Rastlose Seelen – Die Magie der Runen Rastlose Seelen – Die Magie der Runen - eBook-Ausgabe
Roman
— Packende Urban Fantasy für Fans von GeistergeschichtenRastlose Seelen – Die Magie der Runen — Inhalt
In der alten Galerie geht etwas Seltsames vor ... Eine packende Urban Fantasy der anderen Art für Fans von C. K. McDonnell und den „Ghostbusters“
„Menschen bummelten auf der Suche nach einem Platz durch die Straße oder standen an den Stehtischen, redeten und lachten und tranken Bier. Sie ahnten nicht, wie gefährlich ihnen die herannahende Dunkelheit werden könnte.“
Für die Jungmagierin Tessa wird es spannend: Sie arbeitet für eine Agentur, die gefährliche Geister und andere paranormale Wesen austreibt, und bekommt ihren ersten Auftrag zugeteilt. Dieser führt sie nach Düsseldorf, wo in einer Kunstgalerie seltsame Dinge vor sich gehen. Obwohl ihr Partner nicht erscheint und Tessa auf sich gestellt ist, geht zunächst alles gut. Doch dann stellt sich heraus, dass es sich nicht um einen einzelnen Geist handelt, sondern um eine ganze Flut paranormaler Wesen. Zum Glück findet Tessa Unterstützung in dem mysteriösen Ilham – aber kann sie ihm trauen?
„Ulrike Hanna hat hier mit leichter Hand Gruselelemente mit Spannung vermischt, dabei auch eine Prise Humor eingestreut. Die Handlung liest sich leicht weg und bietet jede Menge Unterhaltung. Richtig passend zu Halloween.“ ((Leserstimme auf Netgalley))
Leseprobe zu „Rastlose Seelen – Die Magie der Runen“
Kapitel 1
Ich fasste den Griff meines Koffers fester, als ich endlich vor dem Hotel stand. Ich war müde, mein Rücken schmerzte vom langen Sitzen in der Bahn, und ich fror, denn jetzt gegen Abend kühlte es merklich ab. Mein schwarzer Trenchcoat, den ich für so chic und passend gehalten hatte, bot nicht genug Schutz gegen die feuchte Kälte, die mir in die Glieder kroch. Vielleicht war es aber auch nicht so sehr die Kälte als der Anblick des Hotels, der mich frösteln ließ. Das Hotel, das die Agentur für mich gebucht hatte, stand klobig und grau in einer [...]
Kapitel 1
Ich fasste den Griff meines Koffers fester, als ich endlich vor dem Hotel stand. Ich war müde, mein Rücken schmerzte vom langen Sitzen in der Bahn, und ich fror, denn jetzt gegen Abend kühlte es merklich ab. Mein schwarzer Trenchcoat, den ich für so chic und passend gehalten hatte, bot nicht genug Schutz gegen die feuchte Kälte, die mir in die Glieder kroch. Vielleicht war es aber auch nicht so sehr die Kälte als der Anblick des Hotels, der mich frösteln ließ. Das Hotel, das die Agentur für mich gebucht hatte, stand klobig und grau in einer kleinen Straße. Schmutzige Fassade und trübe Fenster mit schief in den Angeln hängenden Läden, die jetzt in der Abenddämmerung wie blinde Augen aussahen. Der Eingangsbereich war schmuddelig, voller Dreck und Spinnweben. An der Tür hing schief ein Schild mit der Aufschrift:
Hotel an der Oper
Dauerhaft geschlossen
Ich schüttelte mich kurz. Das hatte ich ja gewusst. Adelheid Bruhn, die Chefin der Agentur, für die ich arbeitete, hatte mir erklärt, dass ich in einem Hotel für magische Personen untergebracht wäre, solange ich mich wegen des Falls in Düsseldorf aufhielt. „Für Menschen sieht es geschlossen aus, sie können nicht hineinkommen, aber du wirst ja keine Probleme damit haben. Es liegt außerdem ideal: fast gegenüber der Galerie, in der es die Probleme gibt.“
Ich straffte die Schultern, atmete tief ein und entcorporealisierte mich: Ich wechselte meine feste körperliche Form in eine rein geistige. So schlüpfte ich wie eine Wolke durch eine Ritze in der Tür und manifestierte mich anschließend wieder.
Angenehme Wärme und sanftes Licht empfingen mich. Und eine junge Frau an der Rezeption, die mich freundlich begrüßte.
„Guten Abend“, stellte ich mich vor. „Ich bin Tessa Wissmann, für mich wurde ein Einzelzimmer gebucht.“
„Guten Abend, Frau Wissmann“, so die freundliche Erwiderung, „ja, ein Einzelzimmer mit Frühstück für eine Woche … mit der Option auf Verlängerung. Es reicht aus, wenn Sie uns einen Tag vorher Bescheid geben, ob Sie bleiben möchten.“
Nachdem ich den Anmeldebogen ausgefüllt hatte, überreichte sie mir eine Schlüsselkarte und wies mir den Weg zu den Aufzügen.
Mein Zimmer lag im dritten Stock und war schlicht und mit wenigen dunkelbraunen Holzmöbeln eingerichtet. Das Auffälligste darin war wohl der leuchtend blaue Teppich. Ich stellte meine Taschen ab und trat ans Fenster. Der Blick durch die Scheiben ging in die Mutter-Ey-Straße, da das Hotel an der Kreuzung lag. Rechts davon befanden sich die Kunsthalle, allerdings nur deren fast fensterlose Rückseite mit Zufahrt ins Parkhaus, und etlichen riesigen Mülltonnen. Links standen noch zwei Häuser, und dann kam schon das sogenannte Schmela-Haus, in dem die Galerie untergebracht war. Ich konnte das Gebäude von hier aus nicht gut erkennen, aber jedenfalls würde ich es morgen und an all den anderen Tagen nicht weit haben.
Ich ließ mich aufs Bett fallen und führte mir die Fakten, die ich bereits von Adelheid wusste, erneut vor Augen: Ein junger Mann, Hagen Noter, war vor einigen Tagen in die Agentur zur Aufklärung merkwürdiger Vorfälle – wir wundern uns über nichts, AzAmeV, gekommen und hatte Adelheid Bruhn von etlichen ausgesprochen seltsamen Vorfällen in der Kunstgalerie berichtet. Die anderen Mitarbeiter hätten diese Erscheinungen aber nicht wahrgenommen, sondern vermutet, dass er gestresst und überarbeitet wäre und sich alles nur einbildete. Er sollte sich ein paar Tage freinehmen. Das hatte Hagen auch getan, aber da er immer an die Vorfälle denken musste und deshalb weder tagsüber noch nachts Ruhe fand, war ihm keine wirkliche Erholung vergönnt gewesen. Und als er in die Galerie zurückgekehrt war, hatten sich ihm erneut seltsame Dinge gezeigt.
Adelheid erzählte mir, dass er mit nichts Greifbarem herausgerückt sei, worum es sich handele, nur dass ein Bild betroffen sei. „Sehr merkwürdig“, hatte Hagen gesagt, „wie bei Harry Potter. Es muss bitte jemand kommen und sich die Sache ansehen.“
Adelheid hatte ihm zwei Agenten zugesagt, und hier war ich nun. Allein. Der langjährige Agenturmitarbeiter, Hendrix von Wittgenstein, hätte eigentlich mit von der Partie sein sollen, weil ich direkt von der Ausbildung kam und überhaupt keine Erfahrung im Außendienst hatte. Aber er hatte heute Morgen abgesagt. Er sei aus privaten Gründen verhindert.
