Rilke und die Frauen Rilke und die Frauen - eBook-Ausgabe
Biografie eines Liebenden
„›Rilke und die Frauen‹ bietet ein buntes, feinfühlig-unterhaltsames Panoptikum der weiblichen Zuneigung, An- und Abwesenheit, an dessen Beginn allerdings, wie sollte es anders sein, Rilkes leibliche Mutter Sophia stand (...). In Kenntnis der 1134 Briefe Rilkes an seine Mutter, die erst 2009 veröffentlicht wurden, gelingt es Schwilk mit seinem Buch einen wesentlichen neuen biographischen Akzent zu setzen: der Dichter als Muttersohn, oszillierend zwischen Anbetungs- und Fluchtgefühlen gegenüber allem Weiblichen.“ - Die Tagespost
Rilke und die Frauen — Inhalt
Rainer Maria Rilke feierte die Liebe, verschrieb sich ihr mit ganzer Seele. Die Frauen standen für ihn im Mittelpunkt. Angefangen bei seiner innig geliebten Mutter Sophia und der gestrengen „Übermutter“ Lou Andreas-Salomé über die Bildhauerin Clara Westhoff bis zu der großzügigen Mäzenin Fürstin von Thurn und Taxis. In seiner neuen, meisterlich geschriebenen Biografie erzählt Heimo Schwilk von diesen Frauen und ihren Schicksalen. Ein Buch über die Liebe – und wie sie sich in großer Dichtung vollendet.
Leseprobe zu „Rilke und die Frauen“
Vorwort
Es kann kein Mensch aus sich so
viel Schönheit heben, daß sie ihn
ganz verdeckt. Seines Wesens ein
Stück sieht immer dahinter hervor.
Rainer Maria Rilke
Rilke war das, was man heute ironisch als „Frauenversteher“ bezeichnen würde. Er behauptete von sich, eine weibliche Seele zu besitzen, und verfasste viele seiner Gedichte aus der Perspektive von Frauen, nannte sie „Lieder der Mädchen“ oder „Mädchen-Klage“. „Die einzige Gnade, die ich erflehe, ist die, daß meine Werke ein zartes Echo in den Herzen hübscher Frauen finden möchten“, schrieb schon der [...]
Vorwort
Es kann kein Mensch aus sich so
viel Schönheit heben, daß sie ihn
ganz verdeckt. Seines Wesens ein
Stück sieht immer dahinter hervor.
Rainer Maria Rilke
Rilke war das, was man heute ironisch als „Frauenversteher“ bezeichnen würde. Er behauptete von sich, eine weibliche Seele zu besitzen, und verfasste viele seiner Gedichte aus der Perspektive von Frauen, nannte sie „Lieder der Mädchen“ oder „Mädchen-Klage“. „Die einzige Gnade, die ich erflehe, ist die, daß meine Werke ein zartes Echo in den Herzen hübscher Frauen finden möchten“, schrieb schon der Neunzehnjährige. Dabei hatte er es, schüchtern wie er war, schwer, die Frauen zu beeindrucken. Rilke war kein schöner Mann, erst in seinen späteren Lebensjahren gewannen seine weichen, mit den wulstigen Lippen und dem fliehenden Kinn irgendwie auch karikaturhaften Züge einen Anflug von reifer Männlichkeit. Umso mehr Sorgfalt verwendete er lebenslang auf sein Äußeres, das von ausgewählter Eleganz, aber nie eitel daherkam. Seine stärksten Waffen waren seine tiefblauen, nach innen gerichteten Augen und seine sonore, österreichisch gefärbte Stimme. Als Rezitator war Rilke unschlagbar, und auch im ernsten Gespräch – nicht in der lebhaften Diskussion – konnte er wie kaum ein anderer für sich einnehmen. Diese Fähigkeit der gespannten, hochkonzentrierten Zuwendung bezauberte die Frauen. Für sie erschien er wie ein Wesen aus der Idealwelt ihrer Träume: einfühlsam, leise und auf sanfte Weise werbend mit einem erotischen Unterton, der Spannung aufbaute, aber nie zudringlich wurde. Und dieser Dichter verfügte noch über ein zusätzliches Mittel der Werbung: den Brief. Raffiniert verstand es Rilke, vor allem die weiblichen Adressaten seiner Briefe in eine existenzielle Komplizenschaft hineinzuziehen, indem er seine Sache zu der ihren machte. Das schmeichelte, berückte – und schuf eine emotionale Abhängigkeit, die nach immer mehr Zuwendung und Intimität verlangte.
