Prophezeiungen für Jedermann - eBook-Ausgabe
Roman
„Tiefgründig und anders.“ - phantastisch-lesen.com
Prophezeiungen für Jedermann — Inhalt
In einer Welt, in der es hunderte Auserwählte und Prophezeiungen gibt, führen Zacharias und seine Freundin ein ganz normales Leben. Als auch Zacharias ausgewählt wird, zum Orakel zu reisen und eine Prophezeiung für Jedermann zu erfüllen, ist er bereit, seine Bürgerpflicht zu tun und das magische Zeichen der Queste auf sich zu nehmen. Doch seine Prophezeiung ist nicht so harmlos, wie sie zunächst geklungen hat. Und während die anderen Auserwählten ihre Questen schon bald erfolgreich beenden, fragt sich Zacharias, ob er die seine jemals erfüllen und in sein altes Leben zurückkehren wird. Denn die Macht der Prophezeiung ist gefährlicher, als Zacharias je vermutet hätte ...
Leseprobe zu „Prophezeiungen für Jedermann“
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Der perfekte Moment. Er würde ihn erwischen. Auf der Straße vor ihm strebten sie bereits hin und her, in gleichmäßigem Tempo, und wenn er die Augen schloss, konnte er hören, dass keiner von ihnen einen Schritt außer Takt lief. In einer Stunde schon würde es hier von Fußgängern wimmeln, aber auch dann würden sie im Gleichschritt gehen, scheinbar mühelos den Rhythmus der anderen einhaltend.
Zacharias warf einen kurzen Blick auf seine Uhr:
Fünf Uhr dreißig und achtzehn Sekunden, neunzehn, zwanzig …
In diesem Moment trat Mr Trent von nebenan pünktlich auf den [...]
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Der perfekte Moment. Er würde ihn erwischen. Auf der Straße vor ihm strebten sie bereits hin und her, in gleichmäßigem Tempo, und wenn er die Augen schloss, konnte er hören, dass keiner von ihnen einen Schritt außer Takt lief. In einer Stunde schon würde es hier von Fußgängern wimmeln, aber auch dann würden sie im Gleichschritt gehen, scheinbar mühelos den Rhythmus der anderen einhaltend.
Zacharias warf einen kurzen Blick auf seine Uhr:
Fünf Uhr dreißig und achtzehn Sekunden, neunzehn, zwanzig …
In diesem Moment trat Mr Trent von nebenan pünktlich auf den Fußweg. Aufregung erfasste Zacharias, denn zwischen Mr Trent und dem nächsten Nachbarn, Mr Gardener, der gleich das Haus verlassen würde, gab es eine Lücke von einundzwanzig Sekunden – ideal für jemanden wie ihn, der seinen eigenen Platz erst noch finden musste.
Um exakt fünf Uhr dreißig und dreißig Sekunden setzte Zacharias seinen Fuß auf den Gehweg und richtete den Blick nach vorn auf Mr Trent, um wie immer den Abstand zu ihm zu erfassen und seine Schrittlänge auf ihn auszurichten.
Als er sich der Hauptstraße näherte, warf er einen Blick auf die Uhr. Fünf Uhr zweiunddreißig und fünfundvierzig Sekunden. Er lag wunderbar in der Zeit. Exakt zehn Sekunden hinter Mr Trent und elf Sekunden vor Mr Gardener. Zacharias beherrschte sich, denn ein stolzes Lächeln wollte sich auf seinem Gesicht ausbreiten, aber nein! Noch hatte er es nicht geschafft. Mit neutraler Miene schritt er weiter, näherte sich einer Hausecke. Enge Kurven waren von Grund auf tückisch, denn sie verleiteten dazu, das Schritttempo zu ändern, man geriet leicht außer Takt. Gut, nicht jeder, aber ihm selbst war das schon mehrfach passiert, während andere mühelos und fehlerfrei weiterstrebten, als müssten sie sich dabei gar nicht konzentrieren. Aber nach seinem fulminanten Start hatte er nicht vor, beim ersten kleinen Hindernis zu versagen.