„Nun“, Adelheid war am Telefon ganz entspannt gewesen, „das ist nicht so schlimm. Hendrix’ Frau Ayana ist vor ein paar Monaten gestorben, und ich denke, er braucht eine Auszeit. Er wollte von Anfang an normal weiterarbeiten, obwohl ich ihm gesagt habe, dass er sich Zeit nehmen solle. Aber das schaffst du auch allein, Tessa. Ist ja ganz klar, um was für einen Fall es sich hier handelt.“
Ich war nicht überzeugt gewesen, da Hagen Noter doch nicht viel erzählt hatte. Aber Adelheid hatte weiter erklärt, dass die Schlagwörter „Bild“ und „wie bei Harry Potter“ auf einen Bildgeist hindeuteten. Und diese Gesellen kannte ich tatsächlich. Bildgeister waren schwache, unglückliche Wesen, die sich zumeist in einem idyllischen Bild verkrochen. Dort versuchten sie, Häuser oder Schlösser zu beziehen. Manchmal fand man sie auch unter Bäumen liegend oder an Flüssen sitzend. Sie suchten Sicherheit und Ruhe, bedachten aber nicht, dass auch das schönste Haus und die herrlichste Blumenwiese nichts weiter waren als etwas Farbe auf Leinwand … und dass es keine wirkliche Wärme dort gab. Sie erschreckten den unwissenden Betrachter, der glaubte, dass die Bilder oder Figuren darin lebendig geworden seien. Wie auch immer, Bildgeister waren schwache Wesen, bei denen eine Austreibung von Stufe eins, vielleicht auch Stufe zwei ausreichen mochte. Ich war ob dieser neuen Erkenntnisse etwas beruhigter und einigermaßen zuversichtlich gewesen.
Außerdem … wenn ich meine erste Aufgabe für die Agentur allein meisterte, ohne jegliche Unterstützung eines erfahrenen Agenten, konnte das doch meiner Karriere in der Agentur nur förderlich sein, oder?
Am nächsten Morgen machte ich mich erst einmal zu einem Spaziergang auf, um die Örtlichkeiten zu sondieren. Es war wichtig zu wissen, in welcher Gegend man sich befand. Zum einen, da das paranormale Wesen, das vertrieben werden sollte, häufig aus der direkten Umgebung stammte, zum anderen war es immer nützlich, Fluchtwege zu kennen.
Ich ging also die Mutter-Ey-Straße hinunter. Rechter Hand, relativ uninteressant, befand sich die Rückseite der Kunsthalle. Links, vom Hotel aus gesehen, stand erst ein dunkelgraues, danach ein hellgraues Haus. Sie schienen keinerlei spirituelle Energie zu verströmen. Mit dem Schmela-Haus war das anders. Kennt ihr das? Wenn ein Haus schon von außen düster und gruselig aussieht? So, als würden dort mindestens Vampire, Werwölfe oder Geister wohnen? Hier schien das ja nun tatsächlich der Fall zu sein. Das Haus war von Architekten geplant worden, und das sah man auch: Fenster und Mauervorsprünge an ungewöhnlichen Stellen, so, als hätte das gute Stück ein paar Zähne verloren. Schwarze klaffende Wunden in dunklem Sandstein. Ich spähte durch die gläserne Eingangstür. Die Galerie war noch geschlossen, der Eingangsbereich von einem rückseitigen Fenster und dem Licht, das durch die Eingangstür fiel, nur spärlich beleuchtet. Ganz hinten stand ein großer Tisch mit drei Stühlen. Rechts an der Wand ein Metallregal mit Büchern oder Katalogen.
Da ich nicht auffallen wollte, ging ich langsam weiter. Das nächste Haus beherbergte ein Irish Pub, dann kam ein kleiner Platz. Ich sah erstaunt, dass es hier ein Kloster gab. Ich wusste nicht, warum, aber damit hatte ich nicht gerechnet. Ob es etwas mit dem Fall zu tun hatte? Ich spürte plötzlich wieder diese nagende Unsicherheit in der Magengegend. Es wäre so viel besser gewesen, mit Hendrix zusammenzuarbeiten! Ich kannte ihn zwar nicht, aber er war schon jahrelang Agent, und ich hatte viel Gutes über ihn gehört. Er sollte ein herausragender Nekromant sein.
Ich seufzte leise und setzte meinen Weg durch die Altstadt fort. Hier reihte sich Kneipe an Kneipe. Jetzt, am Vormittag, war alles noch ruhig und sah leicht angeschmuddelt aus. Ein paar Lieferwagen standen herum, Tauben pickten zwischen den Pflastersteinen im Dreck. Düsseldorf war wohl eine Stadt, die es morgens etwas ruhiger angehen ließ.
Ich kam schließlich zum Rhein und setzte mich auf die Mauer der Uferpromenade. Auch wenn die Steine kalt waren, schien hier die Sonne, Vögel zwitscherten, und die drückende Stimmung, die in den alten Gassen geherrscht hatte, war wie weggeblasen. Ich reckte mein Gesicht gen Himmel und schloss die Augen.
Gut. Was war also der Plan für heute? Ich musste zurück zur Galerie und mit Hagen Noter sprechen. Ich würde versuchen, so viele Informationen wie möglich von ihm zu bekommen. Dann musste ich mich in der gesamten Galerie umsehen und mir natürlich speziell das betroffene Bild anschauen. Anschließend würde ich entscheiden, wie ich vorging.
Ob es sinnvoll wäre, jetzt erst mal einen Kaffee zu trinken?
Während ich darüber nachgrübelte, entdeckte ich auch schon eine Art Kaffeeausschank. Das Café bestand aus nichts als einem Fenster, und auf dem Bürgersteig standen zwei kleine Tische mit je zwei Stühlen davor. Ich ließ mir von dem freundlichen Mann einen Latte macchiato Karamell geben, und allein vom Aussprechen der Bestellung fühlte ich mich schon stärker.
Langsam den Kaffee schlürfend spazierte ich zurück. Jetzt sah in den alten Gassen auch alles gar nicht mehr so düster, traurig und verlassen aus.
Die Galerie war inzwischen geöffnet, und ich wurde von einer älteren Dame empfangen, die ich direkt nach Hagen Noter fragte. „Er ist oben“, sagte sie und musterte mich mit erwachendem Interesse, „haben Sie denn einen Termin?“
„Ja, er erwartet mich.“
„Dann gehen Sie doch gleich hoch.“ Sie wies mit ausgestrecktem Arm zur Treppe, ihre blauen Augen durchbohrten mich geradezu. „Sie können ihn nicht verfehlen, er ist der Einzige außer mir im Haus. Oder kennen Sie sich vielleicht persönlich?“ Ihre Stimme war leise und lauernd.
Ich lächelte und nickte nur zur Antwort, dann erklomm ich die sehr steile und recht enge Treppe. Auch im Inneren überwog das düstere Element: wenig Licht, niedrige Decken, unvermittelt und irgendwie sinnlos herumstehende Säulen, dunkle Kunstwerke an den Wänden. Ich ging schnell durch die verschiedenen Räume, bis ich am Ende eines Ganges eine schmale, dunkle Gestalt sah. Beim Klang meiner Schritte drehte sie sich um. Ein Mann, vielleicht um die dreißig, mit blassem Gesicht unter einem wirren Schopf brauner Locken, sah mir entgegen.
„Hagen Noter?“, fragte ich.
„Ja, wie kann ich Ihnen helfen?“ Er sah aus, als hätte er seit Wochen nicht geschlafen.
Ich stellte mich vor. Mein ohnehin schon dürftiges Selbstbewusstsein sank, als ich seinen erstaunten Gesichtsausdruck bemerkte und sah, dass er an mir vorbeispähte – in Erwartung eines zweiten Agenten. Das sprach er dann auch direkt aus: „Frau Bruhn sagte mir, dass sie zwei Agenten schicken wolle?“
„Ich bin allein.“ Ich straffte meine Schultern und machte mich so groß wie möglich. „Mein Kollege ist plötzlich erkrankt. Aber keine Sorge, das wird alles. Können Sie mir irgendwo in Ruhe schildern, was hier vorgefallen ist?“ Ich versuchte, meiner Stimme einen strengen Ton zu geben, aber ich konnte selbst das leichte Zittern darin hören.
