sagte etwas und richtete ihn dann mit einem Pistolenschuss ins Gesicht hin.
Sie wollten alle Jungen aus dem Ort töten.
Während der tote Körper weggeschleppt wurde, bekam Jasmin endlich wieder Funkkontakt zu den beiden britischen Sonderkampfgruppen. Sie waren inzwischen auf dem Weg. In höchstens fünfzehn Minuten würden sie ihnen Unterstützung geben können.
Jasmin konnte sehen, dass der nächste Junge knallrote Wangen hatte, als er gezwungen wurde, sich vor dem Offizier hinzuknien.
Vielleicht waren einige der Meinung, dass sie die Entscheidung aus dem Gefühl heraus getroffen hätte, aber keiner ihrer Männer zögerte, ihrem Befehl zu gehorchen. Jasmin wusste, dass sie innerhalb von nur drei Minuten ihre fünf Kampfteams auf Positionen verteilen konnte, von denen aus es möglich sein würde, ohne eigene Verluste achtzig Prozent des Feindes zu schlagen.
Gerade als ihre Männer in Position waren, sah sie durch das Fernglas eine Kolonne von zehn lehmbeschmierten Personenwagen voll mit serbischen Soldaten auf die Hauptstraße einbiegen, die geradewegs zum Marktplatz führte.
Die Autos hatte sie schon früher auf den Satellitenbildern verfolgt, aber da waren sie auf dem Weg fort von der Stadt gewesen, bereits an Lešak vorbei. Aus irgendeinem Grund waren sie umgekehrt, und damit hatte sich das Risiko für ihre eigene Sonderkampfgruppe potenziert, wenn sie die Hinrichtungen verhindern wollten.
Dennoch gab sie Mark den Befehl, den Henker zu erschießen. Es gab einen Knall, die Kugel traf ihn direkt im Kopf, und Blut spritzte auf die Rückenlehne des Sessels.
Unter den serbischen Männern brach Chaos aus, und innerhalb von dreißig Sekunden hatte Jasmins Gruppe mehr als die Hälfte von ihnen unschädlich gemacht.
Ihr Herz hämmerte heftig, Adrenalin wurde ins Blut gepumpt und machte ihren Verstand eiskalt.
Drei Soldaten mit automatischen Karabinern versteckten sich hinter einer Ziegelsteinmauer.
Jasmins M240 kam zum Einsatz, und die Kugeln schlugen eine Reihe von Löchern in die Mauer, woraufhin eine rosa Blutwolke über der Krone aufstieg.
Gut zehn Soldaten waren im Rathaus verschwunden. Die Tür stand einen Spalt offen und bewegte sich leicht hin und her.
Die Jungs, die sich zu Boden geworfen hatten, als der Kugelhagel einsetzte, standen in der plötzlichen Stille auf. Verängstigt und verwirrt zogen sie sich in eine schmale Gasse neben dem Markt zurück. Ein magerer Junge hielt seinen weinenden kleinen Bruder an der Hand.
Jetzt wurde die Rathaustür aufgestoßen, ein Soldat der serbischen Miliz sprang heraus und lief hinter den Jungen her, wobei er den Splint einer Handgranate zog. Nicos Heckenschützengewehr knallte neben Jasmin, und der Soldat wurde im Kopf getroffen. Er fiel vornüber auf den Bauch und blieb still liegen, bis die Handgranate explodierte und der Körper in einer Staubwolke verschwand.
Die Jungen rannten die Gasse zur Talsenke hinunter, und Jasmin schoss Türen und Fensterläden des Rathauses zusammen, um ihnen Zeit zu verschaffen.
Als die Kinder verschwunden waren, guckte sie kurz nach rechts. Die Autos mit der serbischen Unterstützung hatten angehalten, zurückgesetzt und einen anderen Weg eingeschlagen. Sie bogen von der Hauptstraße ab und rasten mit hoher Geschwindigkeit einen Hügel hinauf, der sie in den Rücken von Jasmins Gruppe brachte. Ganz offensichtlich hatten sie Funkkontakt mit jemandem, der ihnen sagte, wo die Angreifer versteckt waren.
