Polarschimmer Polarschimmer - eBook-Ausgabe
Eine Welt aus Eis und Licht – 54 Wochen in der Antarktis
— Antarktischer Alltag auf der Neumayer-Station III, eine begeisterte Beschreibung von der Stationsleitung und ÄrztinPolarschimmer — Inhalt
Ein Blick hinter die Kulissen einer Überwinterung auf Neumayer III
Wenn draußen der Sturm tobt und die Polarlichter vor dem Fenster tanzen, fühlt Aurelia Hölzer sich geborgen und lebendig. Nichts Schöneres kann sie sich vorstellen, als gemeinsam mit ihrem Team die Abgeschiedenheit auf der antarktischen Forschungsstation Neumayer III zu erleben.
Eine Liebeserklärung ans Leben im Eis
In „Polarschimmer“ lässt die Chirurgin uns am oft etwas wunderlichen Alltag im Eis und auf der Forschungsstation teilhaben. Sie gibt Einblicke in die einzelnen Arbeits- und Forschungsbereiche, Hintergründe zur Tierwelt in einem fragilen Ökosystem, und erklärt, wie diese einzigartige Station funktioniert.
Liebevolle Naturbeschreibungen treffen auf Stahl und Technik
Dabei ist die Realität nicht nur romantisch-heimelig. Sieben Monate lang ist das neunköpfige Team in ihrem ungewöhnlichen Zuhause ganz auf sich gestellt und hätte selbst im Notfall keine Möglichkeit zu evakuieren. Ein inspirierender Bericht über ein außergewöhnliches Jahr.
„›Polarschimmer‹ kann ich wirklich nur empfehlen.“ Bettina Tietjen, NDR DAS!
Mit einem Vorwort von Prof. Dr. Antje Boetius, Direktorin des Alfred-Wegener-Instituts, Helmholtz-Zentrum für Polar- und Meeresforschung.
Leseprobe zu „Polarschimmer“
Vorwort
Den antarktischen Kontinent zu besuchen, ist auch für Polarforscherinnen wie mich immer wieder etwas Besonderes. Die Antarktis brach vor knapp 50 Millionen Jahren von Australien ab, verdriftete und vereiste. Allein der Weg dorthin macht die Dimensionen des Südozeans und dieses Kontinents klar. Wenn man sich der Antarktis nähert, sieht man zuerst imposante Eisberge, dann das Meereis, das den Kontinent umschließt. Es wird gerade immer weniger, sodass man an manchen Stellen schon direkt die Küste erreichen kann. Je nachdem, ob und wo man per Schiff [...]
Vorwort
Den antarktischen Kontinent zu besuchen, ist auch für Polarforscherinnen wie mich immer wieder etwas Besonderes. Die Antarktis brach vor knapp 50 Millionen Jahren von Australien ab, verdriftete und vereiste. Allein der Weg dorthin macht die Dimensionen des Südozeans und dieses Kontinents klar. Wenn man sich der Antarktis nähert, sieht man zuerst imposante Eisberge, dann das Meereis, das den Kontinent umschließt. Es wird gerade immer weniger, sodass man an manchen Stellen schon direkt die Küste erreichen kann. Je nachdem, ob und wo man per Schiff oder Flugzeug anreist, tauchen schließlich die Inseln der Antarktis auf oder das dicke Schelfeis, das die Küste umgibt, oder man landet gleich auf dem kilometerdicken Eisschild der Antarktis, aus dem nur wenige Bergspitzen ragen.
Alexander von Humboldt schrieb in seinem Buch Kosmos über diesen besonderen Naturgenuss, der uns Menschen durch die Betrachtung völlig unbekannter Landschaften zuteilwerde. Er sah einen Zusammenhang zu Sehnsüchten, Fantasien und Gefühlen der Kindheit, aber auch zur Neugierde und zur Vernunft, die dem Forschungsprozess zugrunde lägen. Auch bei Aurelia Hölzer setzte die Sehnsucht nach der Welt aus Eis und Schnee bereits in ihrer Kindheit ein. Als chirurgische Oberärztin bahnte sie sich den Weg zu unserer deutschen Antarktisstation und verbrachte im Team der Überwinterer ein Jahr auf Neumayer III.
Mit ihren einmaligen Erlebnissen und Empfindungen, ihrer Begeisterung für die polare Landschaft und die Teamarbeit auf der Forschungsstation nimmt sie uns Lesende auf eine ebenso abenteuerliche wie erkenntnisreiche Reise mit, entführt uns entlang ihrer persönlichen Beobachtungen in diese besondere Welt. Wir können eintauchen in ihr Erleben, Staunen, ihre Begeisterung. Wir haben teil an der schweren Arbeit vor Ort und dem Wandel durch die Jahreszeiten. Wir lernen das Team der Überwinterer kennen, die in kurzen Porträts vorgestellt und gewürdigt werden. Aurelia Hölzer erzählt, wie sie die Monate in der absoluten Abgeschiedenheit bewältigen – und dabei Forschung auf Spitzenniveau betreiben. Sozusagen im Vorbeigehen erläutert sie auch die verschiedenen Beobachtungsstationen und Zeitreihen an Neumayer und vermittelt die Methode Polarforschung so klar und eindrücklich wie auch ihre eigenen Aufgaben als Ärztin und Stationsleiterin vor Ort.