Hagen Noter sah enttäuscht aus, aber er fügte sich in sein Schicksal. „Ja, natürlich.“ Er seufzte. „Es kommt mir jetzt selbst lächerlich vor, ich hätte Ihre Agentur nie anrufen sollen.“ Er führte mich zu einer Besucherbank mitten in einem der Ausstellungsräume. „Bitte, setzen Sie sich.“ Er zeigte auf die Bank. „Wir haben keine Büros, aber um diese Uhrzeit sind wir hier ungestört. Was möchten Sie wissen?“
„Alles, was Sie mir erzählen können, Herr Noter. Was haben Sie gesehen? Wann und wo haben Sie es gesehen?“
Wir setzten uns einander gegenüber auf die schwarzen Kunstlederbänke.
Hagen Noter seufzte. „Also gut. Es gibt da ein Bild im ersten Stock, das Porträt einer Frau. Eine Frau, die eine Zigarette raucht. Ich ging vor ein paar Wochen daran vorbei, und mir war, als würde der Zigarettenqualm sich bewegen. Aber da ich es nur aus dem Augenwinkel wahrgenommen hatte, dachte ich natürlich, dass ich mich getäuscht hätte.“ Er seufzte wieder und presste die gefalteten Hände zwischen die Knie. „Ich blieb stehen und sah richtig hin und … und … da …“ Er brach ab und verbarg sein Gesicht in den Händen. „Sie glauben mir ja doch nicht. Niemand glaubt mir. Alle denken, ich sei verrückt!“
Ich rutschte auf dem Polster nach vorn und stützte meine Ellbogen auf die Knie. „Nein, Herr Noter, das denke ich nicht. Niemand von der Agentur denkt das. Wir wissen, dass es solche Dinge gibt. Aber ich kann Ihnen nicht helfen, wenn Sie mir nicht sagen, was passiert ist.“
„Sie hat mir zugezwinkert!“ Noter stieß es zwischen den Fingern hindurch. „Sie hat mir zugezwinkert, verstehen Sie …! Und jedes Mal, wenn ich allein dort vorbeigehe, zwinkert sie mir wieder zu!“ Er nahm die Hände vom Gesicht und starrte mich an. Seine Wangen waren gerötet und die Augen glänzten fiebrig. „Ich will dort nicht mehr entlanggehen. Aber ich muss. Das Bild hängt im Durchgang zu den anderen Räumen. Ich habe meine Kollegen gebeten, es woanders aufzuhängen, aber die sagen, das gehe wegen der Gesamtkomposition der Kunstwerke im Haus nicht.“
Ich stand auf. „Gut“, sagte ich so ruhig wie möglich, „zeigen Sie mir das Bild.“
Er war nicht begeistert, aber er stand gehorsam auf und ging voran in einen schummrigen Gang, bog einmal um die Ecke und blieb stehen. Mit bebender Hand zeigte er auf ein Bild, das in einem kleinen Saal hing, der rechts von einer Treppe und links vom Durchgang zu einem anderen großen Raum abgegrenzt wurde.
Ich ging näher hin. Zu meiner Überraschung war es kein Gemälde, sondern eine Fotografie. Sie zeigte eine Frau im Halbprofil, die genüsslich eine Zigarette rauchte. Sie hielt diese zwischen zwei langen, schlanken Fingern, die blutrot geschminkten Lippen leicht gespitzt. Rauch stieg von der Zigarette auf, auf ewig zur Unbeweglichkeit verdammt. Die Augen mit den dunklen Wimpern fast geschlossen, das Gesicht vom Betrachter halb abgewandt. Lange braune Locken ringelten sich seidig glänzend über ihre Schulter, auf ihrem Kopf thronte ein blumengeschmückter Hut. Eine schöne Fotografie einer schönen Frau. Ich versuchte, etwas Paranormales im Umfeld zu erspüren, aber da war nichts. Vorsichtig streckte ich die Hand aus, um den Rahmen des Bildes zu berühren.
Noch bevor meine Finger sich auf den Rahmen legten, hörte ich Hagen Noter erschrocken nach Luft schnappen.
Ich hob den Blick und erstarrte. Die Frau sah mich an. Sie hatte den Kopf leicht gedreht und sah mir mit leuchtend grünen Augen direkt ins Gesicht! Ich riss meine Hand zurück und taumelte ein paar Schritte nach hinten. Die Frau lächelte leise und zwinkerte sehr langsam mit dem mir zugewandten Auge … einmal. Dann erstarrte sie wieder zur Leblosigkeit einer puren Fotografie. Ein eisiger Schauer lief mir über den Rücken.
Es war doch ein gewisser Unterschied, ob man über solche Fälle in Büchern las und mit den Kommilitonen darüber diskutierte oder ob man sie selbst erlebte, das musste ich zugeben. Ich rang kurz um Fassung und Professionalität, dann drehte ich mich zu Hagen Noter um. Er war verzweifelt auf dem Fußboden zusammengesunken. Das Gesicht wieder in den Händen vergraben. Er schluchzte leise.
„Herr Noter“, sagte ich, „ich habe es auch gesehen. Es ist ein Bildgeist. Kein Problem. Sie sind nicht verrückt, und den Geist bekommen wir weg.“
Zehn Minuten später saßen wir wieder auf der Besucherbank in dem kleineren Ausstellungsraum von vorhin, Hagen Noter sehr aufrecht und steif. Er sah mich nicht an, sondern starrte über meine rechte Schulter. Ich wusste, dass dort ein kleines Gemälde mit einer nebeligen Landschaft hing. Sein Atem ging stoßweise, und ab und zu zuckte er zusammen. Aber mein unablässiges, beruhigendes Gemurmel schien ihn tatsächlich etwas zu besänftigen. Als ich dachte, nun sei es genug und man müsse die Sache in Angriff nehmen, räusperte ich mich. Sein Blick fiel kurz auf mich, aber nur, um sich wieder über meiner rechten Schulter zu verlieren.
„Das scheint tatsächlich ein Bildgeist zu sein“, begann ich. „Bildgeister sind schwache Wesen, die sich leicht vertreiben lassen. Ich denke, wir beginnen mit Stufe eins der Vertreibung und sehen, wie weit wir damit kommen.“
Hagen drehte den Kopf leicht zu mir. „Stufe eins?“
Schön, er zeigte Interesse, das war doch ein gutes Zeichen.
„Und was ist ein Bildgeist? Was macht er? Warum kommt er zu mir?“ Jetzt sprudelten die Fragen nur so aus ihm heraus. „Und“, jetzt sah er mich doch direkt an, „warum zeigt er sich Ihnen, aber nicht den anderen Galeriemitarbeitern?“
„Gut, ja. Das sind viele Fragen.“ Ich setzte mich etwas bequemer hin, obwohl ich mir nicht sicher war, ob ich sie ihm alle beantworten sollte. „Ein Bildgeist ist, wie erwähnt, ein schwacher Geist, der sich ein Bild als Wohnstatt auswählt. Er kann sich nicht von unserer Welt lösen und versucht so, an seinem früheren Leben festzuhalten.“ Ich hob abwehrend die Hand, da Noter schon Luft holte, um weitere Fragen zu stellen. „Wie das alles funktioniert und warum sie das machen, darüber existieren nur Theorien.“
Das war gelogen, aber die nicht magischen Personen mussten ja nicht alles wissen. Es war genug, dass wir versuchten, sie vor aus dem Ruder gelaufenen Anderweltbewohnern zu schützen. Die meisten Menschen tappten sowieso durchs Leben, ohne je von der magischen Seite ihrer Welt oder gar der Anderwelt zu wissen. Sie kamen nie bis selten damit in Berührung, und das war auch besser so. Sie würden es entweder nicht verkraften oder versuchen, die Magie und die magischen Menschen festzusetzen. „Das Wesen zeigt sich Ihnen, Herr Noter, weil Sie ein sensibler und allem gegenüber aufgeschlossener Mensch sind. Im Unterschied zu Ihren Kollegen … offensichtlich.“ Er sollte sich nicht schlecht oder gar schwächlich fühlen, denn er würde noch eine wichtige Rolle in der Geistervertreibung spielen müssen. Dazu war etwas Selbstvertrauen vonnöten. „Ich konnte den Geist sehen, weil ich medial begabt bin. Deshalb arbeite ich ja für die Agentur.“ Ich stand auf, um der Fragerei ein Ende zu machen. „Stufe eins heißt, dass wir putzen.“
„Putzen? Was meinen Sie mit Putzen, Frau Wissmann?“ Hagen Noter ging schon wieder ganz in Protest und Misstrauen auf.
