Ruinen der Macht (Gezeiten der Macht 3) — Inhalt
Quilûn und die Zauberin Kyrin haben das Feuer der Revolution entfacht, das die alte Macht auf dem Berg verschlang. Doch nun können sie es nicht mehr löschen. Gestürzte Adelshäuser, rachsüchtige Bürgerliche, befreite Gladiatoren, unkontrollierte Steinmagier … immer neue Unruhen flammen auf. Der Todfeind von gestern kann heute die letzte Rettung sein – aber nur um einen Preis, der einem treuen Freund den Tod bringen mag. Zwischen dem gewonnenen Krieg und dem gesicherten Frieden liegt ein weiter Weg, und dieser ist unter den Ruinen der alten Ordnung verschüttet. Die Zeit arbeitet für die uralten Geister, die den Sterblichen nur eine Rolle auf dem Berg der Macht zugestehen: die des gehorsamen Sklaven.
Leseprobe zu „Ruinen der Macht (Gezeiten der Macht 3)“
Eins
Trümmer
Quilûn ließ sich von Merûenn durch die Trümmer des Palasts der Schneegrunds führen. Erst aus der Nähe wurde deutlich, wie viel Stein nötig gewesen war, um den Kartenturm zu bauen. Er hatte so schlank gewirkt, so luftig. Jetzt lag der Schutt auf einer haushohen Halde.
An einem Rundbrunnen, auf dessen Spitzdach ein Blech in Form eines Pferdes die Windrichtung anzeigte, versicherte sich Merûenn mit einem Blick zurück, dass ihnen niemand folgte.
„Heller wird es heute wohl nicht mehr“, sagte Quilûn, um das Schweigen zu brechen. Die Mittagsstunde [...]
Eins
Trümmer
Quilûn ließ sich von Merûenn durch die Trümmer des Palasts der Schneegrunds führen. Erst aus der Nähe wurde deutlich, wie viel Stein nötig gewesen war, um den Kartenturm zu bauen. Er hatte so schlank gewirkt, so luftig. Jetzt lag der Schutt auf einer haushohen Halde.
An einem Rundbrunnen, auf dessen Spitzdach ein Blech in Form eines Pferdes die Windrichtung anzeigte, versicherte sich Merûenn mit einem Blick zurück, dass ihnen niemand folgte.
„Heller wird es heute wohl nicht mehr“, sagte Quilûn, um das Schweigen zu brechen. Die Mittagsstunde war beinahe erreicht, aber die Sonne verbarg sich hinter Wolken und zusätzlich trieben Rauch und Steinstaub in der Luft.
„Ich bin froh, wenn uns niemand entdeckt.“ Merûenn ging voran in die Abzweigung, die bis vorgestern noch zur Zuckerbäckerei geführt hatte. Nachdem die Zauber, die den Gebäuden Stabilität gegeben hatten, erloschen waren, war der Weg nur noch zu erahnen. Kleinere Bruchstücke knirschten unter den Füßen von Quilûn und Merûenn, den größeren wichen sie aus, was sie zwang, in Schlangenlinien zu gehen.
Merûenns Bewegungen waren ohne Eleganz, verrieten aber die Kraft, die ein arbeitsreiches Leben verlieh. Ihr graues Kleid mit dem hellblauen Stoffgürtel kennzeichnete sie als Magd, die im Palast der Schneegrunds Dienst tat. Diese Frauen arbeiteten oft von Sonnenauf- bis -untergang in der Küche, am Waschzuber, in den Stallungen, an den Speisetafeln und in den Schlafzimmern von Gästen und Herrschaften. Festtagen sahen sie mit gemischten Gefühlen entgegen. Die Feiern der Adligen bedeuteten zusätzliche Arbeit und Fehler konnten schlimme Folgen haben. Aber sie boten auch immer etwas zu sehen und die übrig gebliebenen Speisen kamen der Dienerschaft zugute.
Wobei es nun keine Festsäle mehr gab, machte sich Quilûn klar. Kaum ein Gebäude auf dem Palastgelände stand noch. Weil die an vielen Stellen eingebrochene Umfassungsmauer ihren Zweck nicht mehr erfüllte, errichteten die Schneegrunds unter Derrek Eichfrosts Führung einen kleineren, befestigten Bereich. Zwar hatten dort in der Nacht Adlige ebenso wie Krieger und Diener Zuflucht gefunden, aber wie ihr Zusammenleben künftig aussehen würde, vermochte noch niemand zu sagen.
Merûenn war jedoch nicht die ergebene Dienerin, als die sie die meisten kannten. Mit einem Handzeichen – den Zeige- und den kleinen Finger aus der Faust gespreizt – hatte sie sich Quilûn als Revolutionärin zu erkennen gegeben. Sie träumte den Traum des verstorbenen Grafen Golar von einer Welt, in der niemand mehr unterdrückt wurde. Wie viele solcher Träumer es gab, wusste Quilûn nicht, obwohl er als Golars Erbe zum Anführer seiner Bewegung geworden war. Sie waren in Zellen organisiert, die wenig voneinander wussten, damit sie einander nicht verraten konnten. Jede dieser Zellen wählte eine Stimme, die für sie sprach. Merûenn hatte Quilûn verdeutlicht, dass eine solche Stimme ihn treffen wollte.
Sie stellte sich ebenfalls als Magd heraus, ihre Kleidung mit der Haube ähnelte jener von Merûenn. Das Grau ihres Kleides war jedoch etwas dunkler und das Gewand war anders gewebt, die Struktur der Fäden trat deutlicher hervor. Die Frau, deren linke Gesichtshälfte schlecht verheilte Brandnarben entstellten, erwartete sie an einer einzelnen Birke, die sich trotzig zwischen den Trümmern erhob.
„Das ist Halenn“, stellte Merûenn die deutlich ältere Frau vor. »Und das ist Graf Quilûn von Schneegrund.«
Die Stimme stand auf und knickste, was Quilûn mit einem Nicken beantwortete. Das schien sie zu verärgern, sie runzelte die Stirn.
„Was hast du?“
„Ich sollte nicht …“ Halenn schüttelte den Kopf und schob das Kinn vor. Für einen Moment sah es so aus, als wollte die Haut auf ihrer linken Wange aufreißen, durch die Brandnarben wirkte sie hauchdünn, eine Ader schlängelte sich hindurch wie ein Wurm. „Wenn wir alle gleich sind, ist es nicht recht, wenn ich einen Knicks vor dir mache.“
Quilûns Brauen zuckten. Den Großteil seines Lebens war er ein Bürgerlicher gewesen. Dennoch empfand er die vertrauliche Anrede der Magd als unverschämt. Er wunderte sich über sich selbst.
„Hat deine Zelle Probleme?“, fragte er.
Sie lachte auf. „Auf dem Berg bleibt kein Stein auf dem anderen.“ Mit beiden Händen deutete sie auf die Trümmer in der Umgebung. „Wer hat keine Probleme? Selbst jene, die nie welche kannten … Meine junge Herrin, Temalla Kalthorn, eitert aus den Augen. Sie hat sich Steinkügelchen in die Lider einsetzen lassen, um ihrem Blick Glanz zu verleihen.“
„Und jetzt sind sie bloße Fremdkörper, die nach außen drängen“, vermutete Quilûn.
„So ist es.“ Halenn setzte sich.
Auch Quilûn und Merûenn nahmen auf den Brocken Platz.