Zacharias behielt seinen Rhythmus bei, rollte die Sohlen ab, zählte innerlich den Takt, auch wenn die Vögel aus den gepflegten Vorgärten um ihn herum ihm hineinzwitscherten und es ihm zusätzlich schwer machten.
Zacharias nahm die Kurve im richtigen Schwung und er hätte vielleicht noch ausweichen können, aber in seinem Kopf war noch dieser Befehl, im Takt zu bleiben.
Es knallte, als sie mit den Schultern und Armen zusammenstießen. Die Kraft des Zusammenpralls trieb Zacharias die Tränen in die Augen und er taumelte, bemüht, sein Gleichgewicht wiederzufinden. Der Gedanke, versagt zu haben, jagte durch seinen Kopf, als er rückwärts fiel und mit einem schmerzvollen Ächzen auf dem Gehweg landete, direkt auf seinem Steißbein, das weitere heiße Wellen der Pein durch seinen gesamten Körper schießen und ihn feucht blinzeln ließ.
Etwas flog durch die Luft, Zacharias konnte es nicht erkennen, bevor es irgendwo neben oder auf ihm landete, dann gab es einen dumpfen Schlag und jemand fluchte. Anscheinend war sein Kontrahent ebenfalls gestürzt.
„Können Sie nicht aufpassen, wenn Sie um die Ecke rennen?“, schimpfte jener, als wäre der ganze Vorfall Zacharias’ Schuld.
Und das Schlimmste war: Der Mann hatte wahrscheinlich auch noch recht. Fehler, Fehler! Die Geschichte seines Lebens.
„Es tut mir schrecklich leid.“ Es klang wie eine Phrase. Er wäre gerne aufgesprungen und hätte die Worte des Bedauerns nochmals direkt in das Gesicht seines Gegenübers gesprochen, doch als er sich auf den linken Ellenbogen stemmte und seinen Oberkörper aufrichten wollte, entdeckte er etwas, das ihn erstarren ließ. Ein Ding aus seinen Albträumen.
Dann bewegte es sich direkt auf sein Gesicht zu.
„Aargh!“
Er fuhr hoch, wischte sich mit der rechten Hand über das Hemd, seine Finger streiften die widerliche Haut des Geschöpfs und er erschauerte vor Entsetzen und Ekel, während das Ding durch die Luft und in Richtung Straße flog. Der Schmerz war für den Moment vergessen, als er aufsprang und sich dann staksend umdrehte – mit Storchenschritten, wie seine Mutter die steifen und unbeholfenen Bewegungen immer missbilligend genannt hatte –, um so viel Abstand wie möglich zwischen sich und das Ding zu bringen.
„Haben Sie völlig den Verstand verloren?“
Scham ließ ihn innehalten und seine Wangen brennen, während er langsam kehrtmachte und sich dem Fremden stellte. Ihm wurde bewusst, welch einen erbärmlichen Anblick er bieten musste. Angstschweiß stand ihm auf der Stirn, sein Blick huschte unruhig umher, sein Atem ging laut keuchend, die Kleidung war vom Sturz voller Straßenstaub. Ganz anders sein Gegenüber, der sich aufgerappelt hatte und nun den Staub von der Hose klopfte. Der Sturz war ihm schon nicht mehr anzusehen und Zacharias betrachtete neidisch die makellosen Bügelfalten und das tadellose Aussehen dieses vorbildlichen Bürgers.
„Helfen Sie mir, sie zu suchen!“
Der andere Mann, mit Anfang zwanzig nicht viel älter als Zacharias, ließ den Blick nun über den Boden schweifen, bevor er vorsichtig, aber viel anmutiger als Zacharias, einen Fuß Richtung Straße setzte, um nicht auf das vielbeinige Monster zu treten. Doch noch etwas fiel Zacharias an dem anderen auf: Er trug das geschwungene, leuchtende Symbol auf der Stirn.