Ich lächelte ihm zu, vermisste aber Hendrix gerade schmerzlich. Bestimmt hätte er durch seine Erfahrung die ganze Sache viel souveräner gehandhabt. „Putzen im wörtlichen Sinn“, erklärte ich. „Wir schrubben den Boden mit Wasser und Seife, stauben ab und polieren den Bilderrahmen. Damit signalisieren wir dem Geist, dass er unerwünscht ist.“
Noter starrte mich fassungslos an. „Hier wird jeden Tag geputzt“, sagte er heiser. „Jeden verdammten Tag. Was soll das also nützen?“ Er wandte sich halb ab, als wollte er gehen. Dann drehte er sich doch noch einmal um. „Vielleicht hätte Ihr Kollege, der, der krank geworden ist, doch kommen sollen. Vielleicht hätte er mehr anzubieten gehabt als zu … putzen!“
„Nein!“ Ich sagte das sehr streng. Das heißt, es sollte streng klingen, kam aber etwas piepsig heraus. „Nein, das hätte er nicht.“ Ich richtete mich zu meinen vollen 1,64 Metern auf und starrte ihn verärgert an. Ich war wirklich sauer. „Stufe eins ist eine seit Jahrhunderten praktizierte Methode, um einen Geist zu vertreiben.“ Ich versuchte, mich ein bisschen zu beruhigen. „Man zeigt dem Geist damit, dass er nicht erwünscht ist. Schwache Geister haben ein Problem mit Ablehnung. Normalerweise verlassen sie dann den Ort. Mit dem Putzen zeigen wir ihnen auf sensible Art und Weise, dass sie gehen sollen. Es ist ein Zeichen für sie, ohne dass wir ihnen direkt sagen müssen, dass man sie hier nicht haben möchte. Mit direkter Ablehnung könnten wir sie kränken oder verärgern.“
„Ach“, stieß Hagen Noter hervor, „politische Korrektheit gegenüber einem Geist? Das ist doch lächerlich!“
Ich konnte nur den Kopf schütteln über so viel Dummheit. „Einen gekränkten oder verärgerten Geist“, erklärte ich langsam, „möchte niemand in seinem Haus oder an seinem Arbeitsplatz haben.“ Ich nahm meine Tasche von der Bank und wandte mich zur Tür. „Überlegen Sie es sich, Herr Noter. Ich helfe Ihnen gern, aber Sie müssen natürlich auch Hilfe annehmen.“
Er zögerte einen kleinen Moment, dann lenkte er ein. „Also gut. Entschuldigen Sie, Frau Wissmann. Bitte helfen Sie mir. Was müssen wir genau tun?“
Hagen Noter sah wirklich elend und hilflos aus, so blass und dünn, wie er vor mir stand. Natürlich war er mit den Nerven fertig, das konnte ich gut verstehen. Aber eben deshalb hatten wir auch in der Ausbildung gelernt, dass wir uns durchsetzen mussten, wenn der Kunde anfing, schwierig zu werden. „Es ist wichtig, dass Sie selbst das Putzen übernehmen, Herr Noter“, erklärte ich ihm versöhnlich. „Der Geist ist Ihnen erschienen und nicht den Reinigungsleuten. Sie selbst müssen ihm vermitteln, dass er unerwünscht ist. Wo können wir Putzzeug herbekommen? Gibt es hier einen speziellen Raum?“
Hagen Noter schluckte, dann nickte er. „Ja, natürlich, im Keller.“ Er zögerte kurz. „Aber können wir diese Putzaktion nicht nach Galerieschluss durchführen? Die anderen halten mich ohnehin schon für verrückt.“
Mir war das egal; wenn er im Dunkeln Geister austreiben wollte, sollte mir das recht sein.
„Wann schließt die Galerie?“, fragte ich.
„Um 20 Uhr“, erwiderte Hagen.
„Dann bin ich um 20.15 Uhr wieder hier.“
Er nickte.
„Ach, und Herr Noter, Sie können dann ja schon einmal die Putzsachen vorbereiten. Aber unten, nicht bei unserem Geist.“ Damit ließ ich ihn stehen.
Um besagte Uhrzeit würde es dunkel sein, und bei Geistern wusste man nie. Einer, der so harmlos erschien wie ein Lämmchen, konnte bei dem Versuch, ihn zu vertreiben, zu einer extremen Bedrohung werden. Berührte ein Geist einen Menschen, dann konnte es zu Verfaulungen an dieser Stelle kommen, die nicht immer geheilt werden konnten. Es war nicht selten der Fall, dass jemand ein Körperteil oder im schlimmsten Fall sein Leben verlor. Natürlich konnten mächtige Geister Menschen auch Verletzungen zufügen, die je nach Schwere auch zum Tode führten. Es war töricht anzunehmen, dass Geister Gegenstände bewegen konnten, aber keine Menschen. Wenn ein Geist etwa eine Vase oder einen Tisch werfen konnte, dann auch ein Lebewesen. Kurz und gut: Man musste vorsichtig sein! Und der Volksglaube, dass Geister in der Nacht stärker waren als am Tag, war auf jeden Fall richtig.
Einige mochten glauben und ich war sogar an der Akademie auf diesen Irrglauben gestoßen, dass ich, die ich zu den Corporealisierern gehörte, meinen Körper also auflösen und in eine rein spirituelle „Masse“ umwandeln konnte, dass ich eine Art Halbgeist sei – immun gegen Angriffe von Geistern, Vampiren und Ähnlichem. Das war aber falsch. Ich war kein Geist und auch kein Halbgeist. Wäre ich das, würde es bedeuten, dass ich gestorben war. Das war ich nicht, ich atmete, mein Herz schlug und ich stand hier aus Fleisch und Blut. Die Gabe des Corporealisierens hatte ich von meiner Urgroßmutter geerbt, wofür ich ihr sehr dankbar war. Es war eine überaus praktische Gabe, die mir schon oft von Nutzen gewesen war. Aber was ich eigentlich sagen wollte: Geister konnten gefährlich werden, und zwar für absolut jeden.
Den restlichen Tag bis zum Abend verbrachte ich mit einem kleinen Sightseeing-Spaziergang durch die Altstadt und über die Königsallee. Es war unangenehm kalt, aber ich mochte die alten Häuser, den Fluss mitten durch die Stadt und natürlich die Rheinpromenade. Zwischendurch holte ich mir in einem kleinen Geschäft eine Zimtschnecke, die riesig und einfach köstlich war. Die Zeit verging schnell, aber ich war nicht recht bei der Sache, da ich immer an den Abend und die bevorstehende Austreibung denken musste. Hoffentlich ging alles gut!
Am Abend wartete Hagen Noter wie verabredet im Foyer der Galerie auf mich. Er hatte tatsächlich ein großes Sortiment an Reinigungsutensilien zusammengestellt und auf einen kleinen Wagen geladen, der mich an einen Gepäckwagen erinnerte. Wir redeten nicht viel, sondern schoben zusammen den Wagen durch die Galerie zum Aufzug und bis in den kleinen Saal, in dem das Bild der schönen Raucherin hing. Noter vermied es angestrengt, in Richtung Porträt zu schauen. Er konzentrierte sich fast gewaltsam darauf, einen schon mit Wasser gefüllten Eimer vom Wagen zu nehmen und den Schrubber hineinzutunken. Er begann mit wildem Eifer, den Boden zu wischen – in der vom Porträt am weitesten entfernten Ecke. Ich schnappte mir einen Staubwedel und arbeitete munter drauflos. Dies würde zwar nicht gegen den Geist helfen, aber ich hoffte, Noter mit meinem Staubgewedele moralisch zu unterstützen. Deshalb begann auch ich weit von der Fotografie entfernt und arbeitete mich langsam heran. Man musste dem Geist auch Zeit lassen zu verstehen, was gerade passierte. Es war eisig kalt in dem Raum, und ich hatte das Gefühl, dass es immer kälter wurde. Dazu diese Stille, wie sie nur ein unbewohntes Haus haben konnte. Es war düster im Saal, da er kein eigenes Fenster hatte, sondern nur aus dem Treppenhaus und dem angrenzenden Saal mit Licht gespeist wurde. Ich warf einen Blick auf das Bild: Der Geist hatte verstanden. Und er war nicht erfreut. Die Frau auf der Fotografie hatte mir ihr Gesicht vollends zugewandt, und es war nicht mehr das zarte Antlitz einer schönen Dame, sondern eine verzerrte Fratze. Die Augen starrten mich glühend rot an, spitze Zähne waren gefletscht. Ihre krallenartigen Finger mit den blutroten Nägeln umklammerten den Bilderrahmen, und sie beugte sich weit vor, als wollte sie aus dem Bild heraussteigen. Dazu zischte sie mir Beschimpfungen zu, die ich zum Glück nicht verstand. Ich warf einen schnellen Blick zu Hagen Noter. Er wischte, eifrig über seinen Schrubber gebeugt, noch immer in der Ecke, in der er angefangen hatte.