Heute gibt es mehr als 80 Forschungsstationen auf dem Kontinent. Mit Satelliten und Flugzeugen beobachten die Menschen seine Gletscher, mit Forschungsschiffen vermessen sie das Südpolarmeer von seinen Buchten bis zu den Tiefseegebirgen. Die Wissenschaftler vor Ort werden unterstützt von Köchen, Ärzten und einer Vielfalt von technischen Kollegen. Alle haben viel zu tun, besonders, wenn sie über den Winter bleiben und in der monatelangen Dunkelheit, Kälte und dem Extremwetter der Natur ihre Geheimnisse abtrotzen. Denn noch haben wir Menschen kein umfassendes Verständnis von der Vielfalt des Lebens im Südpolarmeer gewonnen und auch noch nicht von der Rolle des Kontinents und seines Eises in unserer Entwicklung. Zu den großen Fragen gehört, wie die Antarktis auf die Klimaerwärmung reagieren wird, wie weit das Meereis schwindet, das Schelfeis bricht und Eismassen von Land ins Meer verloren gehen. Und ob es uns gelingen wird, die einzigartige Vielfalt des Lebens zu bewahren. Mit Aurelia Hölzers Buch können Sie selbst auf Entdeckungsreise gehen und herausfinden, wie heute in der Antarktis geforscht, gearbeitet und gelebt wird – vor allem aber können Sie sich von ihrer Begeisterung für die Landschaft aus Eis und Schnee anstecken lassen. Viel Freude dabei!
Prof. Dr. Antje Boetius
Direktorin des Alfred-Wegener-Instituts, Helmholtz-Zentrum für Polar- und Meeresforschung
Prolog
Es ist so weit. Micha, Werner und ich stecken schon in den Überlebensanzügen, der fürsorgliche Hubschraubertechniker kontrolliert noch schnell, ob sie wasserdicht sitzen. Fest umarmen wir unsere Teamkameraden, die später nachkommen. Es ist eigenartig, nach all der gemeinsamen Zeit voneinander getrennt zu werden. Jetzt geht es Schlag auf Schlag: Gepäck hinten in den Hubschrauber hineinschmeißen, Helme aufsetzen, einsteigen, anschnallen, und schon heben wir ab, schweben einen Moment lang neben dem Schiff, wo unsere Freunde an der Reling stehen und uns zum Abschied winken. Dann drehen wir ab, die Polarstern entschwindet. So viele gute Wünsche begleiten uns: „Haltet die Ohren steif und bewahrt euch euer fröhliches Lachen“, „Seid nett zueinander“, „Zieht euch warm an“, „Passt gut aufeinander auf und bleibt gesund“, „Schön, dass ihr an Bord wart“, „Ihr werdet uns fehlen“, „Bis in einem Jahr.“
Wir fliegen zügig über offenes Wasser dahin. Kaum Eisschollen in Sicht. Micha, Werner und ich drücken uns die Nasen an den Scheiben platt. „Fliegen ist Ruhe und Spaß“, sagte der niederländische Chefpilot vor dem Abheben. Von Ruhe keine Spur, so viel steht fest, wir sind viel zu aufgeregt. Heute werden wir schließlich ausgeflogen zu unserem neuen Zuhause, werden ausgesetzt auf einem Kontinent, der im Grunde unbesiedelt ist und den niemand von uns bisher betreten hat. Jetzt sehen wir in der Ferne das Schelfeis auftauchen, fliegen über einen zerborstenen Eisberg, der in atemberaubenden Formationen unter uns hindurchzieht, leuchtende Eisbrocken, türkisfarbene Canyons. „Isn’t the world beautiful!“, sagt der Pilot durch. Das ist sie wirklich, die Welt, wunderschön.
Schon fliegen wir über die Schelfeiskante und sehen jetzt nur noch Eisfläche: kahl, flach, weiß, wohin man auch schaut. Und da hinten ist sie, die Neumayer-Station! Ein Stahlkasten auf Stelzen im endlosen weißen Nichts, drum herum Pistenbullys und Frachtcontainer. Sieht tatsächlich aus wie in den Dokus, fährt es mir durch den Kopf. Ruckzuck sind wir da, fliegen einen Kreis um die Station herum, sehen unten kleine Menschlein stehen, die uns winken, und landen butterweich. Die Tür geht auf, und nun heißt es rausspringen und Gepäck ausladen – bei laufendem Hubschrauber. Der Heli-Techniker passt auf, dass in der Aufregung niemand in den Heckrotor läuft. Und da kommen sie schon durch den Schnee gestapft, uns entgegen, die Altüberwinternden in ihren roten Polaranzügen. Ihre Ablöse ist da. Wir sind die Neuen. Wir umarmen uns, und sie packen gleich beim Gepäck mit an.
Vor der Station wurde zu unserem Empfang eine großzügige Eisbar gebaut, dort stehen freundlich-neugierige Menschen. Ich gehe herum, sage „Hallo“, „Ich bin Aurelia“, „Hallo, ich freu mich, dass wir endlich da sind, hallo“. Ich kann mir kaum einen Namen merken, gehe an die Bar, nippe an irgendwas, rede mit irgendwem. Im Grunde geht der Rest unter in völligem Überwältigtsein. Nach und nach kommen unsere Teamkameraden an. Hubschraubergeknatter, Kreis um die Station, Landung, Gepäck ausladen, Umarmungen. Schließlich sind wir alle neun angekommen und können es kaum glauben, dass wir tatsächlich hier sind. Was für ein Ort!
Um uns herum ist alles flach und weiß, strahlt aber eine Intensität aus, die ich so noch nie erlebt habe. Ich bin mir kaum sicher, ob das hier noch der Planet Erde sein kann, so fremd ist es, so gigantisch und seltsam. Beim Anblick dieser Eiseinöde muss ich mich innerlich zusammennehmen, muss diese Atmosphäre regelrecht auf Abstand halten. Das soll nun unser Zuhause sein? Fühlt sich mitnichten danach an, dieser technische Kasten im schreiend reinen, unbegreiflichen Nichts. Es ist so eigenartig und zugleich unwirklich schön, dass ich es nicht mal annähernd erfassen kann. Heimelig ist es jedenfalls nicht. Ich bin fassungslos, überfordert und begeistert zugleich. Unser Koch Werner und ich fallen uns immer wieder ungläubig um den Hals. Wir sind da. Wie irre, wie unglaublich. Wie wahnsinnig gut, dass wir uns beworben haben, dass wir den Mut hatten, unsere Hüte in den Ring zu werfen, beglückwünschen wir uns gegenseitig. Ist das krass hier! Wir schauen uns wieder und wieder um. Einfach nicht zu fassen! Es fühlt sich an, als hätte jemand die Stopptaste der Welt gedrückt. Als hätte alles angehalten, vielleicht sogar aufgehört zu existieren – bis auf meine eigene kleine Existenz, die in diesem überwältigend präsenten Nichts weiter vor sich hin dudelt wie ein übrig gebliebenes Radio, unpassend, fehl am Platz. Ich bin unfähig, alles einzuordnen, stehe neben mir, überfordert von diesem überwältigenden Ort, erschöpft auch von schlafarmen Nächten auf dem Schiff und einem Marathon emotionaler Abschiede. So gebe ich den Widerstand auf und nehme meinen seltsamen Zustand einfach hin.