Der Biograf hat den Vorteil, gleichsam aus der Vogelschau der Quellenkenntnis alle Korrespondenzen zu überblicken. Dabei werden die Muster und die Variabilität von Rilkes fast unbegrenzter Fähigkeit zur Menschenfischerei erkennbar. Für jeden Briefpartner findet er einen anderen Ton, ohne je opportunistisch Zugeständnisse zu machen, was seine dichterischen oder philosophisch-ethischen Überzeugungen betrifft. Dennoch waltet in diesen abertausend Zeugnissen ein einziger großer Wille: sich Menschen und Dinge gefügig zu machen für das große Werk. Hier ist Rilke kompromisslos und zielstrebig bis ins abstoßend Egomane hinein. Die subtil umworbenen Fürstinnen, Baronessen und Gräfinnen sind eben nicht nur geistreich oder reizvoll, sondern vor allem vermögend und immer dienstbar, was die Förderung des rastlosen Dichters angeht. In dieser Darstellung werden deshalb auch ausführlich Rilkes bis an die Grenzen der Maßlosigkeit gehenden Wünsche und Forderungen geschildert, die er seinen Gönnerinnen zumutete. Rilkes Freundinnen und Mäzenatinnen haben ihre sehr persönlichen Erinnerungen der Öffentlichkeit preisgegeben. Sie geben ein facettenreiches, lebensnahes Porträt des Dichters, das hier erstmals vollständig zur Schilderung des alltäglichen Lebens von Rilke genutzt wird.
Über Rilke scheint alles gesagt. Über seine tief berührende, zugleich aber auch bewusst dunkle Lyrik, sein extravagantes Leben auf Schlössern und in elitären Adelszirkeln, sein weihevoll inszeniertes Außenseitertum. Auch über sein schwer fassbares Gottesbild wie seine ästhetisch ausgerichtete Religiosität gibt es zahlreiche Studien. Und natürlich haben sich Forscher wie Biografen an Rilkes schillernder Beziehung zu den Frauen und seinem emphatischen Begriff der Liebe abgearbeitet, der ihm bis heute vor allem das Interesse weiblicher Leser sichert. Dennoch bleibt ein Mysterium: die Magie eines Dichters, der es verstand, sein Leben fast vollkommen in seinem Werk aufgehen zu lassen. Die Leidtragenden dieses poetisch so erfolgreichen Verfahrens waren die Frauen, die Rilkes Weg säumten und die auserkoren waren, in den „Weltinnenraum“ seiner Imaginationen hineingesogen und in Dichtung „verwandelt“ zu werden. Von solchen Schicksalen handelt dieses Buch.
Schon die Verliebtheit des Schülers zeigt den Zug ins Absolute, Übersteigerte, der Rilkes Verhältnis zu den umworbenen Frauen auszeichnete. Die Liebesbeteuerungen gegenüber der Prager Jugendfreundin Valerie von David-Rhonfeld unterscheiden sich nicht allzu sehr von den Briefen, die er später an die bewunderte Lou Andreas-Salomé, an Clara Westhoff, seine spätere Frau, an die Pianistin Magda von Hattingberg („Benvenuta“), die Malerinnen Lolou Albert-Lasard („Lulu“) und Elisabeth Klossowska („Mouky“) richten wird. Immer beschwört er die Einzigartigkeit seiner Gefühle, die Erlösung, die die Liebe für ihn, den Einsamen, von der Mutter Verlassenen und für die Dichtung Geborenen, bedeutet. Schon Rilkes junge Geliebte Valerie, die den Pubertierenden im Rückblick als abstoßend hässlich beschrieb, war beeindruckt von der verwandelnden Kraft der Erotik des Geistes und wurde, indem sie die Finanzierung der Veröffentlichung seiner Jugendgedichte übernahm, zu Rilkes erster Gönnerin.
