Rahel Varnhagen Rahel Varnhagen - eBook-Ausgabe
Lebensgeschichte einer deutschen Jüdin aus der Romantik
„Eine Studie, die wegweisend ist.“ - literaturoutdoors.com
Rahel Varnhagen — Inhalt
Mit der Biografie Rahel Varnhagens, einer der außerordentlichsten und bedeutendsten Frauen der ausgehenden Goethezeit, deren Berliner Salon alle Geistesgrößen der Zeit frequentierten, ist Hannah Arendt zugleich ein herausragendes Stück Geschichtsschreibung über das deutsche Judentum im 19. Jahrhundert und das Doppelgesicht der jüdischen Assimilation gelungen.
Leseprobe zu „Rahel Varnhagen“
Hinein in die Welt
1795 – 1799
I. Durch Heirat
Im Winter des Jahres 1795 sieht Rahel aus ihrer Theaterloge den Grafen Karl von Finckenstein. Wenige Monate vorher hat sie an Brinckmann geschrieben: „Ich bin nun völlig überzeugt, daß ich heirate.“ Sie lernt ihn kennen und ist bald darauf mit ihm verlobt.
Rahel will aus dem Judentum heraus. „Leider bleibt kein Jude, kein Stein auf dem anderen, aber ich unselige Kreatur bleibe“, schreibt sie wieder an Brinckmann wenige Jahre später, als alle Heiratsaussichten sich zerschlagen haben. Wenn sie den Grafen [...]
Hinein in die Welt
1795 – 1799
I. Durch Heirat
Im Winter des Jahres 1795 sieht Rahel aus ihrer Theaterloge den Grafen Karl von Finckenstein. Wenige Monate vorher hat sie an Brinckmann geschrieben: „Ich bin nun völlig überzeugt, daß ich heirate.“ Sie lernt ihn kennen und ist bald darauf mit ihm verlobt.
Rahel will aus dem Judentum heraus. „Leider bleibt kein Jude, kein Stein auf dem anderen, aber ich unselige Kreatur bleibe“, schreibt sie wieder an Brinckmann wenige Jahre später, als alle Heiratsaussichten sich zerschlagen haben. Wenn sie den Grafen heiratet, den Sohn des preußischen Ministers, wird sie Gräfin Finckenstein werden. Er hat sich in sie verliebt, ist „ziegelblond“ und der erste, „le premier qui a voulu que je l’aime“, wie sie sechzehn Jahre später an Alexander von der Marwitz berichtet. Gleich hat sie ja gesagt, hat zugegriffen, als hätte sie nur auf ein solches Ereignis und nie auf einen Menschen gewartet. Als hätte sie nur Fortgenommenwerden ersehnt, Heirat. Wenn sie erst Gräfin sein wird, wird sie ihr Benachteiligtsein über Nacht vergessen können; nichts wird ihr bleiben von dem Jüdinsein als die selbstverständliche Solidarität mit allen, die auch aus dem Judentum herauswollen.
Rahel will aus dem Judentum heraus; eine andere Möglichkeit, sich zu assimilieren, scheint es nicht zu geben. Trotz gemischter Geselligkeit, trotz ephemeren Verschwindens des Judenhasses unter den Gebildeten verschärft sich die Situation schon in den neunziger Jahren. Solange es möglich gewesen war, sich an die Aufklärung zu assimilieren und nur an sie, weil sie das geistige Leben Deutschlands voll repräsentierte, war der soziale Aufstieg für den Juden noch nicht unbedingt notwendig. Es gab die Möglichkeit der Rezeption, die Chance einer Bildung, die leicht war, solange die Eigenmächtigkeit der menschlichen Vernunft noch von keiner Ahnung von Geschichte beeinträchtigt war. So hatte noch Moses Mendelssohn sich an die fremde Umwelt assimilieren können, ohne sein Judentum aufzugeben. Er brauchte nur in einer sehr trügerischen Gegenwart alte „Vorurteile“ abzulegen und denken zu lernen. Er konnte noch glauben, daß sein Weg vorbildlich sei und nicht das zufällige Schicksal eines einzelnen. Fünfzig Jahre früher war er in Berlin angekommen, dreißig Jahre früher nannte man ihn, der erst zwei Jahrzehnte in Berlin lebte, schon zusammen mit dem „gelehrten Berlin“, mit Ramler, Nicolai und Lessing. Er zählte mit zu den Repräsentanten der deutschen Aufklärung, er, von dem jeder wußte, daß er ein Jude war, er, der ausdrücklich an jüdischer Tradition festhielt. Sein bürgerliches Ausgestoßensein drückte ihn wenig, und der Gedanke einer politischen Emanzipation wurde ihm erst von Dohm nahegelegt, der in ihm – wie später Mirabeau und alle, die sich für die „bürgerliche Verbesserung der Juden“ (Dohm) einsetzten – den Garanten für ihre Würdigkeit sah. Mendelssohn selbst hatte an einer sozialen Einordnung noch ein sehr sekundäres Interesse. Ihm genügte der aufgeklärte Absolutismus Friedrichs II., in welchem „die Juden in der Ausübung ihrer Religion die anständigste Freiheit genießen“, in welchem „Künste und Wissenschaften blühend und vernünftige Freiheit zu denken so allgemein gemacht ist, daß sich ihre Wirkung bis auf den geringsten Einwohner seiner Staaten erstreckt“ (Mendelssohn). Er war es zufrieden, der „geringste Einwohner“ zu sein. Denn auch als solcher hatte er „Gelegenheit und Veranlassung gefunden, sich zu bilden, über seine und seiner Mitbürger Bestimmung nachzudenken und über Menschen, Schicksal und Vorsehung nach Maßgabe seiner Kräfte Betrachtungen anzustellen“ (Mendelssohn). Da er am Judentum festhielt, da er die Geschichte nicht kannte, hatte er eine stolze Gelassenheit der Gesellschaft gegenüber, die ihn an die unterste Stelle ihrer Stufenleiter verwies. Er wollte höchstens das Judentum verteidigen, er wollte für alle Juden die Achtung, die ihm von Lessing und dem geistigen Deutschland entgegengebracht ward; aber er wollte sich auf keinen Fall für oder wider das Christentum entscheiden, „wie es ein Sokrates getan hätte“ (Lavater); denn „solange wir keine so authentische Befreiung vom Gesetze aufzuweisen haben, kann uns unsere Vernünftelei nicht von dem strengen Gehorsam befreien, den wir dem Gesetze schuldig sein“ (Mendelssohn).