Das Questen-Zeichen. Das Symbol des Auserwählten.
O nein! Hatte er etwa die Erfüllung einer Prophezeiung verhindert?
Für einen Moment lähmte ihn der Schock. Nichts, nichts hatte er hinbekommen. Seine Pläne für diesen Morgen … alles zerstört! Er hatte auf mehreren Ebenen versagt. Sein Zeitplan war mit seinem Sturz in Scherben zerfallen, aber selbstverständlich hatte er es geschafft, noch eins draufzusetzen, und eine der obersten Bürgerpflichten verletzt! Der Auserwählte – es wäre Zacharias’ erste Pflicht gewesen, dem Mann zu helfen, und was tat er? Das Gegenteil! Fast schon ein Verbrechen.
Einfach kehrtzumachen und vor der Schande zu fliehen, schied nun aus. Er musste dem Mann helfen und seinen Fehler wiedergutmachen – falls das überhaupt noch möglich war. Mit seiner Phobie hatte er es anscheinend noch schlimmer gemacht.
„Was genau suchen wir denn?“, erkundigte er sich vorsichtig und mit der angemessenen Demut in der Stimme. Er hatte sich das Vieh nicht genau angesehen, bevor er es weggeschleudert hatte.
„Eine Raupe. Ich muss sie an einen bestimmten Ort bringen, das ist meine Aufgabe“, erklärte der Auserwählte, während er langsam auf dem Bürgersteig und der Straße hin- und herging, die Augen zu Boden gerichtet. Zum Glück gab es um diese Uhrzeit noch wenig Verkehr, aber es würde nicht mehr lange dauern, bis ein Wagen um die Ecke bog und die Raupe aus der Prophezeiung überfuhr.
Mit Grauen und zitternden Händen bewegte Zacharias sich Richtung Kreuzung und beugte sich mit äußerstem Widerwillen vor.
Alles in Ordnung, das ist nur ein kleines Tier. Kein Problem. Wenn er sie entdeckte, musste er den Auserwählten nur auf sie aufmerksam machen. Dann würde der Mann die Raupe aufsammeln und seine Queste fortführen. Kein Grund zur Sorge also.
„Nun weiß ich, warum die Auserwählten auch Sucher genannt werden“, murmelte der Mann seufzend und wohl mehr zu sich selbst als zu Zacharias. „Die meiste Zeit verbringe ich damit, durch die Gegend zu laufen, mich konzentriert umzusehen und Raupen zu suchen.“
Zacharias unterdrückte die Frage, warum der Mann die Raupe dann nicht sorgsamer verwahrt hatte, sondern sie auf der Hand durch die Gegend trug. Einen Sucher zu kritisieren gehörte sich nicht, und er hatte schon genug verkehrt gemacht, als dass er sich diese Frage hätte erlauben können. Selbst wenn er mutig genug gewesen wäre, ihn zu fragen, was er nicht war.
Insgeheim schätzte er sich glücklich, dass das Komitee der Prophezeiungen für Jedermann ihn bisher nicht ausgewählt und das Orakel ihm keine wichtige Aufgabe übertragen hatte. Schließlich war er inzwischen achtzehn Jahre alt und auch sein Name befand sich nun im Lostopf, aus dem das Komitee jeden Tag zweihundert Namen willkürlich zog und die Auserwählten zum Orakel schickte, wo sie vom gefährlichsten Magischen der Welt eine Prophezeiung mitgeteilt und das Symbol auf ihre Stirn bekamen. Es gab genug Momente, in denen er sich für diese Feigheit schämte, ja, er hatte sogar schon Tage erlebt, an denen er sich vorstellte, doch auserwählt zu werden, seine Queste zu schaffen und sich dann der anerkennenden Blicke all der Menschen sicher zu sein, die er liebte und deren Zuspruch er sich so verzweifelt wünschte. Doch er wusste, das würde nie geschehen. Seine Mutter würde nie ein Wort der Anerkennung zu seiner Leistung verlieren. Schließlich bewältigten viele Menschen Tag für Tag ihre Queste ohne jede Mühe. Im Gegenteil, sie setzte sicher voraus, dass er es schaffen würde und dabei im vorgeschriebenen Zeitplan blieb.