Jetzt bin ich hier, in dieser endlosen weißen Weite von surrealer, intensiver Schönheit – vollgestellt mit Technik. Willkommen an Neumayer, Antarktika.
Es ist der 17. Januar, Polarsommer. Ein Jahr liegt vor mir an diesem unwirklichen, eigenartigen Ort. Eine Überwinterung in totaler Abgeschiedenheit ohne die Möglichkeit, zu evakuieren oder abzubrechen, alleine hiergelassen mit meinem Team. Es erscheint mir jetzt unglaublich. Ich kenne Eis und Schnee und Einsamkeit, doch dies ist völlig anders. Bei aller Begeisterung fühlt es sich nicht an wie ein Platz, an dem man zu Hause sein kann, es mutet so fremd an, so außerirdisch. Trotz umfassender Vorbereitung trifft mich die Antarktis völlig unerwartet. Nie gefühlt, nie gesehen, alles unbegreiflich.
Ins Eis
Der 1. August ist ein großer Tag. Heute lerne ich die Menschen kennen, mit denen ich die nächsten eineinhalb Jahre verbringen werde. Mit denen ich in der Antarktis überwintern werde, in einem einzigen Haus, unentrinnbar gemeinsam, ausgesetzt auf einem uns unbekannten Kontinent. Denen ich in aller Absolutheit mein Leben und ein großes Stück meines Frohseins in die Hände legen werde und sie mir ihres. Acht Menschen, die wie ich bereit sind, in Eis und Schnee zu ziehen, sich auf eine ihnen unbekannte Welt einzulassen – und aufeinander. Bisher weiß ich nichts von ihnen, außer dass es sie gibt. Irgendwo laufen sie schon herum, sind wie ich auf dem Weg nach Bremerhaven, wo wir unsere gemeinsamen WGs für die Vorbereitungszeit beziehen. Vier Monate lang werden wir hier miteinander wohnen und in allen speziellen Belangen vorbereitet werden für ein Leben in der Antarktis und das Arbeiten auf einer Forschungsstation. Ich selbst werde in unserer Überwinterung die Leitung innehaben und zusätzlich die Ärztin und Chirurgin sein für alles, was passieren mag. In wenigen Stunden werde ich wissen, mit welchen Menschen ich in dieses Abenteuer aufbrechen werde, mit wem ich das teilen werde, was als großes Unbekanntes vor uns liegt.
Schon die Bahnfahrt nach Bremerhaven ist aufregend. Jeder Regentropfen an der Scheibe ist heute interessant, jedes Norddeutscherwerden der Landschaft verheißungsvoll. Beim Umsteigen in Hannover könnte ja schon jemand von meinen Mitüberwinternden in den gleichen Zug nach Bremerhaven steigen, überlege ich. Ich tigere am Bahnsteig entlang, verstohlen auf der Suche nach Menschen, die viel Gepäck haben und aussehen, als hätten sie Aufregendes vor sich. Eine rundliche, sportlich wirkende Frau Mitte dreißig käme meiner Meinung nach infrage. Ich stelle mich in ihre Nähe, unschlüssig, ob ich sie ansprechen soll, bin ungewohnt schüchtern heute. Immer wieder starre ich zu ihr hinüber, bis sie, leicht irritiert, ihre Sachen nimmt und sich woanders hinstellt.
Bremerhaven. Im Gebäude D des Alfred-Wegener-Instituts Helmholtz-Zentrum für Polar- und Meeresforschung hole ich die Wohnungsschlüssel ab. „Ihre Mitbewohnerin war auch schon da“, sagt der Pförtner, als er mir die hinterlegten Schlüssel überreicht. Sofort bin ich wieder aufgeregt. Wer sie wohl ist? Mindestens noch eine Frau ist also dabei. Natürlich wäre ich auch als einzige Frau gefahren, aber es macht trotzdem einen Unterschied. Ich fahre zur angegebenen Adresse und bin gerade dabei, die Haustüre aufzuschließen, als es hinter mir ruft: „Ja hallo, überwinterst du vielleicht?“ Ich habe, Bremerhaven im Hochsommer, Skistöcke an meinen Rucksack geschnallt. Als ich mich umdrehe, steht da ein drahtiger Kerl und strahlt mich an. „Servus, ich bin der Werner, ich bin der Koch. Und wer bist du?“
„Ich heiße Aurelia, ich bin die Chirurgin“, stelle ich mich vor. Wir lachen beide und schleppen unsere Sachen hinein. Auf drei Stockwerken sind wir in den WGs untergebracht. Als ich, äußerst gespannt, die Tür der Wohnung „Seefalke“ aufschließe, ist meine Mitbewohnerin ausgeflogen. Sportlich aussehendes Gepäck steht sehr ordentlich im Flur, in der Küche findet sich ein Zettel: „Hallo, ich bin Katrin …“ Sie ist noch mal in die Stadt gegangen und überlässt mir die Zimmerwahl. Der Zettel endet mit: „Ich bin ein bisschen aufgeregt.“ Sie klingt sehr nett. Und aufgeregt sind wir alle! Werner und ich setzen uns gleich in seine Küche, trinken Kaffee und schwatzen. Die Wohnungstüre lassen wir offen. Immer wenn wir unten den Schlüssel im Schloss hören, flitzen wir ins Treppenhaus, um den nächsten Neuankömmling abzufangen.