Der Schlüssel für Rilkes Beziehung zum weiblichen Geschlecht ist sein Verhältnis zur Mutter. Auch hier setzt dieses Buch bewusst einen neuen Akzent. Die großen Biografien sind ohne Kenntnis der 1134 Briefe Rilkes an seine Mutter Sophia geschrieben, die 2009 in einer zweibändigen, sorgfältig kommentierten Edition veröffentlicht wurden. Sie zeigen einen Dichter, der seine Mutter lebenslang verehrte. Sophia Rilke, die gern selbst Schriftstellerin geworden wäre, erkannte früh die dichterische Begabung ihres Sohnes. Gegen den Widerstand des Vaters und der Familie förderte sie seine künstlerische Sensibilität, was der Sohn ihr nie vergessen hat, selbst in Phasen der Abgrenzung und der Loslösung vom katholischen Milieu der Mutter. Dankbarkeit bestimmte lebenslang Rilkes Verhältnis zu seiner Mutter, die stolz war auf den berühmten Sohn, der geschafft hatte, was ihr versagt blieb.
Neben dem Gefühl dankbarer Verbundenheit existierte jedoch auch das eines unwiederbringlichen Verlusts, den Rilke erlitt, als seine Mutter sich vom Vater trennte und schließlich Prag verließ, um einem Glück hinterherzureisen, das sie nie finden sollte. Rilke hat diese frühe Enttäuschung zum Trauma seines Lebens stilisiert – besonders gegenüber den umworbenen Frauen. Sie sollten ihm geben, was ihm die Mutter bei aller Liebe nicht geben konnte. So suchte er unentwegt Ersatzmütter und fand sie nacheinander in der strengen Lou Andreas-Salomé, dann in der schwedischen Schriftstellerin Ellen Key und vor allem in der resoluten Fürstin von Thurn und Taxis, die Rilkes ständiges Liebeswerben durchschaute und ironisierte. Und am Ende seines Lebens fand er in Nanny Wunderly-Volkart eine selbstlose Vertraute, die ihm wie einem kleinen Kind alle Wünsche von den Lippen ablas und sie sogleich erfüllte.
So sehr Rilke mütterliche Zuwendung einforderte, so wenig war er bereit, sich verantwortlich auf einen Menschen einzulassen. Die als absolut empfundene Berufung zum Dichter dominierte jede menschliche Beziehung. Hier war Rilke zu keinem Kompromiss bereit und entzog sich konsequent jeder Verpflichtung, die ihm Ehe und Familie auferlegten. Warum er Clara Westhoff, die schweigsame Bildhauerin, heiratete und mit ihr aufs Land nach Worpswede zog, blieb ihm später selbst ein Rätsel. Denn jede Bindung beschwerte ihn und nötigte zur Flucht – in neue Bindungen. Rilke feierte die Liebe und entzog sich ihr, als wolle er der Flamme, die er entzündet hatte, nicht zu nahe kommen. Ruth, die eigene Tochter, ließ er von den Großeltern erziehen, um in Paris ein Buch über Rodin schreiben zu können. Statt sich um Ruth zu kümmern, suchte er sich gelegentlich Ersatztöchter auf Zeit, an denen er seine Wirkung als Dichter und eine gönnerhafte Vaterschaft erproben konnte. Dieser Dichter war ein Meister des Rückzugs, der die, die er an sich band, bald aus seinem Leben wieder hinauskomplimentierte. Die Liebe sollte ihm allein zur Selbststeigerung als Dichter verhelfen. In der erinnernden Distanz konnte Rilke aus heißen Emotionen kühl und formvollendet Kunst gestalten. Die Frauen haben es ihm verziehen – spätestens dann, wenn sie sich selbst und ihr Leben in seinem großartigen Werk wiedererkannten.
