P.S. Ich liebe dich P.S. Ich liebe dich - eBook-Ausgabe
Roman
— Der bewegende und inspirierende Weltbestseller von Cecelia AhernP.S. Ich liebe dich — Inhalt
Nach dem Tod ihres Mannes Gerry ist Holly am Boden zerstört. Sie kann sich das Leben ohne ihre große Liebe einfach nicht vorstellen, und nichts kann sie aus ihrer Trauer reißen. Bis sie die Briefe entdeckt, die Gerry ihr kurz vor seinem Tod geschrieben hat. Endlich hat sie wieder einen Lichtblick in ihrem Leben, denn jeden Monat öffnet sie einen neuen Brief und widmet sich der Aufgabe darin. Schritt für Schritt heilen Gerrys Worte Hollys gebrochenes Herz – und sie erlebt mit den Briefen an ihrer Seite ein Jahr voller Überraschungen, neuer Freundschaft und ungeahntem Glück.
Leseprobe zu „P.S. Ich liebe dich“
Eins
Holly drückte den blauen Baumwollpulli fest ans Gesicht. Als ihr der vertraute Geruch in die Nase stieg, war es wie ein Schlag in den Magen. Ein überwältigender Schmerz packte ihr Herz, ihr Nacken kribbelte, und plötzlich hatte sie einen Kloß im Hals, der sie fast zu ersticken drohte. Panik machte sich breit. Abgesehen vom leisen Summen des Kühlschranks und vom Knacken der Heizungsrohre war es still im Haus. Sie war allein. Ihr kam die Galle hoch, und sie rannte ins Badezimmer, wo sie vor der Toilette in die Knie ging.
Gerry war fort, und er würde [...]
Eins
Holly drückte den blauen Baumwollpulli fest ans Gesicht. Als ihr der vertraute Geruch in die Nase stieg, war es wie ein Schlag in den Magen. Ein überwältigender Schmerz packte ihr Herz, ihr Nacken kribbelte, und plötzlich hatte sie einen Kloß im Hals, der sie fast zu ersticken drohte. Panik machte sich breit. Abgesehen vom leisen Summen des Kühlschranks und vom Knacken der Heizungsrohre war es still im Haus. Sie war allein. Ihr kam die Galle hoch, und sie rannte ins Badezimmer, wo sie vor der Toilette in die Knie ging.
Gerry war fort, und er würde nie wiederkommen. Das war die Realität. Nie mehr würde sie die Finger durch seine weichen Haare gleiten lassen, nie mehr mit ihm über einen Witz lachen, den nur sie beide verstanden, nie mehr würde sie sich bei ihm verkriechen können, wenn sie von der Arbeit nach Hause kam und dringend jemanden brauchte, der sie in den Arm nahm. Nie mehr würde sie mit ihm in einem Bett schlafen, nie mehr von seinen morgendlichen Niesanfällen geweckt werden, nie mehr mit ihm herumalbern, bis ihr der Bauch wehtat vor Lachen, nie mehr mit ihm darüber streiten, wer aufstehen und das Schlafzimmerlicht ausmachen musste. Nichts war geblieben außer einem Bündel Erinnerungen und seinem Bild in ihrem Kopf, das jeden Tag blasser wurde.
Sie hatten einen ganz einfachen Plan gehabt: Sie wollten für den Rest ihres Lebens zusammenbleiben. Ein Plan, den eigentlich jeder für durchführbar gehalten hatte, denn alle wussten, dass Holly und Gerry beste Freunde, Geliebte und Seelenverwandte waren, dazu bestimmt, ein Paar zu sein. Doch dann beschloss das Schicksal, diesen Plan zu durchkreuzen.
Viel zu schnell war das Ende gekommen. Nachdem Gerry ein paar Tage über Migräne geklagt hatte, war er widerstrebend Hollys Rat gefolgt und zum Arzt gegangen, am Mittwoch in der Mittagspause. Sie waren davon ausgegangen, dass es an Stress oder Müdigkeit lag, schlimmstenfalls daran, dass er eine Brille brauchte. Das mit der Brille hatte Gerry überhaupt nicht gefallen. Aber er hätte sich darüber keine Sorgen machen müssen, seine Augen waren nämlich vollkommen in Ordnung. Doch in seinem Gehirn wuchs ein Tumor.