„Ich bekomme viele Fragen“, berichtete Halenn. „Unter den Mägden herrscht Uneinigkeit. Manche meinen, wir sollten unsere Herren vergiften. Einige haben auch die Mittel dazu. Aber wenn ich sie verteile … Ich meine, es ist Mord, einem Nichtsahnenden Immerschlaf in den Wein zu mischen. Dazu wird nicht jede von uns fähig sein. Auch wenn natürlich allen klar ist, dass wir entschlossen handeln müssen, bevor das Heer auf den Berg zurückkehrt, die Gravilier vertreibt und die alte Ungerechtigkeit wiederherstellt. Aber wenn wir uns darauf beschränken, Brände zu legen, wenigstens für den Anfang … Dafür könnte ich mehr Mägde gewinnen.“
„Brände treffen immer auch Unschuldige“, gab Quilûn zu bedenken. „Vor allem, wenn sie auf Nachbarhäuser übergreifen.“
„Ja, darüber haben wir gesprochen. Wir müssen dafür sorgen, dass sie genau zum rechten Zeitpunkt bemerkt werden. Sodass man sich noch retten, aber nicht mehr löschen kann.“ Halenn sprach hastig. Auf Quilûn wirkte sie wie jemand, der sich die Argumente immer wieder selbst vorgelegt hatte und nun froh war, sie anbringen zu können. „Nur: Was sollen wir in Brand stecken? Welche Ziele sollen wir angehen? Alle gleichzeitig oder in einer bestimmten Reihenfolge oder je nach Gelegenheit? Könnt Ihr uns mit … ich meine: Kannst du uns mit Lampenöl versorgen? Wir brauchen viele Fässer davon.“
„Ich habe noch keine vollständige Liste unserer Vorräte.“ Quilûn fühlte sich unwohl unter dem Blick, aus dem einerseits das Verlangen nach Anerkennung, andererseits aber auch der Wunsch nach Führung sprach.
„Wie gehst du in Haus Schneegrund vor? Es gibt Gerüchte, dass …“ Sie wich seinem Blick aus.
„Was für Gerüchte?“
„Dass Ihr die Macht auf dem Berg an Euch reißen wollt“, half Merûenn. „Dass Ihr das alles nur tut, um Haus Schneegrund als einziges Tiefes Haus zu etablieren.“
„Aber wie sollte ich das geplant haben?“, rief Quilûn. „Mich hat es ebenso überrascht wie jeden anderen, als mich Graf Golar zu seinem Erben ernannt hat.“
Halenn nickte, sah ihn aber noch immer nicht an.
Ein unangenehmes Schweigen breitete sich aus.
„Warum hast du Kyrin nicht mitgebracht?“, fragte Halenn. „Sie war von Anfang an dabei. Es wäre gut, sich mit ihr zu beraten.“
„Kyrin schläft“, sagte Merûenn.
„Ein Heilschlaf“, erklärte Quilûn. „Die Clerroniten lassen sie nicht aufwachen. So erholt sie sich am besten von ihren Verletzungen, sagen sie.“
„Hat sie gekämpft?“ Wegen der Brandnarben wirkte auch die Überraschung auf Halenns Gesicht bedrohlich. Man konnte sich leicht vorstellen, wie sie das Kommando unter den Mägden führte. „Ich dachte, die Magier hätten ihre Macht verloren und wären in einer Schlacht nutzlos.“
„Sie war im Berg“, sagte Merûenn. „Man hat sie aus dem Almahn gezogen, bewusstlos. Beinahe wäre sie ertrunken.“
„Ich würde sie gern sprechen. Kann man sie kurz wecken?“
Bestimmt wollte Halenn Kyrins Einschätzung hören, ob man weiter Quilûn folgen sollte. Einen entschlossenen Anführer gab er derzeit nicht ab.
„Der Clerronit ist sehr entschieden, wenn es um …“ Quilûn unterbrach sich, weil vom Schutthügel zur Linken ein Poltern erklang.
Ein Imagolem stapfte über die Kuppe. Es war derjenige, der die Stützpfeiler unter dem großen Metallschild mit dem Wappen der Schneegrunds eingerannt hatte. Das hatte den Steinkrieger den linken Arm gekostet. In seinem kugelförmigen Körper fehlten zudem einige Stücke, wie bei einem Kürbis, über den Maden hergefallen waren.
„Schneegrund!“, rief die Kreatur mit tiefer Stimme. „Was habt ihr mir angetan?“ Der Imagolem schien zu stürzen, aber in Wirklichkeit neigte er sich nur so weit zur Seite, dass er mit seinem kurzen Arm einen Brocken von der Schutthalde auflesen konnte. Diesen schleuderte er auf die Sitzenden.
Quilûn ließ sich nach hinten fallen. Das rettete ihm das Leben. Das Wurfgeschoss verfehlte ihn um Haaresbreite und krachte in den Boden. Steinsplitter trafen die beiden kreischenden Mägde und Quilûn.
Er sprang auf, während der Imagolem einen Rutsch in der Trümmerhalde auslöste, indem er sie herunterstieg.
„Schneegrund!“, grollte der Koloss aus grauem Granit. „Ich werde dich strafen!“
„Rettet euch!“, forderte Quilûn die beiden Frauen auf. „Er will mich!“
Damit warf er sich herum und rannte los. Der Imagolem wog mindestens fünfmal so viel wie ein Mann. Es wäre Wahnsinn gewesen, sich ihm zu stellen.
Quilûn schlug mit dem rechten Schienbein gegen einen kantigen Brocken. Es fühlte sich an, als vibrierte der Knochen. Bei jedem Auftreten protestierte er mit Schmerz.
Quilûn zwang sich, nicht in ein Humpeln zu verfallen, sondern stattdessen so schnell wie möglich weiterzulaufen. Imagolems waren weit weniger behäbig, als sie aussahen. Auch die Schritte seines Verfolgers hörte er in raschem Takt hinter sich auf das Geröll stampfen.
Die Mägde schrien, aber es waren Laute der Angst, nicht der Pein. Also waren sie unverletzt. Quilûns Annahme, dass der Steinmann es auf ihn abgesehen hatte, bestätigte sich. Allerdings konnte er sich darüber nicht freuen, die Laufgeräusche hinter ihm wurden lauter.
Zudem arbeitete die Zeit für den Imagolem. Er war ausdauernder als jeder Mensch. Die Steinkrieger marschierten Tage und Nächte durch, wenn es sein musste.
Quilûns Gegner schrie unartikuliert. Leider war nicht zu hoffen, dass er in Schwierigkeiten wäre. Es war ein zorniges Grollen, in dem auch etwas Triumphierendes lag. Stand er kurz davor, den Fliehenden einzuholen?
Quilûn sprang auf ein schräg stehendes Trümmerstück, stieß sich mit den Füßen daran ab und schlug so einen Haken nach links. Dort fiel der Hang ab. Quilûn barg den Kopf zwischen den Armen, um ihn vor aufstiebenden Steinchen zu schützen, während er das Geröll hinunterschlitterte.
Der Imagolem krachte gegen den Block, von dem sich Quilûn abgestoßen hatte. Vielleicht erlitt er dabei Schaden, aber vor allem zersprang das Hindernis in unterschiedlich große Splitter. Die bevorzugte Kampfweise dieses Steinkriegers schien darin zu bestehen, seine Gegner niederzurennen. Auf diese Art hatte er auch die stützenden Säulen unter dem Wappen der Schneegrunds zerstört und so hätte er Quilûn ebenfalls zermalmt.
Quilûn konnte sich nicht länger auf den Beinen halten, das letzte Stück rutschte er hinab. Staub reizte Quilûns Kehle. Hustend stemmte er sich hoch.
Der Imagolem brauchte einige Schritte, um zum Halten zu kommen, aber das verschaffte Quilûn nur einen Vorsprung von ein paar Atemzügen.
Hektisch sah er sich um. Eine der Mägde – ob es sich um Halenn oder um Merûenn handelte, war auf die Schnelle nicht zu erkennen – verschwand hinter einer Schutthalde.
Quilûn brauchte eine Waffe! Am besten einen großen Hammer. Woher sollte er den bekommen? Und würde er damit gegen den Steinkrieger bestehen können? Zwar war dieser einarmig, aber in ihm steckte die Seele eines Gladiators. Zweikämpfe waren die Spezialität seines Gegners.
Sollte Quilûn vielleicht besser nach brüchigem Grund suchen? Ideal wäre eine leichte Brücke, über die der Koloss ihn nicht verfolgen könnte. Aber so etwas gab es in der Umgebung nicht.
Quilûns Blick blieb an dem Brunnen hängen, über dem die Wetterfahne angebracht war. Das schien seine beste Möglichkeit zu sein. Er rannte los.