Zu Rilkes Ambivalenzen gehörte auch die Sexualität. Er befürwortete („Brief an einen Arbeiter“) den tabufreien Umgang mit ihr, räumte ihr aber im eigenen Leben wenig Raum ein. Die wenigen „phallischen Gedichte“, die er schrieb, entsprangen einer Metaphorik kosmischer, nicht männlicher Fruchtbarkeit. Sein Begriff der Liebe war religiös fundiert, weniger erotisch. Rilke liebte viele Frauen. Aber er war weder ein Don Juan noch ein Casanova. Der eine wollte Unterwerfung, der andere Hingabe. Rilke aber liebte die Frauen wie ein Sohn die eigene Mutter. Deshalb erschrak er, wenn es in der Liebe zum Letzten kommen sollte. Er floh vor dem Feuer der Leidenschaft, das seine Briefe und Gedichte entfacht hatten. Wie im Verhältnis zu seiner Mutter, brauchte er bei seinen Geliebten die Balance von Nähe und Distanz. Mit Lou Andreas-Salomé und Clara Westhoff hatte er erste sexuelle Erfahrungen gemacht, aber keine Erfüllung gefunden. Die körperliche Liebe war nicht seine Sache. Er flüchtete zeitweilig in die Selbstbefriedigung, wie er gegenüber seiner Vertrauten und Freud-Schülerin Lou bekannte. Rilke war ein Sänger der Liebe, aber gewiss kein guter Liebhaber. Seine Vereinigungen mit der Geliebten fanden im Herzen – oder im Gedicht statt. Das wussten die Männer jener reichen Frauen, mit denen er korrespondierte. Rilke liebte den Duft der Rose, aber er berührte nicht ihre Blätter. Körperliche Annäherungen enden in Rilkes Gedichten oft in jener großen Enttäuschung, die er in seinem Gedicht „Einsamkeit“ beklagt. Es entstand am 21. September 1902 in Paris und beschreibt eine traurige Liebesnacht und die Dämmerung eines regnerischen Morgens, „wenn die Leiber, welche nichts gefunden,/ enttäuscht und traurig von einander lassen“.
Auf den Liebesakt müsse man sich Wochen vorbereiten, meinte Rilke. Man darf diese Aussage auch symbolisch verstehen: Liebe ist eine Aufgabe, die wie das Schreiben eine sich steigernde Virtuosität verlangt. Eine Suchbewegung, die nicht unbedingt im Finden enden muss: Der Weg ist das Ziel. So ist Rilke auch ein Meister der Verzögerung, mit allen Assoziationen, die sich daran knüpfen lassen. Nicht die Erfüllung, sondern die Verheißung empfand er als seine Mission – als Dichter und als Mann. Er wollte ein „Rühmer der Freude“ sein, der großen Vorfreude auf das letzte Geheimnis, das sich einmal enthüllen würde. Frauen und Engel verkörpern es, Dichter rühmen es. Die Liebe ist sein höchster Ausdruck, aber auch sie kann es nur umkreisen. Dass es sich immer wieder neu entzieht, gehört zum Leben. Mit der Liebe hat Gott sich selbst in seine Schöpfung eingebracht und darf nun an ihr mitwachsen, sich an sich selbst vollenden. Das war Rilkes Credo jenseits aller christlichen Dogmen. Wer so hoch hinaufzielt wie er – seine Elegien markieren den Scheitelpunkt dieser Suchbewegung –, darf auch scheitern. Gott verschwendet sich in der Welt, das Leben des Dichters muss sich in der Poesie vollenden. Rilkes Frauen haben das geahnt und stillgehalten, wenn der Zug an ihnen vorüberging. Sie wussten, dass die Liebe vor allem den Liebenden beschenkt, der Schmerz aber auch etwas Heilsames hat. Am Ende steht Rilkes große Dichtung vor uns, in der das alles auf wunderbare Weise aufgehoben ist.
Zu großem Dank bin ich Uwe Wolff verpflichtet, dem Freund und Mentor, was die theologischen Bezüge von Rilkes Werk betrifft. Ohne ihn, den profunden Kenner der Welt der Engel, hätte dieses Buch so nicht geschrieben werden können. Ich danke auch Kristin Rotter vom Piper Verlag und meiner Lektorin Heike Wolter für die sachkundige und sorgfältige Begleitung.