„Herr Noter“, flüsterte ich, „putzen Sie hier. Es funktioniert.“
Der Galerist blieb wie erstarrt stehen, dann spähte er vorsichtig über seine Schulter in meine Richtung. Als sein Blick auf das Porträt fiel, weiteten sich seine Augen vor Entsetzen.
„Los, los“, wisperte ich energisch. „In diese Richtung putzen. Keine Angst!“
Ich sah seinem Rücken an, wie sehr Hagen Noter sich sträubte, aber auch, dass er einmal tief durchatmete, sich buchstäblich innerlich wie äußerlich aufrichtete und sich umdrehte. Er stieß den Wischmopp mit viel Kraft in den Eimer, klatschte ihn schwungvoll auf den Boden und wischte los. Mit schnellen, wenngleich etwas fahrigen Bewegungen, moppte Noter sich heran. Er warf dem Bild einen ängstlichen Blick zu und wischte nachdrücklich den Boden unter dem Foto. Der Geist hing bereits mit dem halben Oberkörper aus dem Bild, zischte und grunzte, Speichel troff ihm aus dem Mund. Ich griff vorsorglich nach der Flasche mit Weihrauchspray, die ich in meiner Jackentasche bereithielt. Noter schrubbte mit enorm viel Kraft den Boden.
„Gut so.“ Ich konzentrierte mich auf die Augen des Geistes, um jede mögliche spontane Attacke schnellstmöglich zu erkennen. „Und jetzt bewegen Sie sich langsam zur Tür des großen Saales.“
Noter gehorchte und putzte in Richtung des Türbogens.
In dem Moment, in dem er die Tür erreichte, sprang der Geist aus dem Foto. Er hatte noch den Bruchteil einer Sekunde das Aussehen der Frau auf dem Bild, dann veränderte er seine Form in eine Art dunklen Dunst, der Richtung Treppenhaus schwebte und sich dort im Dämmerlicht verlor.
„Fertig!“, verkündete ich. „Sie haben es geschafft, Herr Noter.“
Er richtete sich auf, leicht auf den Wischmopp gestützt, und sah mich an. „Das war es? Er ist weg?“, fragte er.
Ich nickte. „Ja, er, also sie ist weg.“ Ich zeigte auf das Foto, das nun wieder die völlig unbelebte Frau mit den schönen Locken zeigte.
„Und wenn er wiederkommt?“, fragte Hagen Noter.
„Das tun sie nie. Wie gesagt, sie vertragen keine Ablehnung.“ Wer tat das schon? Und Ablehnung über den Tod hinaus bis in alle Ewigkeit musste man auch nicht haben. „Wie sieht es aus“, fragte ich den sichtlich erschöpften Mann, „räumen wir auf?“
Wir redeten nicht mehr viel. Hagen Noter war völlig fertig. Wahrscheinlich hatte er morgen Muskelkater und Kopfschmerzen von der ganzen Anspannung. Aber auch ich war müde. Es war für mich ebenso aufregend und anstrengend gewesen. Aber ich freute mich schon darauf, Adelheid meinen Erfolgsbericht abzuliefern. Mein erster Fall, und ich hatte ihn ganz allein gelöst. Ich war stolz auf mich. Da sah ich aus dem Augenwinkel etwas Kleines, Helles in den Raum hineinflitzen. Aber als ich genauer schaute, war da nichts.
Nun, ich hatte mich wohl getäuscht.
„Ich reise morgen ab.“ Ich gab Noter meine Karte mit meiner Handynummer. „Wenn noch etwas sein sollte, dann rufen Sie mich bitte an.“
Sofort bekam er wieder ängstliche Augen. „Was kann denn noch passieren? Kommt er doch wieder? Was meinen Sie?“
Ich hob abwehrend beide Hände und beruhigte ihn, so gut es ging. Ich wollte zurück ins Hotel. Mich hinlegen. Ausruhen.
Kapitel 2
Ich hatte großartig geschlafen und war von einer grellen Herbstsonne geweckt worden, die mir frech ins Gesicht schien, da ich abends vergessen hatte, die Vorhänge vor das Fenster zu ziehen. Es war noch früh, aber ich fühlte mich munter und unternehmungslustig. Nachdem ich mich eine Weile in den weichen Kissen gerekelt und zufrieden über meinen gestrigen Erfolg nachgedacht hatte, gönnte ich mir eine ausdauernde Dusche. Ich freute mich darauf, meiner Chefin von meinem Erfolg zu berichten.
Gestern hatte ich es wirklich mit einem harmlosen Geist zu tun gehabt. Obwohl er gruselig ausgesehen hatte und es ja immer ein wenig erschreckend war, wenn etwas, das unbelebt sein sollte, sich auf einmal bewegte, war alles ohne Ektoplasma, Schleim und ähnlich unangenehme Auswürfe des Geistes vonstattengegangen. Vor allem hatte uns das Wesen nicht angegriffen.
Ich genoss das heiße Wasser und den zarten Veilchenduft der Hotelseife. Als ich Hunger bekam, schlüpfte ich schnell in T-Shirt, Jeans und Sneakers, fasste die nassen braunen Locken zu einem Dutt im Nacken zusammen und begutachtete mich kurz im Spiegel. Manchmal trug ich braune Kontaktlinsen, um die Leute nicht zu verwirren, denn ich hatte verschiedenfarbige Augen. Mein linkes Auge war leuchtend blau, das rechte leuchtend grün. Deshalb hatten bei meiner Geburt alle geglaubt, dass ich eine Hexe sein müsse – wie meine Mutter. Tatsächlich waren meine magischen Fähigkeiten bisher aber immer recht gering gewesen. Erste Anzeichen, dass ich keine herausragende Hexe, sondern eine Corporealisiererin war, hätte es schon in den ersten Monaten meines Lebens gegeben, so erzählte man mir. Ich sei auf einmal aus meinem Bettchen verschwunden gewesen. Meine Eltern, aufgeregt und in Panik, da ich ja noch nicht einmal sitzen, geschweige denn laufen konnte, hatten mich überall gesucht. Gefunden hatten sie mich erst, als ich plötzlich von der Zimmerdecke geplumpst war. Zum Glück ins Hundekörbchen. Glück für mich, nicht für den Hund, der noch darin gelegen war und den Schreck seines Lebens bekommen hatte. Magische Begabungen waren zwar zum großen Teil erblich, aber niemand wusste bisher, wie genau das funktionierte. Es gab Wissenschaftler, die versuchten, alles genau aufzuschlüsseln und die Spezies in einzelne Gruppen zu unterteilen: Da waren die Magier, also die Hexen und Zauberer, die Dinge kraft ihres Willens verwandeln oder beeinflussen konnten. Dann gab es zum Beispiel die Telekinetiker wie meinen Vater, die Dinge bewegen konnten. Außerdem Drapierer, Illusionisten, Nekromanten, Medien und viele mehr. Das war die eine Gruppe, sie umfasste alle im weitesten Sinn magisch begabten Menschen. Die zweite Gruppe waren die paranormalen Wesenheiten, also Zombies, Wiedergänger oder Geister. Die dritte Gruppe umfasste paranormale Wesen, die zugleich über magische Begabung verfügten. Das wären dann Vampire, Dämonen und solche Gestalten. Aber die Grenzen waren durchlässig und verschwommen. Besser, nicht zu viel katalogisieren und einteilen! Jeder war anders.