Die Fliesen waren eiskalt. Mit zitternden Händen betätigte Holly die Spülung und stand schwankend auf. Gerry war dreißig Jahre alt geworden. Gut, er war vielleicht nicht der gesündeste Mensch der Welt gewesen, aber doch gesund genug, dass er … na ja, dass er davon ausgehen konnte, ein normales Leben zu führen. Als er dann todkrank war, machte er tapfer Witze darüber, dass er nicht immer so auf Nummer sicher hätte gehen sollen. Er hätte Drogen nehmen, viel mehr trinken und reisen sollen, aus einem Flugzeug springen und sich dabei die Beine rasieren … die Liste ließ sich endlos fortsetzen. Ja, er scherzte darüber, aber Holly konnte das Bedauern in seinen Augen sehen – das Bedauern darüber, dass er für so vieles nie Zeit gehabt, dass er so viele Orte der Welt nie gesehen hatte. Er trauerte um seine Zukunft, all die Erfahrungen, die er gerne noch gemacht hätte. Ob er auch das Leben bedauerte, das er zusammen mit Holly gehabt hatte? Zwar zweifelte sie nie daran, dass er sie liebte, aber vielleicht meinte er ja, dass er Zeit verschwendet hatte.
Plötzlich wurde das Älterwerden etwas Erstrebenswertes, statt wie früher als unangenehme, unvermeidliche Perspektive am Horizont zu schweben. Wie vermessen sie gewesen waren, dass sie es nie als Leistung und Herausforderung angesehen hatten, alt zu werden!
Schluchzend wanderte Holly von einem Zimmer zum nächsten, und dicke Tränen liefen ihr über die Wangen. Ihre Augen waren rot und brannten, doch die Nacht schien kein Ende nehmen zu wollen. In keinem Zimmer fand sie Trost. In der verhassten Stille blickte sie um sich und erwartete halb, dass die Couch die Arme nach ihr ausstrecken würde. Aber selbst die schien sie zu ignorieren.
So würde ich Gerry überhaupt nicht gefallen, dachte sie, holte tief Atem, wischte sich die Augen und versuchte, wieder zur Vernunft zu kommen. Nein, Gerry wäre ganz und gar nicht mit ihr zufrieden, wenn sie sich so gehen ließ.
Am nächsten Tag sah man ihr an, dass sie die ganze Nacht geweint hatte. Wie so oft in den letzten Wochen war sie irgendwann in den frühen Morgenstunden vor Erschöpfung eingeschlafen. Völlig verspannt erwachte sie dann, immer auf einem anderen Möbelstück. Meistens weckte sie ein Anruf von einem besorgten Freund oder Familienmitglied. Wahrscheinlich dachten sie alle, sie würde nichts anderes tun als schlafen. Aber warum rief niemand an, wenn sie ziellos wie ein Zombie durchs Haus streifte und die Zimmer absuchte nach … ja, wonach eigentlich? Was hoffte sie denn zu finden?
„Hallo?“, meldete sie sich benommen. Vom Weinen war ihre Nase ständig verstopft, aber sie hatte schon lange aufgehört, für irgendjemanden eine tapfere Miene aufzusetzen. Ihr bester Freund war nicht mehr da, da half kein Make-up, keine frische Luft, kein Einkaufsbummel – nichts davon konnte das schwarze Loch in ihrem Herzen füllen.
„Oh, tut mir leid, Liebes, hab ich dich geweckt?“, kam die besorgte Stimme von Hollys Mutter aus dem Hörer. Immer die gleiche Frage. Ihre Mutter rief jeden Morgen an, um zu sehen, ob Holly eine weitere einsame Nacht überlebt hatte. Zwar hatte sie immer Angst, ihre Tochter zu wecken, aber andererseits war sie jedes Mal erleichtert, dass Holly noch atmete und den Geistern der Nacht einmal mehr getrotzt hatte.
„Nein, ich hab sowieso nur noch gedöst. Ist schon okay.“ Auch die Antwort war stets die gleiche.