Wenn er von diesen Tagträumen wieder abkam, wenn die Realität ihn einholte, schämte er sich umso mehr, weil er so selbstsüchtig dachte. Die Questen sollten die Allgemeinheit schützen, sie sollten verhindern, dass die Magischen wieder an die Macht kamen, und nicht dazu dienen, dass ein Achtzehnjähriger sich sein gewünschtes Schulterklopfen abholte.
Die Chance, auserwählt zu werden, lag zwar bei nur vier Prozent, aber es konnte ihn treffen. Und was war, wenn man ihm ebenfalls irgendetwas auftrug, das mit widerlichen Viechern zu tun hatte? Er beobachtete den Auserwählten, der jetzt in kleinen Schritten den Bordstein absuchte und dem es sogar dabei gelang, wie ein Balletttänzer zu wirken.
Raupen und anderes widerliches Getier mit vielen Beinen … Zacharias erschauderte.
Allein die Vorstellung, in einen Wald gehen, eine Raupe suchen und anfassen zu müssen … Die Therapien, die er in seiner ersten Ausbildungsperiode im Alter von sieben Jahren absolviert hatte, hatten ihn in einen normalen, funktionierenden Bürger dieses Landes verwandeln sollen.
Sie hatten es nicht geschafft. Zacharias war ein Fehler im System, sosehr er sich auch bemühte dazuzugehören und alles richtig zu machen.
Er brachte überdurchschnittliche Noten nach Hause, hatte eine perfekte Freundin, war ein Muster an Ordentlichkeit und Fleiß, doch sobald er nach draußen ging, in die Natur, fiel all das wie ein Kartenhaus in sich zusammen, und er fühlte sich wie ein Versager, ein Betrüger, der den vorbildlichen Bürger lediglich spielte.
Seine Gedanken hatten ihn von der Suche nach dem Tier abgelenkt. Als er plötzlich das Geräusch eines herannahenden Fahrzeugs hörte, zuckte er zusammen. Haarscharf entging er einem erneuten Zusammenstoß, als der Fahrer um die Ecke bog und dabei gefährlich nah an den Bürgersteig kam. Der Auserwählte machte einen erschrockenen Satz nach hinten und der Fahrer zeigte ihnen einen Vogel, beschleunigte aber, als er erkannte, dass ihnen nichts passiert war. Das Questen-Zeichen hatte er vermutlich nicht bemerkt, sonst hätte der Mann angehalten.
„Meine Raupe!“
Der Auserwählte sah kreidebleich aus, als er auf die Fahrbahn starrte. Falls die Raupe dort gewesen war, kamen sie jetzt zu spät. Und alles war Zacharias’ Schuld. Nicht nur, dass er das Insekt dort hingeschleudert hatte, er hatte sich auch nicht ausreichend bemüht, es rechtzeitig zu finden, sondern nur regungslos und grübelnd auf der Stelle gestanden.
„Es tut mir leid.“
Es sah jedoch nicht so aus, als könnten seine Worte den Sucher trösten. Der Mann starrte zu Boden, den Tränen nah.
„Drei Tage habe ich gebraucht, um diese Raupe zu finden und so weit zu kommen!“
Schuldgefühle wuchsen zu alles verschlingenden Magengeschwüren in Zacharias heran. Ihn schwindelte, als er begriff, wie viel seine Fehler – denn er hatte ja nicht nur einen begehen müssen, sondern gleich drei mit dem Zusammenstoß, seiner Panik und seiner Unachtsamkeit – den Mann gekostet hatten. Wie viele Tage von den drei Wochen, die jedem Sucher zustanden, blieben diesem Mann wohl noch? Durch Zacharias hatte der Auserwählte nun drei kostbare Tage davon verloren.