Heimo Schwilk
Berlin, im Januar 2015
Sophia Rilke – Mutter des Erwählten
Eine leidenschaftliche Frau
„Der Wert eines Kusses liegt allein in seiner Glut.“
Der kleine Engel mit den blauen Augen steht wieder neben ihr. Er ist nicht gestorben. Er trägt ein weißes Gewand, wie die Mädchen zur ersten heiligen Kommunion. Sophia Rilke hat es eigenhändig mit Brokat verziert. Das blonde lockige Haar ihres Kindes schmückt eine rosafarbene Schleife, den zarten Rücken ein Flügelpaar aus weißer Gänsedaune. Der Junge liebt Mädchenkleider und trägt sie zur Freude seiner Mutter gelegentlich sogar auf der Straße. Die letzten Wochen sind voller Erwartung gewesen. Eine Feier folgte der nächsten. Zuerst der Namenstag des heiligen René, dann der Geburtstag. Das Kind war am Barbaratag des Jahres 1875, dem 4. Dezember, geboren worden. Jetzt haben Mutter und Sohn an diesem Festtag Kirschzweige auf dem Markt gekauft und sie in eine Vase mit warmem Wasser gestellt, damit sie in der Nacht aller Nächte erblühen. Seit Wochen freuen sie sich auf den Moment, wenn sich die Flügeltüren zum Wohnzimmer öffnen werden. Hinter ihnen liegt das große Geheimnis von Mutter und Kind.
Weihnachten im Hause Rilke ist eine sehr feierliche Angelegenheit. Die Stunde der Anbetung, der Freude und Dankbarkeit wird ein Leben lang nachhallen. „Kommt doch alles Lichte meiner Kindheit in jenen glücklichen Abenden zusammen, da man, in dem schönen Kleide, gleichsam den Engeln verschwistert war und sich zwischen ihnen und der übrigen Welt auf einer schwebenden Insel erhielt, zu der einen die Leichtigkeit des eigenen Herzens hinaufgehoben hatte.“
Der Knabe hatte es eilig gehabt, auf die Welt zu kommen. Ein Siebenmonatskind. Zeitlebens wird das Gesicht davon Zeugnis ablegen. Geboren wird es in der Mitte der Nacht zwischen dem 3. und 4. Dezember. Ein Frühchen. Schon einmal hatte die Mutter eine Frühgeburt erlebt. Zesa, ein kleines Mädchen, war schon nach wenigen Tagen gestorben. Dieser Verlust hinterließ tiefe Wunden im Herz der Mutter. Der Verlust des ersten Kindes ist das Sandkorn in Sophias Gemüt. In den uralten Ritualen ihrer Religion sucht sie Trost. Wenn kleine Kinder sterben, werden sie zu Engeln. So wird es gelehrt, und das glaubt auch Sophia Rilke.
„Der Seele tiefinnigster Wunsch ist – Gebet.“ Aus der Stille tauchen manchmal Gedanken auf, die Sophia Rilke in ihr Tagebuch notiert. Schreiben und Beten beruhigen ihre Nerven. Sophia entwickelt eine innige Beziehung zu jener Frau, die unter wunderbaren Umständen ein Kind empfangen hatte. Es tut ihr gut, Zuflucht bei Maria zu finden. Diese kennt die Freuden der Mutterschaft wie den Schmerz des Verlustes. Vier Tage nach der Geburt nimmt Sophia ihr Kind, hüllt es in Decken und trägt es in die Prager Kirche St. Heinrich, um es Maria zu weihen. Es ist der 8. Dezember 1875, an dem das Fest der unbefleckten Empfängnis gefeiert wird. Noch heute ist dieses Hochfest der Maria in Österreich ein gesetzlicher Feiertag. Am 19. Dezember erfolgt die Taufe auf die Namen René Maria Rilke. Sophia liebt die romanischen Sprachen. Im Lateinischen lautet der Name „Renatus“ und bedeutet „der Wiedergeborene“. Der Heilige René ist der Schutzpatron der Schwangeren.