Diesen „strengen Gehorsam“ kennen schon seine Schüler nicht mehr. Sie fühlen sich nur als Juden, weil sie als Juden versuchen, die jüdische Religion loszuwerden. Sie sehen mit zweifelhaftem Recht ihre Assimilation schon als gelungen an, weil sie sich der Blindheit der Aufklärung assimiliert haben, der die Juden nur als Unterdrückte galten. Was aus ihnen geworden ist, daran ist die fremde Geschichte schuld; was ihnen als Juden eigen ist, ist nur Hemmung für die Einbürgerung. Die Betrachtung der jüdischen Religion wird eingestandenermaßen zum Mittel – unter anderen –, „die politische Verfassung der Juden zu ändern“ (David Friedländer). So kommt es 1799 zu dem von Friedländer verfaßten „Sendschreiben einiger jüdischer Hausväter“, das unter Berufung auf die Aufklärung, auf Vernunft und moralisches Gefühl die Taufe anbietet, um sich „öffentlich der Gesellschaft einzuverleiben“. Dies peinliche Angebot macht Friedländer in einer Zeit, in der Rahel wie ihre ganze Generation schon weiß und erfahren hat, daß man nur als einzelner aus dem Judentum herauskommt und daß die Berufung auf die Aufklärung nichts mehr nützt. Auch Friedländer hilft sie nicht. Probst Teller, ein liberaler und aufgeklärter Theologe, an den er das Schreiben adressiert, antwortet kühl, und Schleiermacher wehrt sich gegen die unliebsamen Gäste energisch. Er rechnet charakteristischerweise das „Sendschreiben“ der „älteren Schule unserer Literatur“ zu und hebt gegen den Appell an Vernunft und moralisches Gefühl das Eigentümliche des Christentums hervor, das durch solche Proselyten nur verwässert werden könne. Die Vernunft hat nichts mit der Religion zu tun, sondern mit dem Staatsbürgertum. Sie kann nur noch eine partielle Einigung erreichen. Schleiermacher ist denn auch für schnellste Einbürgerung, die aber nicht den Anfang der völligen Assimilation, des Verschwindens bedeuten soll – was die Juden gerade anbieten. Als jüdischer Staatsbürger bleibt der Jude in seiner Eigentümlichkeit bestehen. Es handelt sich also um nichts weniger als um die Lösung der Judenfrage. Die „Aufklärungsmanier“ ist „verächtlich“ geworden (Schleiermacher). Friedländer möchte die Mendelssohnsche Aufklärung verewigen, weil sie es ermöglicht, die eigene Herkunft zu vergessen. Ihm ist es entgangen, daß er nicht mehr in jener Zeit lebt und daß Herders Einsicht in die Macht der Geschichte auch die Judenfrage – zumindest für die anderen – in ein neues Licht gerückt hat; daß sie nicht mehr durch einen „Religionsdisput“ (Herder) zu lösen ist.