„Ich werde dich strafen, Schneegrund!“ Der Imagolem kam die Halde herunter, Schutt rauschte vor ihm abwärts. „Ich werde deine Glieder zerstampfen, eines nach dem anderen. Damit du genug Zeit hast, über deine Schuld nachzudenken, während du stirbst.“
Der Schmerz in Quilûns rechtem Schienbein blieb, zog sich aber in den Hintergrund seiner Wahrnehmung zurück. Wie ein Ton, den man immerzu hörte und ignorieren konnte.
Hinter ihm grollte der Imagolem. Kurz darauf schlug ein Stein neben Quilûn auf, prallte vom Boden ab und schmetterte gegen die runde Brunneneinfassung.
Quilûn rannte noch schneller … Es war nicht mehr weit … acht Schritte, vier, zwei …
Statt zu verlangsamen, sprang Quilûn über die Einfassung und griff die an einem Kurbelholz befestigte Eimerkette. Er quetschte sich einen Finger, packte aber dennoch fest zu. Durch sein Gewicht rollte die Kette vier Schritt weit ab, dann war ihre Länge ausgereizt. Mit einem Ruck kam die Kurbel zum Stillstand. Beinahe hätte Quilûn den Halt verloren.
Über ihm brach die Faust des Imagolems durch die Ummauerung des Brunnens. Steine polterten den Schacht herab.
Quilûn schützte den Kopf so gut wie möglich zwischen seinen Oberarmen. Er wurde oberhalb der Hüfte getroffen, pendelte aber an der Kette zur Seite, was einen Großteil der Wucht nahm.
Der Schacht verstärkte das Schreien des Imagolems und erzeugte Echos. Hinzu kamen das metallische Klacken der Kettenglieder und das Platschen des Wassers, das die herabfallenden Steine aufgewühlt hatten.
Quilûn war froh, dass sein Gegner schrie, statt weitere Steine herunterzuwerfen. Vielleicht gelang es ihm, den Imagolem am Reden zu halten. „Wieso hasst du mich?“, rief er, während er sich Hand über Hand abließ. „Ich habe dir nichts getan!“
Ein tiefes Heulen antwortete ihm. „Versklavt habt ihr mich unter dem Zeichen des Schneekristalls!“
„Das ist lange her! Damals war ich mit Sicherheit noch kein Graf. Noch nicht einmal ein Adliger.“
Nach unten hin ging der Brunnenschacht in eine Höhle mit unregelmäßigen Wänden über. Der Hohlraum weitete sich. Wenn Quilûn eine Nische fände, in der er sich verbergen könnte, wäre er gegen senkrecht herabfallende Steine geschützt. Die Hoffnung gab ihm frische Kraft.
„Ich weiß nicht, wie viel Zeit ihr mir gestohlen habt“, hallte die dunkle Stimme den Schacht herunter. „Waren es Jahrzehnte? Ein Jahrhundert? Meine Erinnerung liegt in einem Nebel …“
„Es können nur einige Jahre sein“, erklärte Quilûn. „Dass du dich jetzt erinnerst, bedeutet, dass du ein Geschöpf Kyrins sein musst.“
„Die Zauberin hat mich nicht geschaffen!“ Donnernd brach der Imagolem ein weiteres Stück aus der Einfassung.
Wieder hatte Quilûn Glück. In seiner Pendelbewegung befand er sich weit genug entfernt, als die Trümmer niedergingen.
„Was wesentlich an mir ist, hat in einem menschlichen Körper gelebt“, stellte der Imagolem klar. „Es ist nicht das Werk eurer Anmaßung und eures Größenwahns. Ihr habt meine Seele gestohlen und in diesen unförmigen Körper gezwängt.“
Wenn Quilûn aus dem Bereich hinausschwang, in den das ohnehin spärliche Licht hinabfiel, sah er nichts mehr. Er hielt sich nur noch mit einer Hand fest und streckte die andere vor, um nach etwas zu tasten, an dem er sich festhalten konnte.
„Du wärest so oder so gestorben – in der Arena!“, rief Quilûn, um seinen Gegner am Reden zu halten. „Dein Leben wäre zu Ende gewesen, aber Kyrin hat es verlängert.“
„Als Knecht!“, zürnte der Imagolem. „Ich war ein Niemand, ohne eigenen Willen, gehorsam jeder eurer Launen.“
„Aber das ist vorüber“, erinnerte Quilûn. „Dein Gedächtnis kehrt zurück, dein Wesen, du kannst wieder für dich entscheiden.“
„Und meine erste Entscheidung ist, dich zu zermalmen!“, verkündete er.
„Du triffst den Falschen.“
„Das mag ich hinterher bereuen, aber zuerst gönne ich mir die Genugtuung, einem Schneegrund das Leben aus dem Leib zu quetschen.“
Endlich bekam Quilûn einen Felsvorsprung zu fassen. Er war nass und rutschig und von Moos bedeckt, aber Quilûn benutzte zusätzlich die Beine, um sich festzuklammern. Vollständig traute er dem unsicheren Halt jedoch nicht, er umfasste weiterhin die Kette.
Der Imagolem begriff nun wohl, dass er dem Menschen nicht in den Abgrund folgen konnte und dass dieser auch nicht freiwillig wieder heraufkäme. Er zerlegte die Einfassungsmauer Stück für Stück und schleuderte die Steine den Schacht herab. Ungefährlich fielen sie an Quilûn vorbei und platschten ins Wasser.
Dennoch pochte Quilûns Herz angsterfüllt in seiner Brust. Früher oder später würde auch die Kurbel der Wut des Imagolem zum Opfer fallen und mit ihr würde die Kette in die Tiefe stürzen. Zwar könnte Quilûn sie jederzeit loslassen, aber wie sollte er es dann wieder an die Oberfläche schaffen?
Er sah auf die Lichtreflexe, die unter ihm tanzten. Wie tief mochte das Wasser sein? Wie lange könnte er darin schwimmen, bis er unterginge, wenn er seinen rutschigen Halt verlor?
Die Schläge hörten auf.
Vorsichtig spähte Quilûn nach oben, so gut es ging, aber von seiner Position aus konnte er nur einen Teil des Schachts einsehen. Die Öffnung und erst recht der Imagolem waren seinem Blick entzogen.
Er hielt den Atem an und lauschte. Das Schlagen der sich langsam beruhigenden Wellen unter ihm empfand er als ärgerlich laut. Er unterdrückte einen Hustenreiz, noch immer kratzte Staub in seiner Kehle.
Ein Grummeln drang zu ihm herab, aber er verstand keine Worte. Die Schläge gegen den Brunnen blieben aus und schließlich verstummten auch die anderen Laute, die auf den Gegner hindeuteten. War er fort?
Quilûn überlegte, ob er seinen Halt aufgeben und an der Kette in die Mitte des Schachts zurückschwingen sollte, um nach oben schauen zu können. Aber er traute dem Steinkrieger eine List zu. Vielleicht wollte dieser sein Opfer aus der Sicherheit locken, dorthin, wo er es mit einem Wurfgeschoss treffen könnte.
Also blieb Quilûn vorerst, wo er war. „Hilfe!“, rief er. „Hier unten bin ich! Im Brunnen!“
Oben regte sich etwas.
»Graf Quilûn?«
Er erkannte die Stimme nicht, aber sie gehörte eindeutig einem Menschen.
„Ja! Hier bin ich! Ist er weg?“
„Für den Moment ist hier oben alles sicher. Mit Asmodel wollte sich der fette Kerl nicht anlegen.“
Quilûn lachte erleichtert. Er fasste die Kette mit beiden Händen und pendelte zurück in den Schacht. „Zieht mich hoch. Schnell. Bitte.“
„Wie Ihr wünscht, Graf.“
Die Kurbel drehte sich, die Kette wickelte sich um das Holz und Quilûn wurde nach oben befördert.
Asmodel, der menschenähnliche Imagolem mit dem faustgroßen Loch in der Stirn, bediente die Kurbel. Neben ihm standen Derrek Eichfrost, der mit gezogenem Degen aufmerksam die Umgebung musterte, und Merûenn.
„Hast du die Hilfe geholt?“, fragte Quilûn die Magd, während er sich auf sicheren Grund schwang. Seine Hände zitterten, als er ihren Griff löste.