Mark und Vincent hatten leichte Schussverletzungen erlitten. Bald würde die Lage nicht mehr zu kontrollieren sein. Jasmin erteilte Lars und Nico den Befehl, an Ort und Stelle zu bleiben und den anderen Feuerschutz zu geben, während diese sich in den Schutz der alten Kirche begaben. Ihr war klar, dass die beiden Zurückbleibenden abgeschnitten sein würden, aber es gab keine Alternative. Sie selbst sprang auf, klappte die Lafette auf und legte sich auf den Bauch hinter das MG. Solange die Munition reichte, würde sie die Soldaten aus den Wagen daran hindern können, näher zu kommen.
Ihre Finger zitterten vor Adrenalin im Blut, als sie das Zielfernrohr justierte.
Jasmin konnte genau parallel zu den Häuserfassaden die Straße entlangschießen, aber sie hatte keine Möglichkeit, sich gegen Angreifer von hinten zu wehren. Doch in diesem Moment war ihre einzige Priorität, ihre Gruppe am Leben zu erhalten, bis die britische Unterstützung eintraf.
Sie sah, wie es Mark und den anderen Männern gelang, sich zur Kirche zu flüchten, während sie schoss. Ein serbischer Soldat sprang mit seinem sandfarbenen Automatikkarabiner vor, und sie traf ihn im Bauch und schoss dann ein rostiges Moped vor einer Wand in Stücke.
Jasmin hörte Rufe hinter sich, aber sie hatte keine Zeit, sich umzudrehen. Um ihre Männer zu decken, schoss sie immer weiter, die Häuserfassaden entlang. Splitter eines Fensterladens spritzten hoch, und ein vorstehender Eckstein zerbarst. Sie schoss und schoss, um den Feind zwischen den Häusern zurückzuhalten. Sie schoss und spürte den Rückschlag im Körper, die Hitze des Metalls und den Geruch von Schießpulvergasen. Schweiß lief ihr in die Augen, und der Knall der Salven hallte in ihren Ohren. Jasmin spürte, wie ihr die Finger taub wurden, und dann begann plötzlich ein sonderbarer Schmerz in ihrem Rücken zu brennen.
2
Jasmin Pascal-Andersson wachte im Országos-Orvosi-Krankenhaus in Budapest aus der Narkose auf. Am Fenster erahnte sie eine Gestalt und nahm an, es sei Mark. Sie versuchte zu reden, hatte aber noch keine Stimme. Es war schwer, Mark in den gezackten Lichtkreisen vor ihren Augen auszumachen. Er hatte einen ihrer Ohrringe dabei, setzte sich auf den Bettrand und sagte etwas, das sie nicht verstand, streichelte ihre Wange und befestigte die kleine Perle in ihrem linken Ohrläppchen. Mit einer kraftlosen Hand schob sie die feuchte Sauerstoffmaske hoch und atmete schwer.
„Der Tod funktioniert nicht“, brachte sie hustend heraus.
„Jasmin, du lebst, du bist nicht tot“, flüsterte Mark und versuchte zu lächeln.
„Die Menschen stehen im Hafen Schlange, um auf die Schiffe zu kommen“, keuchte sie. „Überall hängen rote Lampions, alle Schilder sind auf Chinesisch, ich verstehe nicht … denn alles ist falsch, ich verstehe nicht …“
„Das wird schon wieder“, versuchte er sie zu beruhigen.
Eine Krankenschwester kam ins Zimmer und fragte Jasmin auf Englisch, wie es ihr gehe, blickte auf ihre Sauerstoffwerte und die elektrokardiografische Herzkurve. Jasmin schaute Mark in die Augen, hatte dabei aber das Gefühl, durch ihn hindurchzusehen, direkt auf die unsortierten Bilder in ihrem eigenen Kopf.
„Gleich kommt ein Arzt“, erklärte die Schwester und ging wieder hinaus.