„Dein Dad und Declan sind nicht da, und ich hab an dich gedacht, Liebes.“ Warum stiegen ihr beim Klang dieser sanften, mitfühlenden Stimme immer die Tränen in die Augen? Sie konnte sich das Gesicht ihrer Mutter vorstellen, die Stirn in sorgenvolle Falten gelegt. Aber das tröstete sie nicht. Es machte ihr nur noch deutlicher, warum sich alle Sorgen machten. Es war nicht richtig! Alles sollte normal sein! Gerry sollte neben ihr sitzen, die Augen verdrehen und versuchen, sie zum Lachen zu bringen, während ihre Mutter plapperte. Wie oft hatte Holly ihm den Hörer in die Hand gedrückt, wenn sie selbst einen Lachkoller bekam. Dann sprach er weiter, als wäre nichts passiert, und ignorierte Holly, die ums Bett herumhopste und Grimassen schnitt, um ihn abzulenken. Aber das funktionierte äußerst selten.
Mit viel „Hmm“ und „Aha“ mogelte sie sich irgendwie durch das Gespräch, ohne wirklich etwas mitzubekommen.
„Es ist wunderschön draußen, Holly. Ein Spaziergang würde dir bestimmt guttun. Ein bisschen frische Luft.“
„Hmm, kann schon sein.“ Da war sie wieder, die Antwort auf alle Probleme.
„Vielleicht ruf ich später noch mal an, dann können wir in Ruhe plaudern.“
„Lass, Mum, danke. Mir geht’s gut.“
Schweigen.
„Na schön, dann … dann ruf mich einfach an, wenn du es dir doch anders überlegst. Ich hab den ganzen Tag Zeit.“
„Okay.“
Erneutes Schweigen.
„Trotzdem vielen Dank.“
„Gut … pass auf dich auf, Liebes.“
„Mach ich.“ Gerade wollte Holly auflegen, als ihre Mutter noch einmal ansetzte.
„Oh, Holly, fast hätte ich es vergessen. Hier liegt immer noch der Umschlag für dich, du weißt schon. Vielleicht möchtest du ihn abholen, er liegt jetzt schon seit Wochen hier. Vielleicht ist es was Wichtiges.“
„Kann ich mir nicht vorstellen. Da ist bloß wieder eine Karte drin.“
„Nein, das glaube ich nicht, Liebes. Es steht etwas drauf … Moment mal, ich hole ihn schnell …“
Der Hörer wurde weggelegt, man hörte Schritte über die Fliesen zum Tisch klappern, Stühle scharrten, dann wurden die Schritte wieder lauter, das Telefon wurde aufgenommen …
„Bist du noch da?“
„Ja.“
„Okay, hier steht: ›Die Liste‹. Vielleicht von deiner Arbeit oder so.“
Holly ließ den Hörer sinken.
Zwei
„Gerry, mach das Licht aus!“ Kichernd sah Holly ihrem Mann beim Ausziehen zu. Er tanzte im Zimmer herum, als wollte er einen Striptease vorführen, und knöpfte sich ganz langsam mit seinen langen, schmalen Fingern das Hemd auf. Dann zog er die linke Augenbraue hoch, fixierte Holly, ließ das Hemd von der Schulter rutschen, fing es mit der rechten Hand auf und schwenkte es über dem Kopf.
Wieder musste Holly kichern.
„Das Licht ausmachen? Damit du das alles verpasst?“ Er grinste frech und ließ seine Muskeln spielen. Holly fand, dass er allen Grund gehabt hätte, eitel zu sein, was er zum Glück nicht war. Sein Körper war kräftig und gut proportioniert, mit langen, muskulösen Beinen – Ergebnis der Stunden im Fitnessstudio. Zwar war er mit seinen eins sechsundsiebzig nicht sehr groß, aber doch groß genug, dass Holly sich mit ihren eins zweiundsechzig neben ihm sicher fühlte. Sie liebte es, dass ihr Kopf genau bis unter sein Kinn reichte, wenn sie sich umarmten. Dann spürte sie, wie sein Atem leise durch ihre Haare strich und sie am Kopf kitzelte.