„Ja, Herr Graf.“ Sie war nun wieder ganz die scheue Dienerin, die sich nicht traute, die Adligen anzusehen.
„Das hast du sehr gut gemacht.“
Sie knickste.
Der Schatten seines breitkrempigen Hutes verdunkelte Derreks Gesicht, sodass seine Miene schwer zu deuten war. „Es ist gefährlich, allein außerhalb unseres Schutzbereichs unterwegs zu sein.“
„O ja“, stimmte Quilûn zu. „Das habe ich gemerkt.“
* * *
Im Vergleich zu der riesigen Eiche wirkte der steinerne Mann, der unermüdlich auf sie einschlug, klein. Dabei überragte er Semire von Schneegrund, die alle hier nur die Rose nannten, sicher um einen vollen Schritt. Aber es hätte ein halbes Dutzend Männer gebraucht, um den Stamm mit ausgestreckten Armen zu umfassen. Er war nur zum Teil gewachsen, an vielen Stellen bestand er aus Stein statt aus Holz. Die gemeißelten Zauber hatten dieselbe raue Oberfläche wie die Borke. Seit Jahrhunderten unterstützten sie den Wuchs dieses Stolzes von Haus Eichfrost und schützten die Eiche vor Blitzen und anderen Unbilden. Sie hatten dem Stamm wohl auch Stabilität verliehen. Jeder der wuchtigen Hiebe des Imagolems hätte eine Hauswand erschüttert, aber aus dem Holz flogen nur Splitter.
„Ich bin froh, dass er sich daran auslässt.“ Ronnbar schwenkte die Weinflasche in seiner Hand. „Wir konnten ihn gerade noch rechtzeitig aus dem Keller vertreiben, sonst wäre dieser köstliche Saft in einem Scherbenfeld versickert.“
Der gut Fünfzigjährige war das Oberhaupt des gefallenen Hauses Schwingenpracht. Gemeinsam mit den etwa zweihundert Männern, die ihm folgten, feierte er in der Ruine des Palasts von Haus Eichfrost. Inmitten der Trümmer loderte ein Lagerfeuer, genährt von zerlegten Schränken, Tischen und Betten. Kleinere Feuer brannten in der Umgebung. Viele beschienen gelbe Stoffbahnen, die das geflügelte Ross zeigten, das ein stolzes Wappen gewesen war. Bis etwa zu der Zeit, in der die Eichfrosts ihren prachtvollen Baum auf den Berg geholt hatten.
Ronnbar lehnte sich zu Semire herüber. „Der Steinmann wird eine Weile brauchen, Rose. Aber wenn er fertig ist, fällt uns eine schöne Beute in den Schoß.“ Bedeutungsschwanger blickte er hinauf zur Krone der Eiche. Einige Äste waren mit Silber überzogen. Abends glitzerten sie dadurch, als wären sie mit frischem Schnee bedeckt. Jetzt, bei Nacht, war es schwer auszumachen.
„Der Baum ist ohnehin zum Sterben verurteilt“, meinte Semire. „So, wie die gesamte alte Ordnung. Der Stein, der seinen Stamm durchsetzt, hat ihn bis gestern geschützt. Nachdem die Magie nun erloschen ist, wird er ihm zu schaffen machen wie ein schwerer Parasitenbefall.“
Ronnbar sah sie an und rülpste. Wenn die Annalen des Tiefen Hauses Schneegrund zutrafen, hatten Semires Vorfahren den seinen die Zähne ausgebrochen. Das lag Generationen zurück, aber Ronnbars Mund war ebenfalls keine Zier. Das hinderte ihn nicht daran, ihn offen stehen zu lassen, sodass Semire die Lücke sah, wo zwei Schneidezähne im Unterkiefer fehlten. Nach seinem Atem zu urteilen, war er auf gutem Wege, jede Weinsorte aus dem Keller der Eichfrosts in dieser einen Nacht zu verkosten.
Viele seiner Gefolgsleute taten es ihm gleich, aber er hatte auch dafür gesorgt, dass Posten sie vor unliebsamen Überraschungen bewahrten. Sie saßen auf dem Dach eines der wenigen Häuser, die noch nicht eingestürzt waren, auf einer Schutthalde und am Brunnen auf dem Böttcherplatz, wo sich die großen Straßen trafen. Im Westen fiel das Gelände in einem schroffen, unbebauten Hang ab, aber selbst dort standen Wachen. Sie behielten die tiefer gelegenen Bereiche der Stadt im Blick. Überall brannten Feuer, und wenn das Grölen der siegreichen Schwingenprachts für einen Moment zur Ruhe kam, hörte Semire in der Ferne das unverwechselbare Stahlklirren von Waffengängen.
Der Imagolem umkreiste den Baumstamm, auf den er unermüdlich einschlug. Auf der linken Seite hatte er eine unübersehbare Kerbe geschaffen, was Semire beruhigte, weil das bedeutete, dass der Baumriese nicht auf sie zufallen würde. Stattdessen würde er das zerschmettern, was vom Gesindehaus noch stand.
„Er benutzt nur den rechten Arm“, stellte sie fest.
„Ja“, bestätigte Ronnbar. „Für einen Steinmann ist er ziemlich schlau.“
Der linke Unterarm hatte in den Kämpfen gelitten. An der dünnsten Stelle war er kaum breiter als ein Finger. Dass der Imagolem dennoch seine Hand bewegen konnte, zeigte, dass er keine Muskeln und Sehnen brauchte wie ein Mensch. Aber wenn er mit der linken Faust Schläge gegen ein hartes Ziel ausgeteilt hätte, wäre sie sicher abgebrochen. Das hätte Imagolems, wie Semire sie kannte, nicht davon abgehalten, beide Hände einzusetzen, wenn man ihnen befohlen hätte, den Baum zu Fall zu bringen. Das reflektierte Vorgehen bewies, dass auch in diesem Steinkörper die schlafende Persönlichkeit erwacht war. Kyrin musste ihn gemeißelt haben. Er gehörte sicher zu denen, die Haus Schneegrund im Laufe der Jahre an andere Adelshäuser verschenkt hatte.
Ronnbar suchte in den nur noch halb gefüllten Flaschen, die er um sich herum zwischen den Trümmern des Palastes aufgestellt hatte. Dabei erhob er sich nicht von dem Mauerrest, auf dem er neben Semire saß. Er entschied sich für eine schlanke Flasche, brummte zufrieden und brachte zu Semires Überraschung einen filigranen Kristallkelch zum Vorschein, in den eine Katze geritzt war. Allerdings machte er sich nicht die Mühe, ihn auszuwischen. Deswegen trieb heller Steinstaub auf dem Wein, den er hineingoss.
Er reichte Semire den Kelch. „Der wird dir munden, Mädchen. Mir ist er zu süß.“
Sie nahm den angebotenen Trunk entgegen.
Gespannt sah Ronnbar zu, wie sie ihn hinter den Schleier aus halb durchsichtigem, blauem Stoff hob.
„Du gönnst wohl niemandem einen Blick auf deine Lippen, Rose.“
„Ich bin eben schüchtern.“
Lachend schlug er sich aufs Knie. „Die Herrin über das beste Hurenhaus der Stadt – schüchtern?“
Sie zuckte mit den Achseln.
Neben ihr nippte Buhm an seiner Weinflasche. Er brachte ihr nicht nur auf dem Fechtboden Umsicht bei, er praktizierte sie auch selbst. Hier, inmitten der von Sieg und Alkohol Berauschten, war Vorsicht angebracht. Bei ihrem Eintreffen hatten einige Kämpfer der Schwingenprachts versucht, den bulligen Mann zum Mitfeiern zu bewegen. Der Umstand, dass er keine Zunge mehr besaß und ihre Prahlereien deswegen nicht mit beifälligen Bemerkungen würdigen konnte, machte ihn aber wohl uninteressant, sodass man ihn ungestört neben Semire auf zusammengeschobenem Schutt sitzen ließ.