Bald werden in den Prager Gassen die Glocken der Kirchtürme läuten und die Sechsuhrstunde ankündigen. Den ganzen Tag über hat der Vater das Weihnachtszimmer geschmückt, den Baum aufgestellt und die Kerzen aufgesteckt. Die Tanne, so erklärt die Mutter, trage ein immergrünes Kleid wie der Baum im Garten Eden am Anfang der Zeit, als auf der Welt noch großer Friede herrschte. Weihnachten sei das wiedergefundene Paradies. Gleich werden sich die Türen öffnen, und der Cherub, der sechsflügelige Engel mit dem flammenden Schwert, wird nicht mehr den Weg zum Baum des Lebens versperren. Alles wird in schöner, vertrauter Ordnung an seinem gewohnten Platz stehen: die Gruppe mit den anbetenden Engeln und der Gebetsstuhl vor dem Weihnachtsbaum. Dann erklingen die Glocken. Der Vater öffnet die Türen, und ein Lichterglanz überwältigt Mutter und Kind. Feierlich und mit ganz kleinen Schritten betreten sie Seite an Seite das Zimmer, schreiten zu dem Gebetsstuhl und knien gemeinsam nieder.
In Rilkes Werk spielen die Himmelsboten von den frühen „Engelliedern“ bis zu den „Duineser Elegien“ eine überragende Rolle. Das große Thema der „Elegien“ ist der Lobpreis des Lebens in allen Facetten, das Rühmen selbst der Vergänglichkeit. Die „Elegien“, so schreibt Rilke in einem späten Brief an die Mutter, seien der Versuch „irgendwie Leben und Tod in einer übergroßen Freude, die ohne Namen bleibt, zusammenzufassen und alles, was uns hier geschieht, so auszusprechen, dass es sich feiern lässt, wie eine Vorfreude, um des Zitterns, um der Erwartung, um des Geheimnisses willen. Amen! Und so knieen wir wieder nebeneinander, liebe Mama, und erkennen die Eine Quelle des Segens, und bitten, gesegnet zu sein.“
Rilke versteht sich nicht als Schriftsteller, sondern als Dichter. Das unterscheidet ihn von allen anderen schreibenden Zeitgenossen, auch von Thomas Mann, der ebenfalls 1875 geboren wird. Wie die Propheten spürt Rilke in sich eine höhere Sendung, eine Art Auftrag von oben, der er Gehorsam schuldet. In einer anderen weihnachtlichen Meditation verknüpft er sein Selbstverständnis mit der frühkindlichen Erfahrung der mütterlichen Liebe:
„Vielleicht bin ich deshalb, meine liebe Mama, ein solcher Rühmer der Freude geworden (sie ist dem Glück, auch noch dem, was die Menschen ein großes Glück nennen, unbedenklich vorziehend), weil ihr mich zu so großer Vorfreude erzogen habt und an diesem einen Tag, an dem so viel Erfüllung geheimnisvoll zusammenkam, meinem Herzen zugemuthet, in der Leistung der Vorfreude, ein Maaß der Freude anzunehmen, das völlig unaussprechlich war.“
Die Frauen lieben Rilke, besonders seine leuchtend blauen Augen: die „Augen einer Frau, in denen unter den buschigen Wimpern unerwartete freudige und kindliche Schalkhaftigkeit aufleuchtet, wenn er, seine blendend weißen Zähne zeigend, lacht.“5 So urteilt seine mütterliche Freundin, die Fürstin Marie von Thurn und Taxis. Rilke ist von zarter Gestalt, Schuhgröße 38, immer korrekt gekleidet. Er besitzt ein äußerst feinfühliges Wesen. Der große Dichter der Liebe kann schweigen und zuhören. Wenn er mit seiner weichen, ein wenig singenden Stimme einige Verse vorträgt, entsteht eine Aura des Wohlgefühls, der Nähe und des Einverständnisses. Da findet einer Worte für das Unaussprechliche. Die Frauen lieben Rilke, weil er ihr Geheimnis kennt und weil er mit seinen Worten ihre Seelen berührt und in Schwingung versetzt. Vielleicht spüren sie: Rilke lebt in der Liebe seiner Mutter. Immer leuchtet ihr Bild im Hintergrund, wenn er von Seele, Hingabe und Gefühl spricht. Wie durch eine unsichtbare Nabelschnur verbunden, weiß er sich eins mit der Frau, die ihm das Leben geschenkt hat. In weit über tausend Briefen bezeugt er seine zärtliche Fürsorge. Beide führen später ein unruhiges Reiseleben. Doch wo immer sie in Europa weilen, einmal im Jahr, am Heiligen Abend, ziehen sie sich am gleichen Tag, zur gleichen Stunde in ein einsames Zimmer zurück, zünden eine Kerze an und öffnen einen Brief, den der jeweils andere geschrieben hat.