Ihr Herz tat einen Sprung, als er seine Boxershorts herunterzog, mit den Zehenspitzen auffing und zu Holly hinüberschleuderte. Die Unterhose landete auf ihrem Kopf.
„Na ja, wenigstens ist es hier drunter etwas dunkler“, prustete sie. Er schaffte es immer, sie zum Lachen zu bringen. Wenn sie müde und verärgert von der Arbeit nach Hause kam, hatte er immer ein offenes Ohr für ihr Gejammer. Sie stritten sich selten, und wenn doch, dann ging es meistens um irgendwelche blöden Kleinigkeiten, über die sie später lachen mussten. Wer den ganzen Tag das Verandalicht angelassen hatte zum Beispiel oder wer abends vergessen hatte, den Wecker zu stellen.
Gerry beendete seinen Striptease und hechtete ins Bett. Dort kuschelte er sich an sie und stopfte seine eiskalten Füße unter ihre Beine, um sie aufzuwärmen. „Iiiih! Gerry, du hast ja Eisklötze statt Füße!“ Sie wusste ganz genau, dass er in dieser Position nicht gewillt war, sich auch nur einen Zentimeter vom Fleck zu rühren. „Gerry“, sagte sie mit warnender Stimme.
„Holly“, äffte er sie nach.
„Hast du nicht was vergessen?“
„Nicht dass ich wüsste“, antwortete er frech.
„Und was ist mit dem Licht?“
„Ach ja, das Licht“, meinte er schläfrig und fing laut an, zu schnarchen.
„Gerry!“
„Gestern Abend musste ich aufstehen und es ausmachen, das weiß ich noch genau.“
„Ja, aber du hast vor einer Sekunde noch direkt neben dem Lichtschalter gestanden.“
„Ja … vor einer Sekunde“, wiederholte er müde.
Holly seufzte. Sie hasste es, wieder aufstehen zu müssen, wenn sie es sich im Bett schon richtig gemütlich gemacht hatte. Man musste über den kalten Holzfußboden zum Lichtschalter und dann im Dunkeln wieder zurücktapsen. Sie brummelte vorwurfsvoll.
„Ich kann das nicht jeden Abend für dich erledigen, weißt du, Holly. Vielleicht bin ich irgendwann nicht mehr da, und was dann?“
„Dann schick ich meinen neuen Mann los“, gab Holly von oben herab zurück, während sie versuchte, seine kalten Füße wegzuschieben.
„Ha!“
„Oder ich vergesse einfach nicht mehr, das Licht auszumachen, bevor ich ins Bett krieche.“
Gerry schnaubte. „Das halte ich für nicht sehr wahrscheinlich, meine Liebste. Da müsste ich schon einen Zettel am Lichtschalter hinterlassen, bevor ich dahinscheide.“
„Wie rücksichtsvoll von dir. Aber es wäre mir lieber, du würdest mir dein Geld hinterlassen.“
„Und einen Zettel auf der Heizung“, fuhr er unbeirrt fort.
„Ha, ha.“
„Und einen auf der Milchpackung.“
„Du bist wirklich sehr komisch, Gerry.“
„Ach ja, und an den Fenstern, damit du sie morgens nicht aufmachst und die Alarmanlage auslöst.“
„Hey, warum hinterlässt du mir in deinem Testament nicht eine Liste mit Anweisungen, wenn du glaubst, ich bin ohne dich so aufgeschmissen?“
„Keine schlechte Idee“, lachte er.
„Na gut, dann mach ich jetzt eben das blöde Licht aus.“ Widerwillig kroch Holly aus dem Bett, schnitt eine Grimasse, als ihre Füße den eiskalten Boden berührten, und knipste flink das Licht aus. Dann streckte sie die Arme aus und tastete sich durch die Dunkelheit zurück zum Bett.
„Hallo?!!! Holly, bist du noch da? Ist jemand da draußen, draußen, draußen?“, rief Gerry in die Finsternis.