Stattdessen bezog man Jasir in die Siegesfeier ein. Den Bettlerfürsten kannten die Schwingenprachts ohnehin besser, er hatte sie mit Armbrüsten und Schwertern aus Semires Bestand beliefert. Sicher hatte er darauf geachtet, die Geschäftsbeziehung durch gemeinsame Gelage zu stärken. Auch jetzt entblödete er sich nicht, sich bis auf die Sandalen entkleidet mit ebenfalls nackten Kriegern einen Wettstreit zu liefern, wer über das größte Feuer springen könne. Zwischen den Durchgängen, wenn Holz nachgelegt wurde, bedachten sie sich mit überschwänglichem Lobpreis auf die gezeigte Tapferkeit, die für Semire pure Dummheit war. Zudem sprachen sie dem Wein reichlich zu.
Ronnbar folgte Semires Blick zu ihrem Mittelsmann. „Jasir hat uns gute Ware geliefert.“ Er nahm ein Langschwert auf, das zwischen den Weinflaschen an einem Bruchstein lehnte, und zog es mit bedeutungsschwangerer Miene aus der Scheide. „Das hat heute seinen Dienst geleistet.“ Er hielt ihr die Klinge vors Gesicht, sodass sie die Scharten sah. „Ein paar Eichfrosts haben sich gewehrt. Wollten einfach nicht sterben.“
Semire verbarg ihre Missbilligung hinter einem Schluck aus dem Kristallkelch. Offenbar verstand Ronnbar nicht allzu viel von Waffenstahl, sonst hätte er sich darüber beschwert, dass die Klinge bereits nach einem einzigen Einsatz ein Dutzend Scharten aufwies. Zudem stand zu vermuten, dass er die Waffe wie ein Hackmesser benutzte, statt zu fechten. Ein geübter Schwertkämpfer schlug den gegnerischen Stahl mit den flachen Seiten der Klinge aus dem Weg, nicht mit der Schneide.
Darüber, dass dermaßen stümperhafte Krieger den Palast von Haus Eichfrost eingenommen hatten, dachte Semire nur widerwillig nach. Schließlich war sie – was hier außer Buhm niemand wusste – die Gräfin von Haus Schneegrund, dem auch Eichfrost die Treue schuldete. Sie tröstete sich damit, dass die fähigen Kämpfer entweder jenseits des Berges mit General Esgur gegen die Gravilier standen oder in der Stadt gekämpft hatten, statt den Palast zu verteidigen.
„Dieser Stahl hat heute Blut geschmeckt.“ Ronnbar grinste genüsslich. Auch ein wenig spöttisch, weil er sich wohl vorstellte, dass einer Frau solch ein Gedanke unangenehm sein müsste. „Ich habe damit einen Hals zerschnitten.“ Er lachte höhnisch. „Das Blut ist zwischen den blauen Zähnen hervorgesprudelt. Diese Adligen haben sich auf die Steinzauber verlassen, die ihre Schwerter hart und scharf halten sollten. Aber damit ist jetzt Schluss! In unserer neuen Welt bricht Stein leichter als Stahl.“
Diese Überlegung war auf gewisse Weise beruhigend. Semire, Kyrin und Quilûn hatten niemanden eingeweiht, dass sich die Ströme der Macht wenden und die Magie in den Berg zurückkehren würde. Die Verteidiger waren wohl doch nicht vollkommen unfähig gewesen, sondern hatten sich lediglich auf die Waffen verlassen, die generationenlang gute Dienste geleistet hatten. Nun waren sie einfachen Schmiedearbeiten unterlegen.
„Und das wird auch den Schneegrunds so gehen!“, röhrte Ronnbar. „Sie haben uns sicher schon vergessen. Aber sie werden sich an uns erinnern, wenn ich erst der Graf von Schwingenpracht sein werde.“
Vergessen hatte man die Schwingenprachts im Palast der Schneegrunds nie. Oder vielleicht doch, jedenfalls die gegenwärtigen, die als bedeutungslose Bürgerliche lebten. Die Geschichte um den Sieg über ihre Vorfahren aber hatte Semire häufig gehört, in verschiedenen Varianten. In den Annalen konnte man über diesen Triumph lesen, Gedichte wurden dazu rezitiert, Barden sangen davon. Sogar Semires Kindermädchen hatte erzählt, wie man ihnen die Zähne ausgebrochen hatte, um der sechsjährigen Grafentochter, die mal wieder ihr Kleid verdreckt hatte, zu verdeutlichen, was mit denjenigen geschah, die sich ungehörig benahmen.
Semire rieb sich die Augen. Überall in der Stadt trieb Rauch. Inzwischen roch sie ihn nicht mehr, aber an den Tränendrüsen sammelte sich Ruß. „Die Schneegrunds sind nicht die Eichfrosts“, sagte sie. „Wenn du dich mit einem Tiefen Haus anlegen willst, musst du zuerst deine eigene Macht ausbauen.“
„Das werde ich. Und zugleich werde ich zusehen, wie sich die Adligen gegenseitig abschlachten.“ Lachend zeigte Ronnbar auf die Stadt hinaus. „Drei Viertel der Paläste brennen bereits. In den übrigen fragt man sich, wieso man so wenig Beachtung erhält.“
„Es wäre klug, die Unruhe zu nutzen, solange noch unklar ist, wo die Fronten verlaufen.“ Semire hütete sich, den großen Feldherrn Palion zu zitieren. Das hätte nicht zu ihrer Rolle als Rose des Lustgartens gepasst. „Du solltest die Kornspeicher von Haus Adlerhoch in deine Gewalt bringen.“
„Korn?“, rief Ronnbar. „Bald haben wir so viel Silber, dass wir kein Korn mehr brauchen. Dann schlemmen wir jeden Tag Braten, und wenn der uns noch nicht satt macht, nehmen wir Kuchen dazu. Das dort“, er zeigte auf die mit Edelmetall überzogenen Äste der Eiche, „ist nur ein bescheidener Anfang. Aber er reicht, um weitere Waffen zu ordern. Ich hoffe, du kannst geschwind liefern. Und zu einem vernünftigen Preis. Gegenwärtig sterben die Adligen so schnell, dass es fast schon anstrengend wird, sich ständig zu bücken, um den Leichen die Schwerter aus den Händen zu nehmen.“
„Schwerter mit Steinzaubern, die keine Kraft mehr haben?“, fragte Semire.
Er lachte. „Auf den Mund gefallen bist du nicht. Aber du weißt so gut wie ich, dass der Preis fällt, wenn so viele Waffen auf den Straßen liegen.“
„Ich habe gehört, es gibt auch eine Menge, die sich trotz der Mühe bücken, um die Schwerter aufzuheben. Und die Gravilier sind nur zu einem kleinen Teil auf dem Berg angekommen. Hunderttausende sollen noch auf dem Weg sein.“
Er schnaubte. „Wer glaubt schon diese Märchen?“
„Die Tiefen Häuser offenbar. Oder wo vermutest du ihre Heere? Was machst du, wenn sie zurückkehren? Die Schneegrunds werden wenig Freude an dieser Ruine haben.“
„Die Schneegrunds sollen nur kommen!“
„Bevor sie gegen dich vorgehen, kannst du Haus Adlerhochs Kornspeicher einnehmen.“
Lachend schüttelte er den Kopf. „Jeder weiß, dass zu viel Denken Frauen hässlich macht. Ist das dein Laster? Musst du dir wirklich den Bart rasieren? Man sagt, dass du den Schleier trägst, um die Stoppeln zu verbergen.“
„Ein bisschen Kitzeln stört mich nicht!“, grölte ein Mann hinter Semire. Er packte ihre Schulter und griff mit der anderen Pranke ihre linke Brust, um sie schmerzhaft zu drücken.
Sie umfasste seinen kleinen Finger und bog ihn zurück, während sie mit einer Drehung aufstand. Den Kristallkelch ließ sie fallen, er zersprang mit hellem Klirren.
Schreiend riss der Mann seine Hand frei. Er starrte Semire aus einem faltigen Gesicht an, das jedoch nicht alt wirkte. Er hatte wohl viel in der Sonne gearbeitet. Auf der linken Wange saß eine braune Warze.
Ronnbar lachte. „Sieh dich vor, Urlik! Diese Rose hat Dornen.“
Der Rüpel knetete seinen Finger. „Das lasse ich mir von keinem Weib gefallen!“ Er griff nach ihr.