Abends sind wir komplett, die Küche ist voller strahlender Gesichter, voller Aufregung, Vorfreude und Neugier. Jeder stellt sich kurz vor und erzählt ein wenig von sich. Da ist Katrin, meine Mitbewohnerin. Sie ist Seefahrerin und 40 Jahre alt. Sie hat die technische Leitung inne und ist meine Stellvertreterin als Stationsleitung. Von Haus aus ist sie Schiffsbetriebsingenieurin und war zuletzt Erste Ingenieurin auf einem riesigen Kreuzfahrtschiff. Sie hat schon auf vielen Kontinenten gelebt, liebt Technik und Tüfteln, kann enorm gut segeln, isst gerne Eis mit Sahneberg und spielt Klassische Gitarre. Sie trägt eine große Verantwortung, denn wenn sie es als letzte technische Instanz nicht gebacken bekommt in der Antarktis, wird es für uns alle kalt und dunkel werden.
Dann ist da Hannes, 32, seines Zeichens Umweltwissenschaftler. Er ist frisch aus Schweden angereist, liebt Schnee, Eis und unberührte Natur und wird in der Antarktis das luftchemische Observatorium betreuen, bei dem klimawirksame Gase und Aerosole gemessen werden. Hobbys: viele. Unter anderem Schnitzen, Brotbacken und Eisbaden in zugefrorenen schwedischen Seen. Außerdem kann er mehr Chili im Essen vertragen als wir alle zusammen und ist, wie wir später noch erkennen werden, ein exzellenter Schlösserknacker.
Da ist auch Michael, 27. Er kommt aus dem Bremerhavener Umland, liebt Australien, Sonne, Partys, Reisen und ganz besonders die Fotografie. Er ist unser Elektroingenieur und wird sich nicht nur um die Elektrik an der Station, sondern auch um die Wartung der Motorschlitten und viele andere technische Belange kümmern.
Benita ist Geophysikerin und 26 Jahre alt, kommt gebürtig aus dem schwäbischen Ellwangen (das Schwäbische ist ihr wichtig), ist sehr sportlich und liebt prachtvoll hergerichtetes veganes Essen. Sie malt viel, klettert für ihr Leben gern und hat schon in Nepal Berge bestiegen.
Karsten kommt aus Brakel in Ostwestfalen-Lippe, ist 32 Jahre alt und unser IT-Ingenieur und Funker. Er wird nicht nur dafür sorgen, dass die viele IT auf der Forschungsstation läuft, sondern auch dafür, dass wir Kommunikation nach draußen, in den Rest der Welt, haben und die wissenschaftlichen Messdaten an unser Institut und in die weltweiten Netzwerke übertragen werden. Er ist Einsatztaucher, engagiert sich beim Katastrophenschutz, liebt Tüfteln, Basteln und Funken und hat einen schier unerschöpflichen Fundus an Witzen, wie schon bald klar wird.
Alicia ist Geophysikerin, 25 Jahre alt und war bisher beruflich vor allen Dingen auf Vulkanen unterwegs. Zusammen mit Benita ist sie in der Antarktis für Erdbeben und das Erdmagnetfeld zuständig. Sie ist leidenschaftliche Akrobatin und ganz nebenbei eine Ideenschleuder für Spiele, Spaß, Kreativität und alle Dinge, die das Leben schöner und fröhlicher machen.
Werner, 60, ist unser Koch und mit allen Wassern gewaschen. Er kann von der Dorfkaschemme bis zum Schweizer Fünfsternehotel alle kulinarischen Klaviertasten spielen und hat schon die wildesten Sachen erlebt. So ist er zum Beispiel mit dem Motorrad um die halbe Welt gefahren und wurde schon an der Copacabana überfallen. Viele Jahre hat er eine gehobene Betriebskantine geleitet, aber jetzt hat’s ihm gelangt. Als ich ihn frage, ob es problematisch sei, dass ich Vegetarierin sei, meint er nur: „I wo. Mir doch egal, was einer isst. Ich koch alles.“ Das soll sich auch für Benita als wahrer Segen erweisen.
Schließlich ist da Markus, 42, unser Meteorologe. Eigentlich ist er gar kein Meteorologe, sondern promovierter Quantenphysiker und nebenher passionierter Segelflugpilot, daher hat er solide Wetterkenntnisse. „Ich war halt wahnsinnig genug, mich zu bewerben, und die waren wahnsinnig genug, mich zu nehmen“, stellt er sich vor und strahlt über das ganze Gesicht. Er hat an Dunkler Materie geforscht, liebt jede Form von Kreativität und Spontaneität, mag anspruchsvolle Filme und hat eine Schwäche für Mitternachtssnacks.
Und dann bin da noch ich, 42 Jahre alt und die Ärztin und Leitung des Teams. In einem idyllischen Bergdorf im Südschwarzwald aufgewachsen, studierte ich später in Freiburg, Bordeaux und Trinidad Medizin. Zunächst zog es mich in die Allgemein- und Unfallchirurgie, dann spezialisierte ich mich auf Gefäßchirurgie und war Oberärztin an einem Universitätsklinikum mit großem Behandlungsspektrum. Schon immer liebte ich ein facettenreiches Leben. Die Stille in unberührter Natur hat es mir ebenso angetan wie Livemusik in einer pulsierenden Großstadt. Besonders gern bin ich auf Reisen, liebe die Offenheit daran, den Perspektivwechsel und die Komik der manchmal absurden Situationen. So fand ich mich schon dabei wieder, mit einem Fahrrad auf der Suche nach einem Viehmarkt durch die Steppe in Burkina Faso zu radeln, in China in einer Karaokebar im Duett zu singen und in Myanmar in einem buddhistischen Schweigekloster zu meditieren. Ich mag Gemeinschaft und Geselligkeit, und ich trage gern Verantwortung.