„Ja, ich bin da, aaaautsch!“, jaulte sie, als sie mit dem Zeh gegen den Bettpfosten stieß. „Scheiße, Scheiße, Scheiße, verdammte Scheiße, blöder Mist!“
Unter der Bettdecke hörte sie Gerry kichern. „Nummer zwei auf meiner Liste: Achte auf den Bettpfosten …“
„Ach, halt den Mund, Gerry, und hör mit diesem morbiden Scheiß auf“, fauchte Holly, während sie sich ihren armen verletzten Fuß hielt.
„Soll ich dein Füßchen küssen, damit es nicht mehr so wehtut?“, bot er großzügig an.
„Nein, ist schon okay“, entgegnete sie traurig. „Wenn ich meine Füßchen nur hier zu dir stecken kann, damit sie warm werden …“
„Aaaaah! Verdammte Hacke, die sind eiskalt!“
„Hi, hi, hi“, kicherte sie gemein.
So war der Witz mit der Liste entstanden. Eine alberne Idee, von der sie auch bald ihren Freunden erzählten. Mit Sharon und John McCarthy waren sie am engsten befreundet. Die beiden waren auch schon seit der Schule zusammen, und es war John gewesen, der, als sie siebzehn waren, auf dem Schulkorridor auf Holly zugegangen war und die berühmte Frage an sie gerichtet hatte: „Mein Kumpel möchte gern wissen, ob du mal mit ihm ausgehst.“ Nach Tagen endloser Diskussionen und mehrerer Krisensitzungen mit ihren Freundinnen hatte Holly schließlich zugestimmt. „Ach, komm schon, Holly“, hatte Sharon gedrängelt, „er ist doch ganz witzig und hat wenigstens nicht das ganze Gesicht voller Pickel wie John.“
Wenn Sharon ihre Zustimmung gab, dann war die Sache okay. Wie sehr Holly sie momentan hasste! Sharon und John hatten im gleichen Jahr geheiratet wie Holly und Gerry. Holly war mit ihren dreiundzwanzig das Baby der Truppe gewesen, die anderen drei waren vierundzwanzig. Manche Leute hatten ihr einreden wollen, sie wäre zu jung, und ihr bei jeder Gelegenheit Vorträge gehalten, dass man in diesem Alter in der Welt herumreisen und sich amüsieren sollte. Stattdessen waren Gerry und Holly zusammen in der Welt herumgereist und hatten sich gemeinsam amüsiert. Wenn sie getrennt waren … tja, dann hatte Holly immer das Gefühl, dass ihr ein lebenswichtiges Organ fehlte.
Allerdings war ihr Hochzeitstag nicht gerade der schönste Tag ihres Lebens gewesen. Wie die meisten kleinen Mädchen hatte sie immer von einer Märchenhochzeit geträumt: sie in einem Prinzessinnenkleid, bei Sonnenschein an einem romantischen Ort, umringt von allen, die ihr lieb und wert waren. Sie hatte sich ausgemalt, wie sie mit all ihren Freunden tanzte, wie sie von allen bewundert wurde und sich als etwas ganz Besonderes fühlte. Aber die Wirklichkeit hatte ganz anders ausgesehen.
Im Haus ihrer Familie wurde sie von lauten Schreien geweckt. „Ich kann meine Krawatte nicht finden!“ (ihr Vater), „mein Haar sieht grausig aus!“ (ihre Mutter), aber der unbestreitbar beste Beitrag lautete: „Ich sehe aus wie ein verfluchter Walfisch! Auf gar keinen Fall gehe ich so zu dieser blöden Hochzeit! Mum, schau mich an! Holly soll sich gefälligst eine andere Brautjungfer suchen, ich komm nämlich nicht mit! Kommt nicht in die Tüte! Jack, gib mir sofort den bescheuerten Föhn zurück, ich bin noch nicht fertig!“ (Dieser unvergessliche Vortrag stammte von Hollys jüngerer Schwester Ciara, die regelmäßig Wutanfälle bekam und sich weigerte, das Haus zu verlassen, weil sie nichts anzuziehen hatte, obwohl ihr Kleiderschrank überquoll. Zurzeit war sie irgendwo in Australien und schickte ihnen höchstens alle paar Wochen eine E-Mail.) Den Rest des Vormittags waren alle damit beschäftigt, Ciara davon zu überzeugen, dass sie die schönste Frau der Welt war, während Holly sich alleine anzog und dabei gar nicht gut fühlte. Schließlich erklärte sich Ciara doch bereit, das Haus zu verlassen, und zwar nachdem ihr ansonsten extrem ruhiger Vater sie aus Leibeskräften angebrüllt hatte: „Ciara, heute ist Hollys großer Tag, nicht deiner! Und du wirst mitkommen, und wenn Holly die Treppe runterkommt, wirst du ihr sagen, dass sie wunderschön aussieht, und ich möchte den Rest des Tages keinen Piep mehr von dir hören!“
Als Holly unter allgemeinen Bewunderungsrufen die Treppe herunterschritt, blickte Ciara, die dreinschaute wie eine Achtjährige, die gerade vom Papa gemaßregelt worden ist, sie mit zitternder Unterlippe an und sagte: „Du siehst wunderschön aus, Holly.“ Dann quetschten sie sich alle sieben in die gemietete Limousine – Hollys Eltern, ihre drei Brüder, Ciara und sie –, verharrten jedoch den ganzen Weg zur Kirche in ängstlichem Schweigen.