Semire entzog sich mit einem schnellen Schritt rückwärts.
Buhm sprang auf und rammte dem nachdrängenden Urlik eine Faust unter das Kinn.
Der Getroffene taumelte zurück. Er hatte sich auf die Lippe gebissen. Nachdem er mit der Hand über den Mund wischte, war Blut an den Fingern.
Ronnbar lachte nicht mehr. Er stellte seine Weinflasche ab und wog das schartige Schwert bedächtig. „Ich kann nicht dulden, dass jemand einen meiner Männer angreift.“
„Buhm hat mich lediglich verteidigt.“
„Was soll er denn verteidigen? Die Ehre einer Hure?“ Ronnbar schnaubte. „Na gut, dann soll dieser Bulle sich schlagen.“ Er stand auf. „Ossip!“, rief er zum Imagolem hinüber.
Der Steinmann hielt damit inne, den Baum zu traktieren, und wandte ihnen das Gesicht zu.
„Hast du noch Lust zu raufen?“, rief Ronnbar. „Hier muss jemand Respekt lernen.“
Semire stockte der Atem. Die Wut über Urliks Übergriffigkeit wich der kühlen Erkenntnis, dass sich Buhm in echter Gefahr befand. Er war ein hervorragender Fechter und hatte dem Wein kaum zugesprochen, womit er jedem Krieger im Haufen der Schwingenprachts überlegen sein sollte. Aber vom Granit des Imagolems würde jede Klinge abprallen und ein einziger Treffer der Steinfäuste könnte Buhms Schädel brechen.
„Ich streite nicht mehr für die Ehre“, grollte die Stimme des Imagolems herüber. „Und ich kämpfe nur noch gegen die Angehörigen der Tiefen Häuser.“
Während der Steinmann seine Schläge gegen die Eiche wieder aufnahm, unterdrückte Semire ein erleichtertes Seufzen. Wenn dieser Imagolem Adlige töten wollte, konnte sie nur froh sein, dass niemand ahnte, dass sie die Gräfin eines der mächtigsten Häuser auf dem Berg war.
„Ich erledige ihn selbst!“ Urliks Ankündigung war etwas schwer zu verstehen, der Hieb hatte seinem Kiefer wohl nicht gutgetan. „Dem Kerl schlitze ich den Wanst auf.“
„Also Messer?“, versicherte sich Ronnbar.
Urlik nickte grimmig.
Ronnbar stellte sich auf den Mauerrest, auf dem er zuvor gesessen hatte, und schwenkte sein Schwert. „Kommt alle her! Hier gibt es etwas zu sehen!“
Neugierig kamen seine Männer näher und bildeten einen Kreis. Auch Turiel war dabei, Ronnbars Sohn. Semire kannte ihn aus dem Lustgarten. Seit Aliére zu ihren Blumen zählte, kam er häufig.
Semire trat zu Buhm. „Traust du dir zu, ihm eine Lektion zu erteilen?“, flüsterte sie. „Für mich sieht er eher nach einem Tagelöhner aus als nach einem Krieger. Aber bevor die Klingen singen, kann man es nie mit Gewissheit wissen. Willst du gegen ihn antreten? Ich könnte deinen Sieg vielleicht nutzen …“
Er nickte knapp.
Semire drehte sich zu Ronnbar um, der nun mit einigen begeisterten Männern schwatzte. „Bis zum ersten Blut?“, versicherte sie sich.
„Hegst du Sorge um deinen edlen Streiter, Mädchen?“
„Wir sind doch alle Freunde“, mischte sich Jasir ein.
Dass er nackt war und sein Bauch unvorteilhaft schwabbelte, machte ihn zu einer erbärmlichen Erscheinung. Aber Ronnbar hörte ihm zu.
„Seht euch doch um.“ Jasir zeigte auf die Feuer in der Stadt. „Es ist der falsche Zeitpunkt, um Kämpfer zu verlieren.“
„Das hätte sich der Kerl vorher überlegen sollen“, meinte Urlik. Er prüfte zwei gebogene Dolche.
„Ich könnte mich überzeugen lassen.“ Ronnbar grinste. „Wenn ich die Rose entblättern dürfte in dem Fall, dass unser Mann gewinnt …“
„Das ist noch niemandem vergönnt gewesen!“, rief Jasir.
„Mein Sohn erzählte mir von einem gravilischen Barbaren, dem sie ihre Gunst geschenkt hat“, widersprach Ronnbar.
Turiel errötete. Obwohl Semire ihn etwas schmächtig fand, wäre er kein unansehnlicher Mann gewesen, wenn ihm nicht als Kind ein glühender Eisensplitter von einem Ofen ins linke Auge geflogen wäre. Der Metallspan steckte noch immer darin und ein weißer Fleck trübte die Pupille, wie Semire von Aliére wusste. Meist trug er eine Augenklappe darüber.
Semire verbarg die rechte Hand in den Falten ihres Kleides, bevor sie sie zur Faust ballte. Ja, sie hatte Brotan ihre Liebe geschenkt, mit ihrem Herzen und auch mit ihrem Körper. Jetzt, da er ein Imagolem war, bereute sie kaum etwas stärker, als dass sie nicht mehr Zeit mit ihm verbracht hatte. Sie vermisste seine fordernde, aber doch zärtliche Berührung, den Geschmack seiner Lippen, die Kraft, mit der er sie gefordert hatte. Aber sie durfte sich nicht von ihrer Sehnsucht ablenken lassen.
„Ich bin hier, um Geschäfte zu machen“, stellte sie klar. „Wenn dein Mann gewinnt, bekommst du für zehn Schwerter eines umsonst.“
„Und für zehn Armbrüste?“
„Ebenso. Aber wenn Buhm gewinnt … Ihr habt doch nicht alle Eichfrosts getötet, oder? Es gibt Gefangene?“
Ronnbar zuckte mit den Achseln. „Ein gutes Dutzend. Ich weiß noch nicht, wie viel Lösegeld sie bringen.“
„Nicht viel, wenn keine Adligen darunter sind“, sagte Semire. „Wenn du Pech hast, gibst du mehr dafür aus, sie am Leben zu halten, als sie dir einbringen. Während der Kämpfe kann es lange dauern, bis der Baron oder gar der Graf sich mit ihnen befasst.“
„Was willst du dann mit ihnen?“
„Wenn Buhm gewinnt, lass sie frei.“
Ronnbar lachte auf. „Was soll das? Regt sich Mitleid in deinem Weiberherz?“
Sie zuckte mit den Achseln. Sollte er denken, was er wollte. Als Gräfin des Tiefen Hauses Schneegrund verspürte sie eine Verpflichtung auch für das Gefolge der verbundenen Häuser. „Gilt der Handel?“
Ronnbar zögerte.
„Es würde die Sache interessanter gestalten“, lockte Semire.
Urlik und Buhm zogen Jacken und Hemden aus.
„Ich mache ihn fertig“, versprach Urlik. „Erstes Blut oder nicht, das ist mir gleich. Ich brauche nur einen Stoß.“
„Sollten wir ein ebeneres Gelände suchen?“, fragte Semire. „Wir wollen doch, dass Fähigkeit und Entschlossenheit entscheiden. Nicht ein Stolperer.“
Ronnbar sah sich um. „Wie meinst du das?“
„Hier in den Trümmern …“ Semire zeigte unbestimmt.
„Die gesamte Stadt liegt in Trümmern“, sagte Ronnbar herablassend.
„Wir könnten wenigstens einen Platz frei räumen.“
„Ich finde, einer schönen Frau sollte man keinen Wunsch abschlagen“, meldete sich Turiel zu Wort. Ronnbars Sohn begann sofort, einige Brocken aus dem Bereich zwischen den Bruchsteinen, die als Sitze gedient hatten, und dem Feuer herauszubefördern.
„Vornehme Sitten!“, rief Ronnbar. „Das gefällt mir! Schließlich sind wir von Adel.“
Semire hoffte, dass Ossip diese Bemerkung überhörte. Der Imagolem traktierte ohne Unterbrechung die Eiche.