Hier sind wir also, das Team der 42. Überwinterung der Neumayer-Station. Wir sind die neuen „ÜWIs“, das ist kurz für Überwinternde. Auf Anhieb fühlen wir uns wohl miteinander. Bis spät sitzen wir in der Küche, erzählen uns voneinander und schmieden bei viel Gelächter großzügige Pläne, was wir alles auf die Beine stellen werden, wenn wir gemeinsam in der Isolation im Eis wohnen: Sterne-guck-AG, Platzwunden-Nähkurs, Schwäbisch als Fremdsprache, Quantenphysik für Niedrigbegabte, Schweißworkshop eins, zwei und drei, Funken für Anfänger, Akrobatik-AG, Yoga und Work-outs, Topfdeckelorchester, Brotbacken, das kleine Einmaleins der schwarzen Löcher, Bilder malen, Gruselfilme drehen, Eisskulpturen machen … und heimlich den 28-Stunden-Tag einführen, wenn alle mehr schlafen wollen in der Polarnacht (das merkt doch sowieso niemand in Europa …).
Während wir um den Küchentisch sitzen und Pläne schmieden, drängt sich uns das Szenario auf, was wäre, wenn wir nicht wieder abgeholt würden, möglicherweise vergessen da unten im Eis. Oder aber die zivilisierte Welt ginge zwischenzeitlich unter, und niemand könnte mehr zu uns kommen. Würden wir dann dortbleiben und eine neue Gesellschaft gründen, die antarktisch spricht? Könnte man eine Pinguinfarm betreiben, oder würden wir jemanden aufessen und wen zuerst? Die Wahl fällt gleich auf Alicia, unsere Jüngste, denn wir anderen wären schon zäher zu kauen. Oder suchten wir uns eine solide Eisscholle und versuchten, mit dem Windrad als Antrieb nach Punta Arenas an der Südspitze Chiles zu entkommen? Die Küche dampft nur so vor Ideen und Fröhlichkeit. Als ich später erschöpft in die Federn sinke, schreibe ich noch schnell meiner Schwester: „So tolle Leute, alle miteinander. Wir haben viel gelacht, Pläne geschmiedet, verrückte Ideen gewälzt und uns gegenseitig Raum gelassen.“
Polarforschung
Der Grund, warum wir neun ins Eis gehen, unsere Daseinsberechtigung in der Antarktis, ist die Wissenschaft. Weil die Forschungsstation auch von technischer Seite betrieben und betreut werden muss, braucht es zusätzlich zu den Wissenschaftlern die Ingenieure. Und weil dort Menschen ohne jegliche Infrastruktur drum herum leben, braucht es einen Profi für Lebensmittel und Essen und darüber hinaus einen Arzt für die medizinische Versorgung.
Warum muss man ausgerechnet diese unwirtlichen Orte so gut erforschen, die doch so weit weg und weitestgehend unbesiedelt sind? Bis vor Kurzem war mir noch gar nicht bewusst, wie immens wichtig und wie unglaublich interessant die Polarforschung ist, wie relevant gerade die Polarregionen für das System Erde und uns Menschen sind.
Die Polarregionen haben, das lerne ich jetzt, eine Schlüsselfunktion für unser Klima. Sie treiben Wind- und Meeresströmungen an, die um die ganze Erde ziehen und auch unser Klima in den gemäßigten Breiten beeinflussen. Eis, Ozean und Atmosphäre sind dabei miteinander verbunden wie ein erdumspannendes, sensibles Mobile. Es ist alles mit allem verwoben. Veränderungen wirken sich auf das ganze System aus – und damit auch auf uns in Mitteleuropa. Unser Klima wird maßgeblich in den Polarregionen gemacht, daher ist es elementar wichtig, sie zu verstehen. Nicht zuletzt, um vorhersagen zu können, wie unsere Welt von morgen aussehen wird.
Antarktis ist die Bezeichnung der imposanten Region jenseits von 66°33’ südlicher Breite, die aus Eis, Land und Meeresgebieten besteht, abgelegen und im Grunde unbesiedelt ist. Antarktika, wie der Kontinent ohne das zugehörige Meeresgebiet genannt wird, ist der kälteste, windigste und trockenste aller Erdteile. Er ist von kilometerdicken Eismassen bedeckt, die bis ins Meer hineinragen. Der Zirkumpolarstrom, der die Antarktis umfließt, ist der mächtigste Meeresstrom der Erde. Über ihn sind der Pazifische, der Atlantische und der Indische Ozean miteinander verbunden. Gigantische Wassermassen umströmen, von mächtigen Westwinden angetrieben, den antarktischen Kontinent und dienen als Schwungrad der erdumspannenden Meeresströmungen. Der antarktische Zirkumpolarstrom dient auch dem Golfstrom als Motor, der das Klima in unseren Breiten maßgeblich prägt. Dabei betreibt der Golfstrom gewissermaßen Wärmepiraterie, indem er auf der Südhalbkugel die Wärme stiehlt und sie zu uns in den Norden und nach Europa bringt. So hilft er, die Südhemisphäre relativ kühl zu halten. Der Zirkumpolarstrom spielt darüber hinaus eine wichtige Rolle bei der Nährstoffverteilung der Ozeane und somit bei der Ernährung riesiger mariner Ökosysteme und trägt dazu bei, dass Kohlendioxid in der Tiefsee gespeichert werden kann.
Ähnlich verhält es sich bei Wind und Wetter. Kalte, ablandige Fallwinde, die vom eisbedeckten Kontinent herunterwehen, sind die stärksten Winde weltweit, sie können bis zu 300 Kilometer pro Stunde erreichen und beeinflussen das Windsystem der Erde. Sie spielen auch eine wichtige Rolle bei der Entstehung von Meereis, das wiederum enorm klimawirksam ist. Es reflektiert wärmende Sonneneinstrahlung und ist beteiligt an der Entstehung des antarktischen Bodenwassers im Südozean, das wiederum für den Antrieb der großen Meeresströmungen von Bedeutung ist.