„Es tut mir leid.“ Zacharias hasste sich dafür, dass ihm nichts Besseres einfiel. Ganz gegen seine eigene Einschätzung der Lage fügte er hinzu: „Vielleicht hat die Raupe ja Glück gehabt und ist nicht überfahren worden? Wir sollten weitersuchen.“
Wenn er diese scheußliche Raupe lebend fand, konnte er das vielleicht noch wohlwollend unter Schadensbegrenzung verbuchen, wenn der Rest des Tages schon nichts mehr wert war. Zacharias setzte seinen rechten Fuß vor und der Sucher, dessen Namen er immer noch nicht kannte, atmete zischend ein.
„Stopp!“, rief er.
Sofort erstarrte Zacharias.
Sein Blick wanderte nach unten, vor seine Füße, er konnte aber nichts entdecken. Der Auserwählte bückte sich und streckte die Hand aus. Sie musste direkt vor ihm sein, denn er griff zielstrebig nach seinem rechten Schuh … und zupfte vorsichtig die Raupe von dem Leder ab, während Zacharias deutlich das Anrollen einer Ohnmacht spürte.
Nimm sie weg, nimm sie weg, nimm sie weg!, hörte er sich selbst in seinem Kopf wimmern und konnte gerade noch verhindern, dass die Worte seinen Mund verließen, indem er sich auf die Zunge biss. Es tat weh und ihm war schwindelig vor lauter Angst, Ekel und Erschöpfung.
„Zum Glück ist nichts passiert“, meinte der Auserwählte, während Zacharias ihn ungläubig anstarrte und die Welt nicht aufhören wollte, sich viel zu schnell um ihn zu drehen. „Danke für Ihre Hilfe. Sie wissen nicht zufällig, wo sich hier in der Nähe ein grünes Haus mit Blumen an den Wänden befindet?“
„Versuchen Sie es um die Ecke links. Eine Viertelmeile weiter auf der rechten Seite ist ein grünes Haus. Ob es allerdings Blumen an den Wänden hat, kann ich Ihnen nicht sagen.“ Die Worte klangen ganz natürlich, nicht wie halb ohnmächtig, und Zacharias war stolz, dass er es schaffte, nicht zu zittern, während das Ungetüm auf der rechten Hand des Mannes Richtung Fingerspitzen und damit Richtung Zacharias krabbelte. Gleich würde es wieder zu Boden fallen, doch das war dann nicht mehr sein Problem. Er würde die Beine in die Hand nehmen und ignorieren, was dann alle anderen über diesen Anblick dachten.
Der Sucher drängte die Raupe mit der linken Hand zurück und verhinderte, dass sie herunterfiel, während er nickte und sich ohne ein weiteres Wort auf den Weg machte. Zacharias wich unwillkürlich auf die Straße aus, als der Mann an ihm vorbeiging.
„Achtung, Zach, ein Wagen!“
Rasch sprang er auf den Gehweg zurück, bevor er zum zweiten Mal an diesem Morgen fast überfahren worden wäre. Erst danach drehte er sich zu dem Rufer um. Wer hatte ihn da mit seinem verhassten Spitznamen angesprochen?
Mark, Paul und Stephen, seine früheren Klassenkameraden, standen auf der anderen Straßenseite. Leider blieben sie nicht dort, sondern überquerten hinter dem Privattransporter die Straße, wobei sie ihm fröhlich zuwinkten.
„Schön, dich zu sehen, Zach! Chaos-spannende Geschichte mit der Raupe!“, meinte Paul und Zacharias’ Scham kehrte zurück, als er begriff, dass die drei Freunde ihn eine Weile beobachtet und alles gesehen haben mussten. Seine Wangen wurden erneut heiß, während Mark in einer kumpelhaften Geste seinen Arm um Zacharias’ schmale Schultern legte.
Er stank. Du liebe Güte, war er etwa betrunken?