Während Ronnbars Männer seltsamerweise Spaß daran fanden, das Geröll wegzuräumen, schwang Buhm mit ernster Miene die Arme um den Oberkörper. Er hatte Semire beigebracht, jeden Gegner zu respektieren. Wenn man einen Kämpfer unterschätzte, gab man ihm einen Vorteil an die Hand.
Semire versuchte, Buhm einen Vorteil zu verschaffen. Zwar traute sie ihm zu, mit jedem Gelände klarzukommen, aber er kämpfte häufig mit ihr auf dem Fechtboden. Auf ebenem Untergrund konnte er auch seine komplizierteren Schrittfolgen wie gewohnt setzen.
Ronnbar reichte ihr einen neuen Kristallkelch.
Sie nahm ihn lächelnd. „Denke an die Kornspeicher“, raunte sie ihm zu.
„Danke für den Rat“, erwiderte er spöttisch. „Aber ich wundere mich über deine Grübeleien. Ich würde noch verstehen, wenn eine Frau deiner Profession an Silber denken würde. Aber überlasse es den Männern, wie sie dieses Silber beschaffen. Du bekommst es für gut geschliffenen Waffenstahl. Oder für eine Einladung in dein Bett.“ Er grinste anzüglich. „Jetzt, da dein Siegel offenbar gebrochen ist …“
Dieser Mann widerte Semire an. Sie verbarg es hinter einem Schluck vom Wein der Eichfrosts. Er war das Angenehmste an diesem Abend.
Die Kämpfer stellten sich einander gegenüber auf. Urlik wirkte wie ein Hund an der Leine, obwohl ihn keine Fessel band. Er stand vorgebeugt, das Gewicht hauptsächlich auf dem rechten Fuß. Den Dolch hielt er in der rechten Faust, die gebogene Klinge kam an der Kleinfingerseite hervor. Bei einem ungeübten Messerkämpfer hätte das darauf hingedeutet, dass er einen Stoß von oben nach unten führen wollte, aber Semire ermahnte sich, keine voreiligen Schlüsse zu ziehen.
Buhm war ein Bild der Ruhe. Seine Augenlider hatte er halb gesenkt, damit er nicht blinzeln musste, die Knie waren leicht gebeugt, sodass er sich in jede Richtung bewegen konnte. Auch er hielt die Waffe rechts, aber bei ihm befand sich die Klinge an der Daumenseite. So weit das bei der Länge von kaum mehr als einer Handspanne und der starken Krümmung möglich war, beabsichtigte er wohl, damit zu fechten.
Semires Muskeln spannten sich. In Gedanken erwog sie, welche Taktik sie bei diesem Kampf anwenden würde. Es reizte sie, zu Buhm zu gehen, ihm den Dolch abzunehmen und ihre Ehre gegenüber dem Lüstling selbst zu verteidigen. Eine weibliche Gegnerin würde Urlik gewiss unterschätzen. Und diese Zeit des Umsturzes mochte auch die richtige sein, um offener als bisher nach der Macht zu greifen …
Aber gegenwärtig trug sie die Verantwortung für ein weiteres Leben. Sie legte eine Hand auf ihren Bauch. Unter dem Herzen wuchs das Kind, das sie von Brotan erwartete. Damit durfte sie nicht spielen. Ein tiefer Stich mit Urliks Klinge …
Turiel stellte sich neben Semire. Wegen der Augenklappe musste er den Kopf weit wenden, um sie anzusehen. „Das hier ist mir sehr unangenehm“, raunte er ihr zu.
„Dich trifft keine Schuld“, gab sie zurück.
„Ich hoffe, Buhm gewinnt. Er handelte recht, als er dich verteidigt hat.“
„Also!“ Ronnbar klatschte in die Hände. „Will die Dame, deren Ehre wegen jetzt Blut vergossen wird, das Zeichen zum Beginn geben?“
Alle Blicke außer Buhms, der weiterhin seinen Gegner musterte, richteten sich auf Semire.
Sie streckte den Arm aus und ließ den Kelch fallen.
Zwei Herzschläge vergingen, nachdem er zersprungen war, dann stapfte Urlik auf Buhm zu. Den Dolch hob er hoch über den Kopf. Er wollte wohl ausnutzen, dass er zwei Handspannen größer war, um einen wuchtigen Stoß zu führen.
Buhm wich zur Seite aus und versuchte, einen waagerechten Schnitt über den Bauch anzusetzen.
Beinahe hätte er Urlik erwischt, aber dieser beherrschte das Messer doch besser, als es zunächst den Anschein gehabt hatte. Blitzschnell brachte er die gebogene Klinge herunter, während er auf dem Standbein herumdrehte. Er fing Buhms Dolch mit der Innenseite der Krümmung.
Das Metall klirrte hell.
Buhms Klinge brach ab und flog Semire vor die Füße.
Die Klasse ihres Fechtlehrers zeigte sich darin, dass er sich sofort auf die neue Situation einstellte. Urlik stach nach ihm, aber Buhm fing den Angriff am Handgelenk ab.
Wütend schrie Urlik auf. Er legte die Linke um Buhms Hals.
Statt sich der Kraft seines Gegners entgegenzustemmen, ließ sich Buhm fallen und zog Urlik mit sich. Dabei blockierte er Urliks vorderes Schienbein mit dem Fuß, sodass der andere auf ihn fiel.
Semire konnte nicht genau erkennen, was bei den beiden Männern vorging, die sich über den Boden wälzten. Die Menge johlte. Urlik schrie, Buhm blieb gespenstisch still.
Schließlich löste er sich von Ronnbars Mann, indem er ihn in den Unterarm biss, rollte von ihm fort und stand auf. Er streckte Semire und Ronnbar die linke Hand entgegen. Sie war blutverschmiert.
„Das sieht so aus“, rief der Anführer erfreut, „als bekäme ich meine Schwerter billig!“
„Ich fürchte, das stimmt nicht“, widersprach Semire. „Das ist nicht Buhms Blut.“
An Urliks linker Seite, unter der kurzen Rippe, klaffte ein Schnitt, aus dem auf der vollen Länge von zwei Handspannen hellrote Flüssigkeit austrat. Sein Messer war ihm entfallen.
Brüllend stürzte er sich auf Buhm, der jedoch unter seinem Griff wegtauchte und ihm einen Faustschlag auf die Wunde verpasste. Urlik brach in die Knie und krümmte sich zusammen.
Unbeeindruckt von den begeisterten Rufen der Menge verließ Buhm ruhigen Schrittes das Kampffeld und legte sein Hemd wieder an.
Semire hockte sich hin und nahm Buhms Klinge auf. Sie war vollkommen gerade gebrochen, exakt am Übergang zur Flachangel, mit der das Metall im Holzgriff befestigt gewesen war. „Ich frage mich, ob ich Spuren von einer Feile finden würde, wenn ich ans Lagerfeuer treten und das Messer ins Licht halten würde.“
„Ich schätze schon.“ Ronnbar grinste. „Dein Mann ist ein guter Kämpfer, aber wenn er so dumm ist, dass er ungeprüft die Waffe akzeptiert, die sein Gegner ihm gibt, hätte er eigentlich die Niederlage verdient.“
Semire betrachtete sein Gesicht. Der Weingestank, der ihr entgegenwehte, erinnerte sie an zermatschte Trauben. In Momenten wie diesen wurde ihr deutlich, wie unterschiedlich die beiden Welten waren, in denen sie lebte. Hier, fern vom Adel, galt Ehre nichts. Sie war versucht, Ronnbar zu erklären, dass er noch viel lernen müsste, wenn er sein Haus wirklich wieder in die edlen Kreise führen wollte, hielt sich aber zurück.
„Jedenfalls hat Buhm gewonnen“, stellte sie fest.
Mit missbilligend verzogenem Mund sah Ronnbar zu Urlik hinüber. Buhm musste große Wucht in seinen Hieb gelegt haben, der Mann übergab sich. Semire tat es leid um den guten Wein, der in dieser Nacht so verschwendet wurde.
Ronnbar nickte seinem Sohn zu. „Gib dem Weib die Gefangenen“, murrte er.