„Überall war die Triade“, fuhr Jasmin fort und kämpfte gegen die Tränen an. „Ich habe gesehen, wie sie Eltern ein Kind wegnahmen.“
„Ich höre, was du sagst, aber …“
„Es gibt keine Gerechtigkeit dort“, fuhr sie fort und strich sich über den Hals. „Ich habe alles gesehen, ich stand am Kai, ich habe Nico gesehen, wie er an Bord gegangen ist, mein Gott …“
„Nico ist tot, Jasmin“, sagte Mark und streichelte ihre Hand.
„Das sage ich doch, ich habe ihn im Hafen gesehen.“
„Lars ist auch tot.“
„Oh Gott“, sie weinte und drehte den Kopf zur Seite.
„Anscheinend hast du ziemlich schlimme Sachen geträumt …“
„Ich ertrage es nicht, ich ertrage es nicht“, schrie sie mit Tränen in den Augen. „Wir haben das Totenreich zerstört, es funktioniert nicht mehr, es ist nicht gerecht, wir machen alles kaputt …“
Jasmin verstummte, atmete aber immer noch heftig, als der Arzt die Tür öffnete und das Zimmer betrat. Ihre Herzfrequenz schoss nach oben, der Sauerstoffgehalt im Blut sank, und im Schlauch für das Wundwasser war Blut zu sehen.
Der Arzt trat ans Bett und erklärte ihr, sie werde wieder gesund werden, sie habe Glück gehabt, und berichtete dann von der Schusswunde und der notwendigen Operation.
Die Kugel war durch den großen Rückenmuskel Latissimus dorsi gedrungen, durch die elfte Rippe, hatte den Dickdarm gestreift und den Körper durch den Bauch wieder verlassen. Sie hatte viel Blut verloren, aber die Operation war gut verlaufen, und sie würde keine bleibenden Schäden zurückbehalten.
„Hätte man Sie fünf Minuten später gebracht, wäre es nicht mehr möglich gewesen, Sie zu retten“, erklärte er mit ernstem Blick. „Als wir Sie ins Koma versetzt haben, standen Sie durch den Blutverlust unter Schock, und Ihr Herz stand für eine Minute und vierzig Sekunden still.“
Nach der Rückkehr nach Schweden wurde Jasmin im Krisen- und Traumazentrum in Stockholm behandelt. Sie saß auf einem hellgrünen Sofa in dem heruntergekommenen Besprechungszimmer und füllte das obligatorische Formular aus, um über sich und ihre Probleme Auskunft zu geben. Als sie zu dem Abschnitt kam, in dem sie erklären sollte, was sie erlebt hatte, streikte der Stift.
Die Bilder dessen, was auf der anderen Seite zu erwarten war, fuhren Jasmin durch den Kopf. Als sie sich an die Gewalt in dem dunklen Hafen erinnerte, die Menschen, die in der Schlange standen, und den Geruch nach Dieselöl, begannen ihre Lippen zu prickeln, und sie bekam nur noch schwer Luft.
Sie hob eine zitternde Hand vor den Mund und dachte daran, wie sie Nico gesehen hatte, der mit gesenktem Blick an Bord eines rostigen Schiffes verschwand.
Auf dem Sessel ihr gegenüber saß eine junge Frau mit dem gleichen Formular. Sie füllte es langsam aus, während ihr die Tränen über das vernarbte Gesicht liefen, sodass ihr Hidschab dunkle Flecken bekam.
Jasmin musste schwer schlucken, schaute dann wieder auf die Frage, was sie erlebt habe, wollte zunächst einfach die Zeilen leer lassen, entschied sich dann doch anders und schrieb „ich bin gestorben“.
Drei Monate lang bekam sie Neuroleptika gegen die psychotische Wahnvorstellung, das Totenreich wirklich gesehen zu haben. Mark war die ganze Zeit bei ihr und unterstützte sie. Die Medikamente wurden langsam reduziert, während sie bis November an der kognitiven Verhaltenstherapie teilnahm.
Bemüht lächelte Jasmin, als der weißhaarige Psychologe erneut wiederholte, dass die halluzinatorische Vision von den traumatischen Erlebnissen während des Gefechts in Soˇcanica verursacht worden sei. Ein ganz natürlicher Abwehrmechanismus. Die Erinnerungsbilder der chinesischen Hafenstadt resultierten aus der Feier des chinesischen Neujahrsfestes der Kampfgruppe, und die Schlange stehenden Menschen am Kai seien ein mentales Spiegelbild der Jungen, die darauf warteten, hingerichtet zu werden.