In diesem Sinne entschloss ich mich gegen die Kontaktlinsen und enterte den Frühstückssalon. Besonders ansprechend war er nicht: brauner Parkettboden, braune Holztische, braun gepolsterte Stühle! Braun war nun nicht gerade meine Lieblingsfarbe. Das an der Stirnseite des Raumes aufgebaute Frühstücksbuffet sah da schon sehr viel einladender aus. Ich türmte mir Pancakes mit Zimt und Zucker, Ahornsirup und Früchten auf einen Teller und suchte mir einen Platz am Fenster. An dem riesigen Kaffeevollautomaten ergatterte ich dann auch noch ein großes Glas Latte macchiato. Ohne Karamell, aber man konnte ja nicht alles haben. Ich aß, mit mir und der Welt zufrieden, vor mich hin und beobachtete dabei die Leute, die kamen und gingen.
Sehr voll schien das Hotel nicht zu sein. In der Ecke saß eine fröhliche vierköpfige Familie, die in Düsseldorf offenbar einen Kurzurlaub verbrachte. Ich hörte, dass sie Pläne für den Tag machten. In der Mitte des Salons an einem kleinen Tisch saßen zwei Frauen, die kaum miteinander redeten. Sie waren etwa gleich alt und geschäftsmäßig in dunkle Kostüme gekleidet. Die eine sah permanent auf ihr Handy, die andere machte es wie ich – sie ließ den Blick durch den Raum schweifen. Und als Letztes gab es noch einen dunkelhäutigen, sehr groß gewachsenen Mann, der mit dem Rücken zu mir saß und gerade sein Frühstück beendete. Er schien es eilig zu haben, denn er trank im Stehen noch einen Schluck Kaffee und schielte dabei auf seine Uhr. Das Klappern, mit dem er seine Tasse zurück auf die Untertasse stellte, hallte durch den ganzen Raum.
Ich warf auch einen Blick auf die Uhr. Es war mittlerweile schon elf durch. Zeit auch für mich aufzubrechen. Gerade wollte ich aufstehen, da klingelte mein Telefon.
Hagen Noter! Mir rutschte das Herz in den Magen. Ich ließ mich auf den Stuhl zurücksinken und nahm den Anruf an.
„Frau Wissmann? Tessa Wissmann, sind Sie das?“ Hagen Noter klang panisch.
„Ja, natürlich“, gab ich so ruhig wie möglich zurück. „Was ist denn los, Herr Noter?“
„Hier sind ganz viele“, quietschte er, „ganz viele Lichter und Geräusche, und die anderen sehen sie auch. Kommen Sie, Frau Wissmann, kommen Sie schnell!“
Das klang jetzt … nicht so gut. Mein Hochgefühl schwand dahin. Ich raffte meinen Zimmerschlüssel und meine kleine Handtasche an mich und stürmte aus dem Frühstückssalon. Zuerst wollte ich direkt hinüber zur Galerie laufen, aber während ich noch die Hotelhalle durchquerte, schaltete sich mein Verstand ein. Es hatte überhaupt keinen Sinn, wenn ich kopflos und ohne meine Tasche mit dem „Anti-Para-Zeug“, wie wir es auf der Akademie genannt hatten, dort ankam. Die Tasche enthielt die Grundausstattung zur Bekämpfung von paranormalen Wesenheiten, unter anderem Weihrauch, Lavendelspray und Kristalle gegen Geister, Knoblauchspray und Silberketten gegen Vampire und so weiter. Ich lief also in mein Zimmer hinauf. Dort lag die Tasche parat auf dem Stuhl, der vor dem Schreibtisch stand. Ich griff aber nicht sofort danach, sondern blieb kurz stehen, atmete einmal tief ein und wieder aus. Verschränkte die Hände vor dem Bauch, streckte die Arme lang aus und dehnte mich dann langsam nach oben. Und fallen lassen.
Und noch mal.
Dann ging es wieder, mein Herz schlug ruhiger. Bestimmt war alles gar nicht so schlimm. Ich hatte Hagen Noter ja kennengelernt, und er erschien mir doch ein wenig labil und ängstlich. Sicher neigte er zu Übertreibungen.
Ich straffte den Rücken, bog die Schultern energisch nach hinten, nahm die Tasche und machte mich auf den Weg.
Herr Noter empfing mich zusammen mit der älteren, vogelgesichtigen Frau, die ich gestern schon gesehen hatte – Frau Ellis –, und einem noch älteren, sehr korpulenten Mann, der keuchend atmete und kaum einen Ton herausbekam. Er stellte sich mir als „Herr Bittner“ vor. Alle drei waren hektisch, fahrig und aufgeregt.
„Ich weiß ja nicht, was Sie gestern in unserem Haus getrieben haben“, begann Frau Ellis mit schriller Stimme, „aber jetzt ist hier die Hölle los!“ Sie kam einen Schritt auf mich zu und reckte mir ihr Kinn entgegen. Ihre Augen funkelten zornig. „Machen Sie was!“, forderte sie mich auf.
„Dazu müsste ich erst einmal wissen, was eigentlich los ist.“ Ich war stolz, dass meine Stimme so ruhig war. Ich wandte mich an Hagen Noter. „Erzählen Sie mir, was passiert ist.“
Er schluckte schwer und räusperte sich. „Also, es ist so“, begann er, „Frau Ellis war heute die Erste hier. Sie hat aufgeschlossen. Und als sie durch die Räume ging, sah sie solche Lichtblitze überall.“
„Ja“, unterbrach Frau Ellis ihn. „Ich dachte, ich hätte es mit dem Kreislauf und würde Migräne bekommen, da ist das manchmal ähnlich. Aber diese Lichter waren dann doch anders. Sie waren rund und rollten durch die Räume … Und es roch auch ein bisschen verko…“
„Dann kam ich.“ Herr Bittner unterbrach sie. Sein Atem ging jetzt etwas ruhiger. „Ich sah und roch dasselbe wie Frau Ellis. Ich lief nach unten in den Keller, um den Feuerlöscher zu holen, und da … da war es!“ Er hielt inne und starrte mich mit weit aufgerissenen Augen an, in denen sich noch das Entsetzen spiegelte, das er empfunden hatte und wohl auch immer noch empfand.
„Was?“, fragte ich.
„Das Gespenst!“
„Ein Gespenst?“ Das war nicht so gut. Die kleinen Lichtkugeln waren sicher Irrlichter, die irgendwie den Weg hier hineingefunden hatten – vielleicht durch die Lüftung – und sich jetzt einen Spaß daraus machten, die Galerieangestellten zu ärgern. Aber ein Gespenst?
Wenn es denn ein Geist war, dachte ich dann, aber da sprach Herr Bittner schon weiter: „Ein Gespenst, ganz grau, und es stand starr in einer Ecke. Ich glaube, es hat mich nicht gesehen, ich bin gleich wieder rückwärts raus aus dem Keller. Sehr leise natürlich, und die Tür habe ich zugemacht und abgeschlossen und dann bin ich hier hochgerannt und dann war auch Herr Noter da, und der rief Sie dann an …“ Herr Bittner redete sich wieder in Panik und kam aus der Puste, sodass er die letzten Worte nur noch heiser und kaum verständlich herausbekam.
„Gut, gut, kein Problem.“ Ich versuchte es wieder mit der beruhigenden Stimme und hob beide Hände in Schulterhöhe. „Ich bin jetzt da und kümmere mich darum.“ Ich ließ meine Hände langsam sinken. „Zuerst die Lichter. Wo sind sie?“
Frau Ellis zeigte mit spitzem Finger nach oben.
„In Ordnung. Sie bleiben alle hier. Ja, auch Sie, Herr Noter!“ Ich konnte jetzt keinen aufgeregten und zappeligen Galeristen brauchen.