Entsetzt starrte Zacharias die drei an, während er unauffällig schnüffelte. Allerdings wäre das gar nicht nötig gewesen, denn eine Wolke von Schweiß, Alkohol, Zigaretten und noch weiteren Dingen umgab sie, und nun sah er auch die Schnapsflaschen in ihren Händen.
Genau in diesem Moment kam natürlich Mr Westbrooke um die Ecke, Brunhildes Onkel, der ihn sowieso schon nicht mochte und keine Gelegenheit ausließ, um ihn vor seiner Freundin zu kritisieren. Was musste er denken? Zacharias stand mit staubigen und unordentlichen Klamotten inmitten von drei Betrunkenen, die laut lachten, den Arm um ihn gelegt hatten und ihm nun auch noch einen Schluck aus einer der Flaschen anboten. Jetzt bedauerte er beinahe, dass sie die Raupe gefunden hatten und er nicht zur Strafe mit dem Sucher in den Wald hatte gehen müssen.
Wie erwartet schnaubte Mr Westbrooke abfällig. „Welch erbärmliche Gestalten! Dass ihr euch nicht schämt!“
Nicht!
Mr Westbrooke konnte nicht wissen, dass er Stephen damit das Stichwort gegeben hatte.
„Willste was, Spaßbremse? Verpiss disch, sonst … sonst!“, brüllte er, bevor er abbrach, weil er anscheinend vergessen hatte, was sonst passieren würde. Seine Miene wirkte verwirrt. Früher, in seiner ersten und zweiten Ausbildungsperiode, hatte Zacharias diesen Gesichtsausdruck als liebenswert empfunden, aber da war er mit den dreien befreundet gewesen, weil niemand anderer mit einem Jungen in Therapie hatte reden oder spielen wollen.
Seitdem hatte Zacharias sich bemüht, ein ordentlicher Bürger zu werden, normal zu sein und dazuzugehören. Er hatte Mark, Paul und Stephen, die ihren Ruf als Versager nie hatten loswerden können – oder wollen –, hinter sich gelassen. Heute nannte ihn niemand mehr Zach.
Zach war der Name des Jungen, der schreiend um sich geschlagen und sich unter Schreibtischen versteckt hatte, wenn die Lehrer ihn zwingen wollten, draußen auf dem Pausenhof zu spielen.
Und heute hatte er genauso panisch beim Anblick der Raupe reagiert. Er wünschte sich, der Erdboden würde sich unter ihm öffnen und ihn verschlingen.
„Unerhört!“, murmelte Mr Westbrooke, während er weiterging. Aber das bekam Zacharias nur am Rande mit, als er versuchte, sich unter Marks Arm hervorzuwinden, dessen Besitzer jedoch bedenklich schwankte.
„Ihr seid betrunken!“ Diese Feststellung, die wie ein Vorwurf klang und im Grunde auch einer war, quittierten sie mit wieherndem Gelächter.
„Wir haben gefeiert. Es sind Ferien! Nie wieder Schule!“, meinte Paul, der noch am nüchternsten von allen zu sein schien.
Nicht, dass feiern an sich verpönt gewesen wäre, doch diese Form des Chaos war auf das Wochenende beschränkt und die drei feierten seit Mittwoch? Heute war Montag!
„Habt ihr kein Sommerpraktikum?“ Zacharias fragte der Form halber und hätte sich die Antwort auch selbst geben können.
„Nöö“, meinte Mark und schien über die Aussicht, dass ihm ohne Sommerpraktikum auch keine Firma das Studium sponsern würde, nicht im Geringsten besorgt zu sein.
„Nun, ich aber. Deshalb muss ich auch jetzt weiter. Entschuldigt mich.“
Ihm gelang es, Marks Arm von seinen Schultern gleiten zu lassen. Doch das stellte sich als Fehler heraus, denn sein früherer Freund schwankte und spie ihm dann vor die Füße. Paul und Stephen gaben seltsame Geräusche von sich und mit einem Würgen folgten sie Marks Beispiel, wobei sie ihm nicht den Gefallen taten, seine guten Lederschuhe zu verfehlen.
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