Inzwischen kam ihr der Tag wie ein Traum vor, der im Flug an ihr vorübergezogen war. Sie hatte kaum Gelegenheit gehabt, mit Gerry zu sprechen, denn sie wurden ständig in entgegengesetzte Richtungen gezerrt, weil Holly unbedingt Großtante Betty begrüßen musste, die in irgendeinem Kaff am Arsch der Welt wohnte und Holly seit ihrer Geburt nicht mehr gesehen hatte, während Gerry seinem Großonkel Toby aus Amerika die Hand schüttelte, von dem man nie zuvor gehört hatte, der aber auf einmal ein ganz wichtiges Familienmitglied war.
Außerdem hatte ihr keiner gesagt, dass es so anstrengend werden würde. Am Ende des Tages hatte Holly vom Lächeln ein verkrampftes Gesicht und ihre Füße taten höllisch weh, weil sie den ganzen Tag in diesen absolut albernen Schühchen herumgerannt war, die eindeutig nicht zum Drinrumlaufen gemacht waren. Sie wäre so gern bei ihren Freunden am Tisch gewesen, die sich offensichtlich gut amüsierten. Aber sobald sie mit Gerry die Flitterwochensuite betrat, fiel der Stress von ihr ab, und alles hatte sich gelohnt …
Erneut liefen die Tränen, und auf einmal wurde Holly klar, dass sie sich schon wieder stundenlangen Tagträumereien hingegeben hatte. Wie versteinert saß sie auf der Couch, das Telefon noch immer in der Hand. Die Zeit schien im Moment einfach an ihr vorüberzuziehen, ohne dass sie richtig mitkriegte, wie spät, oder auch nur, welcher Tag es war. Es war, als lebte sie außerhalb ihres Körpers, als wäre sie betäubt, aber sich dennoch ständig des Schmerzes in ihrem Herzen, ihren Knochen, ihrem Kopf bewusst. Und sie war so müde … Ihr Magen grummelte, und ihr fiel ein, dass sie sich nicht erinnern konnte, wann sie zum letzten Mal etwas gegessen hatte.
Schließlich stand sie auf und schlurfte in Gerrys Bademantel und ihren Lieblingshausschuhen – den pinkfarbenen „Disco-Diva“-Slippern, die Gerry ihr letztes Weihnachten geschenkt hatte – in die Küche. Er hatte immer gesagt, sie sei seine kleine Disco-Diva. Immer als Erste auf der Tanzfläche und als Letzte wieder runter. Wo war diese Holly geblieben?
Holly öffnete den Kühlschrank und starrte in die leeren Fächer. Ein schrecklicher Gestank schlug ihr entgegen: vergammeltes Gemüse und Joghurts, die längst abgelaufen waren. Nichts Essbares in Sicht. Sie musste lächeln, als sie die Milchpackung schüttelte. Auch die war leer. Der dritte Punkt auf Gerrys Liste …
Vor zwei Jahren war Holly kurz vor Weihnachten mit Sharon losgezogen, um sich ein Kleid für den jährlichen Ball im Burlington Hotel zu kaufen. Mit Sharon shoppen zu gehen, war immer eine riskante Unternehmung, und John und Gerry machten immer Witze darüber, dass sie an Weihnachten bestimmt leer ausgehen würden, weil ihre Frauen das ganze Geld auf ihren Einkaufstouren für sich selbst verschleuderten. So ganz unrecht hatten sie damit nicht. „Unsere armen vernachlässigten Ehemänner“, so nannten Holly und Sharon sie dann immer.