Die Zusammenhänge sind vielfältig und wirkmächtig. Uns betrifft ganz unmittelbar, was in der Antarktis passiert, jetzt und auch in Zukunft. Deswegen wird die Neumayer-Station III betrieben. Sie steht zwar „am Ende der Welt“, aber an einem wichtigen Forschungspunkt im Eis, dort, wo man bedeutende Mosaiksteine für das Gesamtverständnis von Erde und Klima bekommen kann. 365 Tage im Jahr ist sie rund um die Uhr besetzt – demnächst von uns. Es wird unsere Aufgabe sein, die jahrzehntelangen kostbaren Messreihen weiterzuführen und die Station am Laufen zu halten. Darauf und auf das Leben in der Antarktis werden wir in den nächsten vier Monaten vorbereitet, ehe wir Ende Dezember Richtung Antarktis aufbrechen werden.
Vorbereitung für die Zeit im Eis
Die Vorbereitungszeit für die Überwinterung ist vielfältig und anspruchsvoll. Die unterschiedlichsten Dinge lernen wir nun für unsere Zeit in der Antarktis, denn wir müssen für alle Eventualitäten, die dort irgend anfallen können, vorbereitet sein. Es kann in der Überwinterung niemand zu uns kommen, um zu helfen. Acht Monate lang werden wir geografisch vom Rest der Welt abgeschnitten sein. Das Meer ist über viele Hundert Kilometer mit Packeis bedeckt, das nur im Sommer aufbricht. Hier ist für Schiffe kein Durchkommen, noch nicht einmal für Eisbrecher. Flugzeuge, die auf Schnee landen können, sind nur sommers vor Ort, danach verlassen sie den Kontinent. Sie könnten wetterbedingt während der Überwinterung ohnehin nicht fliegen, denn andauernd ist schlechte Sicht, Sturm oder schlichtweg Dunkelheit. Daher müssen wir neun alles vor Ort selbst bewältigen können. Wir sollen Notfälle technischer und medizinischer Art handhaben können, sollen in der Lage sein, Brände zu löschen, uns aus Gletscherspalten zu retten und Konflikte zu lösen.
Zu den Kursen, die wir als ganze Gruppe machen, kommt die fachspezifische Vorbereitung. Wissenschaftler lernen nötige Fertigkeiten und Hintergründe für ihre Observatorien, Techniker werden an Pistenbullys, Windkraftanlagen und Blockheizkraftwerken eingearbeitet. Ich als bald einzige Ärztin vor Ort lerne, Vollnarkosen und Regionalanästhesien zu machen und Zähne zu bohren. Der Terminkalender ist voll.
Das gegenseitige Kennenlernen und das Zusammenwachsen als Team sind ein enorm wichtiger Teil der Vorbereitungszeit. Wir genießen ihn in vollen Zügen und legen jede Menge Freizeitaktivismus an den Tag. Wochenends unternehmen wir Wattwanderungen bei Sonnenaufgang oder Radtouren entlang der Küste, die mit Faulenzen in der Sonne enden oder mit Akrobatik am Deich und Jongliereinlagen mit Kugeln aus Wattschlick. Wir liegen zum Sternegucken auf einem nächtlichen Acker, verdrücken Tränen im Kino (zumindest Benita und ich), gehen zu Lesungen und zum Kurzfilmfestival. Beim Ausflug nach Helgoland teilen wir uns auf der Fähre die Pommes und frieren an Deck, „weil’s draußen trotzdem schöner ist“. Auch in unseren WGs ist immer etwas los. In der bald schon legendären „Kombüse Albatros“, der Küche von Werner und Markus, „brutzelt“ Werner in den ersten Wochen viel für uns alle. Er möchte unsere Geschmäcker ausloten, denn er wird demnächst den Jahreseinkauf für uns bestellen. „Feuer frei, was wünscht ihr euch?“, schreibt er in unsere Chatgruppe. Auch sonst geht es darin viel hin und her: „Möchte jemand Kaffee trinken? In Wohnung ›Seefalke‹ wird gerade einer gekocht“, „Kettensägenkurs morgen, wer fährt alles mit dem Fahrrad hin?“ Im Treppenhaus finden, vermutlich zum Leidwesen unserer Nachbarn, spontane Treffen statt, ständig kommt aus irgendeiner WG-Wohnungstüre noch jemand dazu, immer gibt es was zu bequatschen und zu lachen. Kastanienversteckspiele machen die Runde, Kuchen werden gebacken, erste Geburtstage gefeiert. In Alicias Zimmer, das wegen seiner Größe auch als Wohnzimmer fungiert, entsteht unser Überwinterungslogo. Das ist Tradition, jedes Überwinterungsteam entwirft sein eigenes. Alle gestalten daran mit, viele Ideen werden dabei unter einen Hut gebracht. Am Ende zeigt das Logo die antarktische Schelfeiskante mit winziger Neumayer-Station, darunter das Meer und seine Bewohner, darüber der Sternenhimmel mit Polarlichtern. In Anlehnung an Per Anhalter durch die Galaxis von Douglas Adams steht unsere Überwinterung, die 42. bisher, unter dem Slogan „Life, Antarctica, Everything“. Unser Team, die „42“, eint eine unbeschreibliche Vorfreude auf die Antarktis und das uns bevorstehende Abenteuer, aber auch das Wissen, dass es auf uns neun ankommen wird, dass wir wirklich alles gemeinsam wuppen müssen.
Bei aller Vorfreude und Lockerheit ist mir bewusst, dass uns eine gewaltige Aufgabe bevorsteht. Das Ausmaß dessen, was von uns gefordert sein kann, ist, wie mir scheint, vorab nicht zu ermessen. Die Antarktis ist ein harscher, lebensfeindlicher Ort, den wir nicht verlassen können, wenn wir dort nicht gut zurechtkommen. Selbst wenn es schrecklich wird, kommen wir nicht weg. Noch nicht einmal dann, wenn jemandem von uns etwas zustößt.