Herder identifiziert als erster in Deutschland ausdrücklich die jetzigen, gegenwärtigen Juden mit ihrer Geschichte und mit dem Alten Testament, das heißt, er bemüht sich, ihre Geschichte so zu verstehen, wie sie selbst einst sie deuteten: als die Geschichte des auserwählten Volkes. Ihre Zerstreuung betrachtet er als Beginn und Vorbedingung ihrer Wirkung auf das menschliche Geschlecht. Er macht aufmerksam auf ihr eigentümliches Lebensgefühl, das sich an das Vergangene hält, in der Gegenwart das Vergangene festzuhalten sucht. Ihre Klage über das vor unendlichen Zeiten zerstörte Jerusalem, ihre Hoffnung auf den Messias sind für ihn kein Aberglaube, sondern ein Zeichen, daß „die Trümmer Jerusalems […] gleichsam im Herzen der Zeit […] gegründet sind“. Ihre Religion ist weder eine Quelle der Vorurteile noch die Mendelssohnsche Vernunftreligion, sondern das „unveräußerliche Erbstück ihres Geschlechts“. Zugleich meint Herder, daß ihre Geschichte, die aus dem Gesetz Moses’ stammt, von ihm nicht zu trennen ist, mit der Befolgung des Gesetzes steht und fällt. Jüdische Geschichte in der Diaspora war ein Festhalten der Religion Palästinas; im Verfolg ihrer eigenen Geschichte sind die Juden Fremde geblieben, das Volk Palästinas und damit „in Europa ein unserem Erdteil fremdes asiatisches Volk“. Nicht ihre individuelle Gleichheit mit allen anderen Menschen wird zugestanden, sondern ihre kollektive, geschichtliche Fremdheit betont. Dabei wird auf Assimilation keineswegs verzichtet, sie wird sogar radikaler gefordert. War die Judenfrage und ihre Diskussion noch bei Lessing und Dohm vor allem geleitet von der Forderung nach Toleranz, von dem Protest gegen die Verletzung der Menschenwürde in einem unterdrückten Volk, von der Scham über das Unrecht, das das christliche Europa so vielfältig begangen, so wird die Emanzipation der Juden bei Herder zu einer Staatsfrage. Aufgabe ist es jetzt, weder eine andere Religion zu dulden – wie man ja viele Vorurteile zu dulden gezwungen wäre – noch eine sozial schädliche Situation zu verbessern, sondern eine andere Nation dem deutschen Volke und Europa einzuverleiben. „Wiefern nun dieses Gesetz und die aus ihm entspringende Denk- und Lebensweise in unsere Staaten gehöre, ist kein Religionsdisput mehr, wo über Meinung und Glauben discurriert würde, sondern eine einfache Staatsfrage“ (Herder).
Juden bringen der neuen von Herder wesentlich beeinflußten Zeit und Generation wenig Verständnis entgegen. Das beweisen nicht nur die paar offiziellen „jüdischen Hausväter“, sondern fast ausnahmslos jeder einzelne Jude. Sie begreifen nur eins, daß der Kollektivität als solcher die Vergangenheit unauslöschlich anhängt, daß man nur als einzelner herauskann. Das persönliche Problem verschärft sich, die Praktiken der einzelnen verfeinern sich, die individuellen Auswege werden zahlreicher, die Juden psychologisch raffinierter und gesellschaftlich erfinderischer. Die Geschichte der deutschen Juden löst sich für eine kurze Zeit – bis zum ersten Emanzipationsdekret von 1812 – in die Geschichte von Einzelfällen auf, denen es gelungen ist, zu entrinnen.
Ein solcher Einzelfall ist Henriette Herz. Auf den ersten Blick ist ihre Situation die gleiche wie die der Rahel. Kein Zufall, daß sie beide zumeist zusammen genannt werden. Henriette Herz’ „Jugenderinnerungen“ sind durchaus typisch. Aus ihnen ist zu ersehen, daß das letzte gleichsam physische Hemmnis der Assimilation, die jüdische Tradition, bereits in der Jugend überwunden ist. Henriette heiratet sehr jung den Naturwissenschaftler und Kantschüler Marcus Herz, der in Berlin als Arzt ebenso angesehen ist wie als Gelehrter. Seine Schüler, die zu den Vorträgen ins Haus kommen, werden ihre Freunde, sie bilden einen der ersten jüdischen Salons, von ihnen lernt Henriette – Latein, Griechisch, etwas Sanskrit, Mathematik und Physik. Das Christentum, das Schleiermacher ihr vermittelt, wird ihr zum selbstverständlichen Bildungsgut. Sie läßt sich trotzdem verhältnismäßig spät taufen, weil sie erst den Tod ihres Mannes und dann den ihrer Mutter abwarten muß. Sie ist geachtet, weil sie sehr tugendhaft ist, sie wird viel geliebt, weil sie sehr schön ist. Man nennt sie kalt, weil nichts zu ihr dringt, weil sie unberührt bleibt. Sie schreibt, wenn einer sich in sie verliebt, komisch und prätentiös: „Die verderblichste Gabe der Götter hat ihn geblendet“, ist aber im Grunde nur unerfahren. Sie versucht nachträglich, Wurzeln zu schlagen durch Lernen, versteht „keinen generellen Gedanken, oder seine Anwendung“. Sie wehrt sich mit gutem Instinkt gegen jede Leidenschaft, gegen jedes ernsthafte Eingehen auf die Welt, „sie kann keinen Irrtum über die Dinge von der stillen Natur der Dinge unterscheiden; […] sie kommt gleich auf Approbation, oder Abstimmung der Menschen“. Sie glaubt, man kann die Welt lernen und die Gesellschaft durch Tugend bestechen. Und die Welt gibt ihr recht, indem sie sie achtet.
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