Diesmal gab Holly bei Brown Thomas einen horrenden Betrag für das schönste weiße Kleid aus, das sie je gesehen hatte. „Scheiße, Sharon, das reißt mir ein Riesenloch ins Budget“, sagte Holly schuldbewusst und biss sich auf die Unterlippe, während sie die Finger über den weichen Stoff gleiten ließ.
„Ach was, Gerry stopft das schon wieder“, entgegnete Sharon mit ihrem infamen Kichern. „Und hör auf, mich ›Scheiße-Sharon‹ zu nennen. Das machst du jedes Mal beim Shoppen, und wenn du nicht aufpasst, bin ich irgendwann beleidigt. Schließlich ist bald Weihnachten, das Fest der Liebe und so weiter.“
„Gott, du hast echt einen schlechten Einfluss auf mich, Sharon. Eigentlich sollte ich nie wieder mit dir einkaufen gehen. Das Kleid hier kostet mich ungefähr mein halbes Monatsgehalt. Wovon soll ich den Rest des Monats leben?“
„Holly, was ist wichtiger: essen oder toll aussehen?“
„Ich nehme das Kleid“, sagte Holly aufgeregt zu der Verkäuferin.
Das Kleid war weit ausgeschnitten, was Hollys hübsche kleine Brüste gut zur Geltung brachte, und bis zum Oberschenkel geschlitzt, sodass man ihre schlanken Beine sah. Gerry konnte die Augen nicht von ihr lassen. Aber nicht, weil sie so schön aussah, sondern weil er einfach nicht verstand, wie so ein Stückchen Stoff dermaßen teuer sein konnte. Doch beim Ball übertrieb Ms Disco-Diva es mal wieder mit dem Alkohol und ruinierte ihr Kleid, indem sie Rotwein draufschüttete. Sie schaffte es nicht, die Tränen zurückzuhalten, während die Männer am Tisch sie – ebenfalls mehr als leicht angesäuselt – darüber informierten, dass Punkt vierundfünfzig der Liste ausdrücklich verbot, Rotwein zu trinken, solange man ein teures weißes Kleid anhatte. Dann wurde beschlossen, dass Milch ein geeigneter Ersatz wäre, denn Milchflecke konnte man auf teuren weißen Kleidern nicht sehen.
Als Gerry später sein Bier umwarf und es über die Tischkante auf Hollys Schoß tröpfelte, verkündete sie unter Tränen, aber sehr ernsthaft ihren Freunden und auch einigen Nebentischen: „Regel fümmunfünfssig der Liste: newwer ewwer teure weiße Kleider kaufn!“ Die Regel fand allgemeine Zustimmung, und Sharon erwachte aus ihrem Koma irgendwo unter dem Tisch, um Hollys bahnbrechendem Tipp zu applaudieren und ihr uneingeschränkte moralische Unterstützung zuzusichern. So wurde (nachdem der Kellner ein Tablett voller Milchgläser angeschleppt hatte) ein Toast auf Holly und ihren neuesten wichtigen Beitrag zur Liste ausgebracht. „Iss echt schaade wegen deinem teuern weißen Kleid, Holly“, hickste John noch, ehe er aus dem Taxi fiel und Sharon neben sich her zu ihrem Haus schleifte.
Konnte es sein, dass Gerry Wort gehalten und ihr vor seinem Tod eine Liste geschrieben hatte? Aber sie hatte doch jede Minute mit ihm verbracht. Er hatte nichts davon erwähnt, und sie hatte ihn auch nie beim Schreiben erwischt. Nein, Holly, reiß dich zusammen. Das ist Blödsinn. Sie sehnte sich so danach, er würde zurückkommen, dass sie sich schon alle möglichen verrückten Dinge einbildete.
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