Ich gehe davon aus, dass ich mehrfach operieren muss, dass sich jemand verletzt oder möglicherweise eine Blinddarmentzündung oder Ähnliches bekommt. Mit nur zwei geschulten Händen und ohne Narkosearzt vor Ort birgt jede Operation ein hohes Risiko. Auch wenn ich viel Verantwortung und schwere Operationen gewohnt bin – dieses Setting geht zwangsläufig mit einem enorm hohen Druck einher.
Nicht zuletzt ist da noch die soziale Situation. Wir wissen nicht, wie wir uns während der Überwinterung entwickeln werden, einzeln und als Gruppe. Wie werden wir sein, wie verhalten wir uns, wenn es uns lange Zeit schlecht geht oder wenn wir stark unter Druck geraten? Wenn das Gruppengefüge ins Rutschen gerät, wenn die Dunkelheit uns im Griff hat oder es Notfälle gibt? Wir müssen als Team zusammenhalten und gut zueinander sein, das ist essenziell, ansonsten wird es sehr schwierig. „Es wäre mein absoluter Albtraum, mit Menschen ein Jahr lang eingesperrt zu sein und nicht wegzukönnen“, sagte mein Vater, als ich mich für die Antarktisüberwinterung bewarb. Er hatte Szenarien wie in Sartres Drama Geschlossene Gesellschaft vor Augen, Menschen, die miteinander eingeschlossen sind und sich ohne Hoffnung auf Entrinnen in ihrer selbsterschaffenen Hölle quälen. Ich selbst war bezüglich des „Miteinander-eingesperrt-Seins“ optimistisch, ging von netten Leuten aus, dachte an Fröhlichkeit, Gemeinschaft und Zusammenhalt und an all die wundervollen Dinge, die man während der Überwinterung auf die Beine stellen könnte. Dennoch ist mir klar: Auch hier kann von harmonisch und konstruktiv bis katastrophal entgleist alles drin sein.
Trotz aller Unwägbarkeiten haben wir alle aus dem Team uns bewusst dafür entschieden. Für das Risiko, für die unbekannte Herausforderung, für die Verantwortung. Niemand, der das nur „ein bisschen“ will, zieht für ein Jahr in die Antarktis. Wir wurden gezielt ausgesucht und werden umfassend vorbereitet von einem Institut mit 40 Jahren Überwinterungserfahrung. Nicht zuletzt haben wir mit diesem ein Netz im Hintergrund, das uns aus der Ferne unterstützen kann.
Schneller, als mir lieb ist, gibt es das erste Nadelöhr. Wir sind gerade auf Bergkurs, Mitte August, noch im ersten Teil der Vorbereitungszeit. Tim, unser Leiter und mein Vorgesetzter aus Bremerhaven, und Steffi, unsere technische Vorgesetzte, sind mitgekommen nach Tirol, wo wir auf dem Taschachferner Kletter- und Gletschertraining bekommen. Beim Hochklettern einer Eisstufe, zu niedrig, um sich anzuseilen, breche ich mit Pickel und Steigeisen aus dem sulzigen Eis und falle hintenüber, es geht rasend schnell. Ich finde mich kopfabwärts in der Gletscherspalte liegend wieder, meinen linken Ellenbogen nach hinten durchgebogen, sozusagen falsch herum durchgeknickt. Auf jeden Fall ist der Arm kaputt, vermutlich irgendwas gebrochen. Meine Finger werden taub, ich muss den verletzten Arm zügig wieder einrenken, sonst drohen dauerhafte Nervenschäden – der ärztliche Notfallplan in meinem Kopf läuft sofort an.
Der Bergführer hilft mir, den Oberkörper aufzurichten, und ich renke den Arm ein. Es geht erstaunlich leicht. Noch nie habe ich bei mir selbst etwas eingerenkt, genau genommen bin ich auch zum ersten Mal in meinem Leben verletzt. Schon ist Tim bei mir, der ebenfalls Chirurg und Notarzt ist. Er kümmert sich in seiner sicheren, fürsorglichen Art um mich, während der Bergführer den Hubschrauber ruft. „Kann ich denn jetzt noch mit in die Antarktis fahren?“, frage ich, und mir ist entsetzlich bang. Trotz Schmerzen und Verletzung ist das meine größte Sorge. Tim nimmt sie mir sofort. Natürlich könne ich mit, ich solle mich in Ruhe behandeln lassen, es sei ja noch über vier Monate Zeit. Wir könnten den Zeitplan für die Vorbereitung einfach neu stricken, sodass es mit der Heilung des Armes passe. Ich bin unendlich erleichtert. Und gerührt von so viel prompter unerschütterlicher Unterstützung. Tim hätte schließlich die Stelle auch einfach neu besetzen können.
Jetzt muss nur noch der Arm wieder heile werden (meine zweite große Sorge – für meinen Beruf als Chirurgin nicht unbedeutend). Schon landet der Hubschrauber auf dem Gletscher, Tim und Steffi bringen mich über das Eis hin. Meine Mit-ÜWIs stehen abseits, um nicht zu stören, aber ihr Mitgefühl ist mit Händen zu greifen. Und schon fliegen wir über die Tiroler Alpengipfel. Mein erster Hubschrauberflug. Ich kann ihn trotz allem irgendwie genießen. Im Krankenhaus in Zams werde ich kompetent und überaus herzlich erstversorgt. Es ist nichts gebrochen, schon mal gut, aber offenbar sind viele Bänder gerissen, der Ellenbogen völlig instabil, das wird auf jeden Fall dauern. Ob operiert werden muss, ist derzeit noch unklar, ich brauche in ein paar Tagen ein MRT. Um alles Weitere zu besprechen, rufe ich Tim auf dem Gletscher an. Er stellt mir frei, nach Hause zu meiner Familie in den Schwarzwald zu fahren und dort das MRT zu machen oder hierzubleiben und in Zams zu übernachten. Wir könnten abends eine Pizza essen gehen und morgen früh wieder zusammen auf den Berg raufwandern. Oder aber ich könnte gleich heute noch zurück auf die Berghütte.