„Oder aber ich habe Ihnen etwas berichtet, das Sie retten kann, wenn Sie sterben“, erwiderte Jasmin.
Das Feuergefecht im nördlichen Kosovo zog eine interne Untersuchung nach sich. Laut Abschlussbericht war Jasmins Gruppenführung absolut fehlerfrei und außergewöhnlich gut gewesen. Sie hatte ein Massaker gestoppt und den größten Teil ihrer Kampfgruppe gerettet durch die schwierige Entscheidung, gemeinsam mit einigen Kampfteams an einem strategischen Punkt zu bleiben. Ihr wurde die NATO Meritorious Service Medal verliehen, doch sie weigerte sich, sie entgegenzunehmen und bei der Zeremonie anwesend zu sein.
Während der Würdigung ihres Einsatzes befand Jasmin sich im Bett eines Hotelzimmers. Sie saß rittlings auf einem Mann, den sie im Fitnessstudio getroffen hatte. Mit seinem blonden Haar ähnelte er Nico, und es war sonderbar und gleichzeitig erregend, ihn in sich zu spüren.
Jasmins rote Locken waren zerzaust, ihr Blick glasig von fehlendem Schlaf. Die Sommersprossen waren verblasst, sahen aus wie kleine Brotkrümel in dem geröteten Gesicht. Ihre linke Wange war ganz rot von den Bartstoppeln, an denen sie sich gerieben hatte.
Das große Bett war von der Wand weggerutscht, und Jasmin konnte die Staubmäuse auf der Auslegware und die Kabel der Nachttischlampen sehen.
Es kam nicht oft vor, dass sie mit irgendeinem Mann im Hotelzimmer landete, aber ab und zu erschien es ihr unbedingt nötig. Diese flüchtige Nähe und die Leere hinterher gaben ihr ein Gefühl der Wirklichkeit.
Sie wusste, sie würde diesen Mann niemals wieder treffen, da sie es nicht ertrug, mit Menschen zu verkehren, die nicht verstanden, was sie und ihre Männer an diesem milden Wintertag im nördlichen Kosovo durchgemacht hatten.
Jasmin hatte Glück gehabt, die Schusswunde war schnell verheilt, und die Narbe vom Austrittsloch der Kugel verblasste mit der Zeit, bekam einen hellrosa Ton und sah schließlich fast aus wie das Blütenblatt einer Rose.
Schnell begriff sie, dass sie als psychisch krank betrachtet werden würde, solange sie von der Hafenstadt sprach. Gewisse Wahrheiten musste man für sich behalten.
Sie zog zu Mark, versuchte bei den alltäglichen Arbeiten zu helfen, doch die meiste Zeit lief sie in seinem Haus in einem ausgebeulten Pullover herum, der ihr bis über die Hüften hing, und dazu ausgeblichene, abgetragene Jeans, deren Hosenbeine ausgefranst waren.
Sie hatten eine sexuelle Beziehung, und im Nachhinein erschien ihr die Zeit mit Mark nur wie aus aufblitzenden Fragmenten zu bestehen: das Tequilaglas, das auf den Tisch fiel, tschechisches Bier und laut dröhnender Eminem, Gäste mit Blumen aus den Beeten der Nachbarn, Angst und schmerzstillende Tabletten, der Grill wie ein Feuerball aus brennendem Fett und Sex mit Mark auf dem zerwühlten Bett im Alkoholrausch oder bäuchlings auf dem Ledersofa, auf dem Küchenboden oder in dem taufeuchten Gras am See.
Dann blieb ihre Menstruation aus. Sie dachte nicht weiter darüber nach, aber nach zwei Wochen kaufte sie sich doch einen Schwangerschaftstest.
Als Jasmin den blauen Strich auf der Skala sah, blieb ihr fast die Luft weg. Sie wusch sich das Gesicht mit eiskaltem Wasser, setzte sich auf den Deckel der Toilette und lachte leise vor sich hin.
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