Ich schulterte meine Tasche und lief die Treppe hoch. Schon im ersten Stock roch es leicht verschmort, und ich folgte dem Geruch, bis ich einen langen, schmalen Saal erreichte, der kaum Tageslicht abbekam. Er war zu allem Überfluss mit Kunstwerken, bestehend aus alten Fernsehern und Radios, bestückt. Die kleinen gelben Kugeln rollten und hüpften in dem Raum hin und her, und ich meinte, auch ein leises Kichern zu hören. Irrlichter waren ganz versessen auf alles, was mit Strom zu tun hatte. Ironischerweise, denn am besten vertrieb man sie mit Technik. Ich holte aus meiner Tasche ein kleines, aber sehr starkes Ultraschallgerät hervor und stellte es auf den Boden.
„So, ihr Biesterchen“, sagte ich streng, „jetzt passt mal auf; das wird euch gar nicht gefallen.“
Ich schaltete das kleine moosgrüne Gerät ein. Er war einer meiner Lieblingsapparate, funktionierte wahlweise mit einem leistungsstarken Akku oder über Solarzellen und hatte neben der Ultraschall- auch eine Blitzlichtfunktion und einen Bewegungsmelder. Man konnte verschiedene Schallfrequenzen auswählen, um wirksam alle Eindringlinge wie Katzen, Marder oder eben Irrlichter zu vertreiben. Und der Drehregler zur Einstellung der Frequenz war pink und beleuchtet! Ich drehte den Knopf langsam auf die höchste Position und beobachtete, wie die Irrlichter auf einmal hektisch wurden. Sie rasten wild hin und her, purzelten kreischend übereinander und waren plötzlich in einem grellen Lichtblitz verschwunden. Ich ließ das Gerät zur Sicherheit noch kurz eingeschaltet, aber sie waren weg.
Nun also in den Keller. Dort erwartete mich wohl ein anderes Kaliber.
Ich stieg die Treppe hinunter, ohne Pause im Erdgeschoss zu machen, wo die drei Galeriemitarbeiter vermutlich auf mich warteten. Die Treppe war dunkel, aber ich schaltete kein Licht ein. Während ich, mit einer Hand immer an der Wand entlangstreichend, langsam hinabstieg, veränderte sich die Luft allmählich. Eigentlich war es ein relativ warmer Herbsttag, aber jetzt wurde es zunehmend kühler. Auch schlich sich ein modrig-süßer Geruch mit ein, der sich unangenehm auf die Zunge und die Schleimhäute legte. Ich spürte, wie die ungesunde, stinkende Luft sich in meiner Lunge festsetzte und mir das Atmen erschwerte. Nur weiter, weiter!
Am Fuße der Treppe angekommen, blieb ich stehen und sah mich um. Es war jetzt bitterkalt und der Fäulnisgeruch kaum zu ertragen. Vor mir sah ich die Tür, die Herr Bittner hinter sich abgeschlossen hatte. Der bleierne Klumpen in meinem Magen begann zu glühen. Noch nie hatte ich mich so allein gefühlt. Mein Herz schlug wie ein Hammer gegen meinen Brustkorb. Was sollte ich nun tun? Mein erster Impuls war, mich zu entcorporealisieren, um durch das Schlüsselloch zu gehen und auf der anderen Seite der Tür einen vorsichtigen und unauffälligen Blick zu riskieren. Der Nachteil war, dass ich dann meine Tasche hierlassen musste. Sie war viel zu groß und zu schwer, um sie ebenfalls zu entcorporealisieren. Ich konnte durchaus einige Gegenstände und glücklicherweise auch meine Kleidung mit mir zusammen entmaterialisieren – und dann auch wieder manifestieren –, aber es durften keine zu großen oder schweren Dinge sein. Ich entschloss mich dazu, ein Spray mit weißem Lavendel und ein kleines Silbermesser einzustecken und die Tasche später zu holen, wenn ich wusste, was mich erwartete.
Ich schlüpfte durch das Schlüsselloch, schwebte zur Decke und sah mich in dem Kellerraum um. Gestern hatten Hagen Noter und ich die Putzsachen dort untergestellt. Da war es noch ein ganz gewöhnlicher, leicht muffiger, aber durchaus nicht unfreundlicher Kellerraum gewesen. Jetzt stank es bestialisch nach Fäulnis und Moder, die Luft brannte in meiner Lunge und der Raum war von unstetem bläulichem Anderlicht erhellt. Das konnte kein Geist – oder wie Herr Bittner es nannte – Gespenst sein. Ich tippte auf einen Wiedergänger, der nach Grab und Verwesung stank. Sollte es wirklich ein Wiedergänger sein, war es gut, dass Herr Bittner nur einen sehr kurzen Blick auf ihn geworfen hatte, bevor er die Flucht antrat. Wiedergänger sehen aufgrund der fortschreitenden Verwesung meist recht eklig aus. Wer wusste, ob der alte Mann das verkraftet hätte. Ihm hatte ja schon ein dunkler Schatten Angst gemacht. Ich schwebte an der Decke entlang, in der Hoffnung, dass das Wesen nicht den winzigen durchsichtigen Schatten über sich bemerkte. Manchmal waren paranormale Wesen überraschend hellsichtig.
Wo war er nur? Ich bewegte mich vorsichtig unter der Decke entlang und spähte in alle Ecken. In der Mitte des Raumes stand ein großer Tisch, beladen mit Ordnern, Papierstapeln und einer alten Schreibmaschine. Daneben ein paar alte Stühle und verschiedene Kisten. Ich spähte in die dunklen Ecken des Kellers und entdeckte einen großen Spiegel, der blind und staubig an der Wand lehnte. Darin spiegelte sich trüb ein dunkler Schatten, von blauem Anderlicht umhüllt. Er hockte in einer Ecke unter einem mit alten Lampen, Computerbildschirmen und Kaffeemaschinen beladenen Regal. Die Gestalt saß völlig unbeweglich und schien zu lauschen. Während ich noch überlegte, was ich nun am besten tun sollte, sprang das Wesen urplötzlich auf und schlug mit seinen langen Armen wild in der Luft herum. Ich fuhr blitzschnell zurück, doch nicht schnell genug. Sein ekliger Arm, von dem Haut und Fleischfetzen herabhingen, durchtrennte einen Teil meiner Wolke und beendete damit die Entcorporealisierung. Ich fiel zu Boden und schlug mit dem Kinn und den Knien hart auf dem Boden auf. Der Wiedergänger stürzte sich auf mich, brüllte mich an und schwappte damit eine Welle seines stinkenden Atems über mich. Mir wurde augenblicklich übel, aber ich schaffte es noch, das Lavendelspray aus der Jackentasche zu fummeln und ihn damit einzunebeln. Er hustete und würgte nun seinerseits und ließ einen Moment von mir ab. Ich rappelte mich schnell auf und wich nach hinten in Richtung Tür aus. Blitzschnell ließ ich mir meine Möglichkeiten durch den Kopf gehen. Die Tür war von außen abgeschlossen. Ich müsste mich entcorporealisieren, um durchzukommen, doch dafür war keine Zeit. Lavendel half nicht wirklich gegen Wiedergänger, aber das Silbermesser würde es tun. Nur musste ich ihm dazu wieder nahekommen. Das war gefährlich.