Ich bin zwar ziemlich durch den Wind, möchte aber gerne bei meiner Gruppe sein, daher entscheide ich mich, sofort zurückzugehen. Tim und Steffi holen mich im Krankenhaus ab. Sie umarmen mich und haben fürsorglich an alles gedacht: eine kurze Hose, weil es im Tal heiß ist und ich Gletschermontur trage. Sie bieten mir Essen und Trinken an, haben sowohl getrocknete Mangostreifen dabei als auch was Frisches, falls mir das lieber wäre. Ich bin einfach froh, dass sie da sind. Wir wandern den Berg hinauf zu unserer Gletscherhütte. Oben kommen uns schon meine ÜWIs entgegengerannt, umarmen mich, helfen, wo es nichts zu helfen gibt, und freuen sich, dass ich zurück bin. Ich fühle mich so gut aufgehoben bei ihnen und mit ihnen, es wird mir unvergesslich bleiben und mein Gefühl prägen, in unserer Gruppe getragen zu sein. Werner hat an unser leibliches Wohl gedacht und beim Hüttenwirt veranlasst, dass für uns Spätheimkehrer Essen zurückgestellt wurde. Als ich später in unser Matratzenlager komme, wo die anderen schon in ihren Nestern schlafen, steht Katrin sofort leise auf und hilft mir beim Ausziehen. Sensibel, wie sie ist, hat sie schon auf dem Schirm, dass ich es mit dem Gipsarm nicht so gut allein aus den Kleidern schaffe.
Da ich auf meinen MRT-Termin in Zams warten muss und sonst nicht viel tun kann, verbringe ich den Rest des Bergkurses an der Berghütte. Während die anderen den Gletscher hoch- und runterkraxeln, werde ich von den Wirtsleuten verwöhnt, sitze in der Sonne, schwatze mit Bergführern und verbringe viel Zeit damit, den Arm hochzulegen. Ich habe durchaus am Schreck und an meiner Verletzung zu knabbern, aber ich versuche trotz der leicht bedrückenden Lage, das Beste daraus zu machen und es mir gut gehen zu lassen. Das gelingt ziemlich gut. Als ich mich mal wieder nach einer großzügigen Portion Kaiserschmarrn im Matratzenlager einem Mittagsnickerchen hingebe, ruft es plötzlich: „Aurelia! Aurelia!“ – kein Traum, sondern Tim und Steffi vor der Tür. „Hast du vielleicht Nähzeug dabei?“ Tim ist verletzt. Er hat sich zur Übung von meinen Mit-ÜWIs aus einer Gletscherspalte retten lassen und dabei ein Steigeisen tief in die Wade bekommen.
Dort klafft jetzt eine ordentliche Wunde. Ich habe Nähzeug dabei, chirurgisches, das nehme ich immer in die Berge oder auf Reisen mit. Dazu Lokalanästhetikum, Spritzen und Desinfektionsmittel. Oft wurde ich dafür ausgelacht, aber aus chirurgischer Sicht ist es unerträglich, stundenlang in ein Krankenhaus zu fahren und in einer überfüllten Notaufnahme herumzusitzen, bloß wegen einer Platz- oder Schnittwunde, die man ratzfatz am Küchentisch nähen kann.
Hier im Matratzenlager haben wir keinen Küchentisch, dafür aber eine Almwiese vor der Hütte. Da legt Tim sich jetzt hin. Steffi soll nähen, denn sie hat, im Gegensatz zu mir, zwei funktionierende Arme. Als Schiffsbetriebsingenieurin hat sie in ihrer Ausbildung einen medizinischen Crashkurs gemacht. Tim ist einverstanden. Er ist tapfer und kostet mit Humor das leicht Absurde der Situation aus: der Patient auf der sonnigen Almblumenwiese anstatt in der Notaufnahme, eine Ingenieurin, eifrig nähend über die verletzte Wade gebeugt, während die Chirurgin mit Gipsarm ihr gut zuredet und sie durch die Prozedur führt. Im Hintergrund schönstes Bergpanorama samt Blick auf den Gletscher, in dem unser Team gerade herumklettert. Steffi macht wirklich einen super Job. Nur an der Patientenführung sollten wir noch arbeiten. Dinge wie „Uii, das geht ja ganz schön tief rein, ist es normal, dass das so klafft?“ sagt man allenfalls, wenn der Patient in Vollnarkose liegt.
Mein Arm heilt nur langsam. Dafür werde ich die nächsten Monate der Vorbereitungszeit von allen Seiten unterstützt. Hannes und Alicia fahren mich auf dem Fahrradgepäckträger durch Bremerhaven. Micha und Karsten schleppen meine Frachtkisten oder holen Pakete beim Pförtner für mich ab. Werner fährt mich mit seinem Auto zur Polarklamottenanprobe ins Bekleidungslager. Katrin hat mir wunderschöne Brettchen mit dem Lötkolben graviert, Figuren am Berg, Knotentechniken, Seilschaftsaufbau und T-Anker: die Bergkursinhalte, die ich verpasst habe. Alle nehmen Anteil und freuen sich mit, wenn ich im Ellenbogen ein paar Grad mehr beugen oder strecken kann.
In meiner früheren Klinik in Lörrach, in der ich den Ellenbogen behandeln lasse, werden immer Termine möglich gemacht, die mit meinem Vorbereitungsprogramm in Bremerhaven vereinbar sind. Dort gestalten Ausbilder und Kursleiter die Ausbildung so, dass sie „einarmig“ zu machen und zeitlich flexibel ist, sodass ich uneingeschränkt Physiotherapie und ambulante Reha machen kann. Es ist ein ganz schön voller Plan, aber Wohlwollen und Unterstützung von allen Seiten sind enorm. Am Ende ist der Arm wie neu, und ich fahre mit dem guten Gefühl in die Antarktis, dass dieses Netz unzweifelhaft trägt.
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