„Heimo Schwilk zeichnet ein irritierendes Psychogramm des Dichters – und er beschreibt die Frauen, die ihn geliebt, gefördert und inspiriert haben. Eine Seelen-Biografie und ein Stück Zeitgeschichte – glänzend geschrieben und wunderbar zu lesen.“
„Eine gute Gelegenheit, mit diesem berauschenden Buch tiefer in sein Leben und sein Fühlen einzudringen.“
„Der Autor verzahnt seine biografische Erzählung eng mit dem Werk des Dichters, das am besten sein komplexes Verhältnis zu Frauen widerspiegelt. Auch die erst seit einigen Jahren vorliegende Korrespondenz mit der Mutter gibt wichtige Aufschlüsse.“
„Schwilk gelingen einfühlsame Porträts von Clara Westhoff, Sophia Rilke, Lou Andreas-Salomé, Marie von Thurn und Taxis und vielen anderen.“
„Heimo Schwilk hat sich in seinem Buch ›Rilke und die Frauen‹ auf biografische Spurensuche gemacht und kommt zu überraschenden Erkenntnissen. Der Autor der ›Duineser Elegien‹ und der ›Sonette an Orpheus‹ war gar kein Erotiker, sein Begehren war religiös inspiriert, und Liebe diente in erster Linie der Selbststeigerung als Dichter.“
„›Rilke und die Frauen‹ bietet ein buntes, feinfühlig-unterhaltsames Panoptikum der weiblichen Zuneigung, An- und Abwesenheit, an dessen Beginn allerdings, wie sollte es anders sein, Rilkes leibliche Mutter Sophia stand (...). In Kenntnis der 1134 Briefe Rilkes an seine Mutter, die erst 2009 veröffentlicht wurden, gelingt es Schwilk mit seinem Buch einen wesentlichen neuen biographischen Akzent zu setzen: der Dichter als Muttersohn, oszillierend zwischen Anbetungs- und Fluchtgefühlen gegenüber allem Weiblichen.“
„Die Kapitel des Buches sind mit den Namen der Frauen und ihrer Funktion im Leben Rilkes überschrieben...In diesem Rahmen legt Schwilk eine Künstlerseele blank, die zwischen Zyklen aus Glücksrausch, Krankheit und Psychosen einen Schaffensegoismus betreibt, der wohl eine Art sublimiertes Imponiergehabe darstellt.“
„Der Autor geht Rilkes Beziehungsmustern nach und porträtiert auf fesselnde Weise die starken Frauen, die er betörte: mit erzählerischer Delikatesse und analytischer Schärfe, Distanz und Respekt, als Philologe so überzeugend wie als Stilist.“
„Wieviel Verstellung und Einbildung stecken hinter der Hypochondrie und den Klagen Rilkes, wieviel Kalkül hinter seinen in jeder Hinsicht maßlosen Briefen, wieviel Berechnung hinter Liebesschwüren und Treueversprechen? Heimo Schwilk erlaubt sich nur kleine Spitzen und sarkastische Kommentare, lässt ansonsten aber das reichhaltige oft skurrile und bizarre Material für sich sprechen.“
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