Ich stieß gerade mit dem Rücken gegen die Tür, als die Kreatur sich wieder auf mich warf. Laut brüllend und mit ausgestreckten Armen. Ich starrte einen Moment wie gelähmt in sein verzerrtes, scheußliches Gesicht. Die Augen glühten in wildem Wahn, die Haut hing in Fetzen herunter und die Haare standen ihm nur büschelweise vom Kopf ab. Ich hörte mich schreien, er brüllte und ich duckte mich schnell zur Seite weg, sodass er mit seinem ganzen Schwung gegen die Tür knallte. Aber er spürte ja nichts, er war schon seit Langem tot. Er richtete sich wieder auf und drehte sich zu mir um, langsam jetzt, was aber noch bedrohlicher war als das wilde Herumgerase. Er kam wieder auf mich zu. Einen Schritt vor den anderen setzend und unerbittlich. Er knurrte mich durch seine schwarzen Zähne hindurch wütend an. Ich fasste nach dem kleinen Silbermesser in meiner Tasche und umschloss den Griff fest mit den Fingern, wich weiter zurück, während ich eine Stelle an seinem Körper suchte, in die ich es am wirkungsvollsten hineinrammen konnte. Es hatte ja nur eine kurze Klinge, aber das Silber würde wie Gift auf ihn wirken. Auf der Akademie hatten wir Capoeira gelernt und sehr, sehr viel trainiert. Ich bewegte mich entsprechend leicht vorgebeugt, auf den Zehenspitzen tänzelnd um ihn herum, das Messer in der linken Hand. Auch wenn der Platz hier im Keller begrenzt war, gelang es mir, ihm immer wieder auszuweichen, indem ich mich mit weichen, wiegenden Schritten um ihn herumbewegte. Die ganze Zeit brüllte er und schlug mit den Armen nach mir. Durch die heftigen Bewegungen lösten sich Fleisch- und Hautfetzen von seinen Armen, und die Augen quollen ihm aus den Höhlen. Ich versuchte, flach zu atmen und meinen Herzschlag zu kontrollieren, damit im entscheidenden Moment meine Hand nicht zitterte.
Dann war es Zeit für den Angriff. Ich senkte leicht den Kopf und stürzte mich auf ihn. Die Kreatur war so überrascht, dass sie nicht schnell genug reagierte. Ich rammte ihm mein kleines Silbermesser in den Hals. Sein Brüllen ging in ein Gurgeln über, dann in eine Art Röcheln. Er lag halb auf mir, ekelhaft stinkend, aber bewegungslos. War er erledigt? Ich kroch mit etwas Mühe unter ihm hervor. Er regte sich nicht. Langsam bewegte ich mich rückwärts von ihm weg, den Blick unentwegt auf die reglose Gestalt gerichtet. Ich beobachtete, wie das blaue Anderlicht langsam erlosch. Dann begann sein Körper zu zerfallen, und ich wandte den Blick ab.
Ich hatte es geschafft, aber ich verspürte im Moment keine Erleichterung oder gar Triumph. Oft empfand ich Mitleid mit den paranormalen Wesen, die immer wieder in die Welt der Lebenden gerieten, oft einfach nur verwirrt und durcheinander waren und mit der Situation nicht zurechtkamen. Aber dieser Wiedergänger war so ekelhaft gewesen, dass sich nur Abscheu meiner bemächtigte. Gleichzeitig schämte ich mich dieser Regung. Auch er war einmal ein Mensch gewesen, hatte geatmet und gelacht und sicher auch geliebt. Jetzt war er nur noch ein Haufen stinkenden Fleischs, der langsam zu Staub zerfiel und wahrscheinlich morgen vom Reinigungspersonal aufgesaugt werden würde. Ich kam mir schäbig vor. Außerdem war mir von der schlechten Luft immer noch übel.
Ich beschloss, dass es höchste Zeit war, an die frische Luft zu kommen. Da die Tür natürlich immer noch verschlossen war, legte ich zuerst mein Ohr an das Schlüsselloch, um zu hören, ob draußen die Luft rein war. Ich konnte nichts vernehmen. Also löste ich mich wieder auf und glitt durch das Schlüsselloch. Draußen, am Fuß der Treppe, nahm ich wieder meine feste Gestalt an, schulterte meine Tasche und machte mich auf den Weg nach oben.
Die Treppe erschien mir ewig lang und steil, was wohl von dem Sauerstoffmangel durch die verpestete Luft kam und natürlich auch an dem zurückliegenden Kampf lag. Ich schleppte mich und meine Tasche mühsam Stufe für Stufe nach oben. Auf dem obersten Treppenabsatz erwarteten mich schon das Galeriepersonal. Eigentlich gaben sie ein komisches Bild ab: Der dürre Herr Noter, der unglaublich dicke Herr Bittner und die vogelhafte Frau Ellis standen dort nebeneinander, alle drei händeringend, mit gereckten Hälsen und ängstlichen Gesichtern. Als ich in ihr Blickfeld kam, stießen sie kollektiv einen erleichterten Seufzer aus, und Noter kam die Treppe hinuntergehastet, um mir zu helfen. Ich war ihm dankbar, dass er mir die schwere Tasche abnahm und auch erst einmal nichts sagte. Als ich oben war, griff Frau Ellis nach meinem Ellenbogen und führte mich überraschend sanft, aber bestimmt zu einem Sofa.
„Hol einen Brandy aus meinem Schreibtisch“, befahl sie scharf, und Herr Bittner eilte davon.
Kurz darauf war er mit einem Glas zurück, das randvoll mit einer goldbraunen Flüssigkeit gefüllt war, und drückte es mir in die Hand.
„Trinken“, forderte Frau Ellis mich auf.
Ich hob das Glas zum Mund, aber meine Hand zitterte so sehr, dass ich einen großen Teil seines Inhaltes verschüttete. Ein beißend scharfer Geruch verteilte sich im Raum. Ich mochte Brandy und solch scharfe Alkoholika nicht, aber jetzt sog ich dankbar den würzigen Duft ein. Er vertrieb hoffentlich den Fäulnisgestank, der immer noch in meiner Nase festsaß. Frau Ellis griff nach meiner Hand und führte sie langsam zu meinem Mund. Ich trank einen winzigen Schluck und musste sofort husten. Aber es tat gut, das Brennen im Mund durch die Speiseröhre bis hinunter in den Magen zu spüren. Der scharfe Abgang vertrieb auch den unangenehmen Fäulnisgeschmack, der mir noch immer im Mund klebte. Ich nahm noch einen Schluck, hustete und holte dann tief Luft.
Frau Ellis nahm mir das Glas aus der Hand und trank dann selbst einen großen Schluck.
„Was ist passiert?“, wollte Hagen Noter jetzt wissen. „Es hat sich fürchterlich angehört. Wie ein Kampf.“
„Es war ein Kampf“, erklärte ich. „Aber es ist vorbei, ich habe den Geist erledigt.“
Sie wollten noch mehr wissen und bedrängten mich mit Fragen, aber ich war müde und hatte genug. Ich stand auf, drückte meinen Rücken durch und nahm dann meine Tasche.
„Ich gehe jetzt“, verkündete ich. Als ich die entsetzten Gesichter sah, fügte ich hinzu: „Ich bleibe noch bis morgen in Düsseldorf. Wenn noch etwas ist, hat Herr Noter ja meine Nummer. Ansonsten wird die Agentur Ihnen eine Rechnung zusenden. Bis dann! Einen schönen Tag noch Ihnen!“
Ich ignorierte die drei einfach mit all ihren Fragen und Ausrufen und trat hinaus in die Sonne, die jetzt hell und warm in die Mutter-Ey-Straße fiel. Ich wandte meine Schritte nicht dem Hotel, sondern dem Rhein zu, wo ich mich draußen in das kleine Café am Marktplatz setzen wollte, einen Latte macchiato Karamell trinken und mich vom Scheitel bis zur Sohle von der Sonne bescheinen lassen wollte.
Langsam ging ich die Straße hinunter. Ich hatte es geschafft. Eigentlich hatte es Spaß gemacht. Ja, gut, der Wiedergänger war äußerst abstoßend gewesen. Aber ich hatte ihn besiegt, was sich durchaus aufregend und interessant angefühlt hatte. Genauso hatte ich mir den Job vorgestellt, als ich mich für die Ausbildung entschied. Abwechslungsreich, spannend. Ich war wahrlich nicht für einen reinen Bürojob geschaffen! Ich brauchte das Abenteuer. Und jetzt hatte ich einen Bildgeist, einen Trupp Irrlichter und vor allem den Wiedergänger besiegt. Und hatte es ohne Hilfe oder Rat geschafft. Ich konnte mich jetzt durchaus als vollwertige Agentin der AzAmeV fühlen. Ich ging glücklich und stolz meinem Kaffee entgegen.
Da klingelte mein Telefon.
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