Sie warteten, bis sich Buhm wieder angekleidet und sein Schwert aufgenommen hatte. Hätten sie mit langen Klingen gekämpft, hätte Ulrik nicht überlebt.
Während sie Turiel zum Abhang folgten, kamen mehrere Krieger zu ihnen, um dem Sieger die Hand zu drücken oder ihm auf die Schultern zu klopfen. Buhm nahm es hin. Er machte sich nichts aus der Anerkennung von Menschen, die er nicht kannte.
„Ich weiß nicht, wie das geschehen konnte.“ Turiel ging links von Semire, so fiel es dem Einäugigen leichter, sie anzusehen. „Die Messer waren so schnell im Spiel … Ich bin froh, dass es so ausgegangen ist.“
„Du trägst keine Schuld an diesem Vorkommnis“, beruhigte Semire ihn. „Es ist ja auch nichts Schlimmes passiert. Wir werden weiterhin Geschäfte machen. Dein Vater bekommt die Waffen – zum vollen Preis …“, sie zwinkerte ihm zu, „… und du bist weiterhin ein willkommener Gast im Lustgarten.“
Das erleichterte Turiel sichtlich. Er hing wirklich an Aliére. Eigentlich hätte er mehr Erfahrung haben müssen. Er war schon zu alt für die erste Liebe, Semire schätzte ihn auf dreißig. Andererseits war sie selbst genauso alt und hatte auch erst jetzt einen Mann gefunden, mit dem sie das Lager teilen wollte. Wieder ballte sie die Rechte zur Faust. Einen Mann, der nun in einem Körper aus Granit lebte.
Sie erreichten den Hang. Die Gefangenen waren mit den Händen an Stangen gefesselt, die wiederum an Seilen angepflockt waren. Sie baumelten zwar nicht in der Luft, aber der Grund war so abschüssig, dass sie unweigerlich in die Tiefe gerutscht wären, wenn sich die Aufhängung gelöst hätte.
„Zieht sie hoch“, befahl Turiel den vier Wachen. So herrisch hatte Semire ihn noch nie erlebt.
Sie nestelte Aliéres Brief, den sie mit Bedacht über dem Busen getragen hatte, aus ihrem Ausschnitt und gab ihn mit verschwörerischem Blick an Turiel weiter. „Du weißt, von wem er kommt. Die Nachricht war ihr sehr wichtig. Ich musste ihr schwören, dass ich sie dir gebe, wenn du ihn unbeobachtet lesen kannst.“
„Danke, Rose“, stammelte er. Seine Miene, als er sich mit dem Brief Luft ins Gesicht fächelte, verriet, dass er Aliéres Duftwasser erkannte. Er sah sich mit raschen Blicken um.
„Das hier wird ein bisschen dauern“, sagte Semire. „Du kannst ihn schnell lesen, und wenn du willst, dass ich eine Antwort überbringe, kannst du sie mir mitgeben.“
Mit einem dankbaren Nicken zog er sich zu dem kleinen Feuer zurück, das die Wachen, die nun die Gefangenen hochzogen, verlassen hatten. Schon auf dem Weg brach er das Siegel und faltete das Schreiben auf.
Hier war Semire keine Grafentochter. Sie konnte sich dazu herablassen, Buhm zu helfen, die Gefangenen loszuschneiden, sobald die Stangen hochgezogen waren. Sie kannte keinen von ihnen, nach der Kleidung zu urteilen versahen sie alle niedere Dienste. Zwei von ihnen waren in erbärmlichem Zustand, mit schlecht versorgten Wunden, aber bei den anderen elf musste nur der Blutfluss in den Armen wieder in Gang kommen. Die Wachen beäugten sie allerdings misstrauisch und mit gezogenen Schwertern. Auch diese Klingen kamen aus Semires Bestand.
Turiel sah nachdenklich, aber auch ungeduldig aus, als er zurückkam.
„Kannst du euren Leuten sagen, dass die Eichfrosts gehen dürfen?“, bat Semire.
Er schüttelte kurz den Kopf, aber wohl nur, um die Gedanken zu ordnen. „Ja, das hat mein Vater so bestimmt.“
„Und wieso haben wir uns dann die ganze Zeit ihr Gejammer angehört?“, murrte ein Krieger mit verkrustetem Blut im langen Haar. Er steckte jedoch seine Waffe weg.
Die Gefangenen konnten ihr Glück kaum fassen. Überschwänglich bedankten sie sich und küssten Semires Hände. Sie achtete darauf, dabei nicht die üblichen Gesten zu verwenden, die einer Hochadligen anstanden.
„Geht zum Palast der Schneegrunds“, riet sie. „Dort wird man sich eurer annehmen.“
Sie blickten den Freigelassenen nach.
Turiel räusperte sich. „Die Antwort, die du überbringen könntest …“, sagte er. „Könnten wir … auf ein Wort?“
„Natürlich.“ Sie zogen sich in den Schatten einer eingefallenen Mauer zurück. Mit einem schnellen Blick überzeugte sich Semire, dass sie weit genug von der Eiche entfernt standen, damit sie der Baum nicht träfe, wenn er stürzte. Lange konnte das nicht mehr dauern, Ossips Zerstörungswerk schritt gut voran.
„Sie … Aliére schreibt, sie sei schwanger.“
Semire lächelte, obwohl Turiel es im Schatten und hinter dem Schleier wohl kaum sah. „Ich weiß.“ Sie hatte Aliére das Schreiben diktiert.
„Aber wie … Ich meine, bei dem, was sie tut …“
„Die Schwämme sind nicht immer zuverlässig.“
„Darum geht es mir nicht. Aber Aliére ist sehr schön …“ Turiel räusperte sich. „Bestimmt hat sie noch viele andere Verehrer.“
Er war also kein vollkommener Trottel. Aber nach Semires Erfahrung glaubten die meisten Menschen alles, was sie glauben wollten. Man musste ihnen nur einen Vorwand dafür liefern. „Eine Frau spürt, wessen Kind sie unter dem Herzen trägt.“
Unwillkürlich legte sie die Hand auf den eigenen Bauch. Im Gegensatz zu Aliére konnte sie wirklich sicher sein. Sie hatte nie mit einem anderen Mann als Brotan das Bett geteilt.
„Und der Vater weiß es auch“, flüsterte sie verschwörerisch. „Spätestens, wenn du dem Neugeborenen in die Augen siehst, wirst du Gewissheit haben.“
„Wann wird es so weit sein?“, fragte er.
Sie legte eine Hand auf seine Brust. „Geduld. Es braucht seine Zeit. Ein halbes Jahr noch, wenigstens. Aliére ist sehr ängstlich, dass du wütend sein könntest.“
„Warum das?“ Er lachte abwehrend.
„Ich habe versucht, sie zu beruhigen. Aber eine Frau in ihren Umständen macht sich viele Gedanken. Ich musste ihr gut zureden, damit sie den Brief schreibt.“
„Ich würde gern mit dir kommen“, beteuerte Turiel. „Aber mein Vater würde es nicht erlauben.“
„Ich weiß. Und dein Vater braucht dich jetzt.“
Wenn sie seine Miene in der Dunkelheit richtig deutete, runzelte er die Stirn.
„Die Kornspeicher der Adlerhochs“, erklärte Semire. „Ich habe mit ihm darüber gesprochen, wie wichtig sie sind. Vielleicht liegt es am Wein, dass er es nicht einsieht, aber bald wird die ganze Stadt hungern. Er wäre klug, sich in den Besitz des Getreides zu bringen. Ich könnte den besten Zeitpunkt dafür herausfinden. Aber du musst deinen Vater überzeugen, dass es Haus Schwingenpracht nützen wird, die Kontrolle zu gewinnen.“
„Warum ist dir daran gelegen?“
„Dein Vater meint, ich habe das weiche Herz eines Weibes, weil ich um die Freilassung der Gefangenen gebeten habe.“ Sie seufzte auf eine Weise, die jede Frau als übertrieben erkannt hätte. „Und Aliére … ich mag die Vorstellung, dass sie sich mit dem Erben eines Tiefen Hauses verbinden könnte, das Macht und Einfluss gewinnt. Das ist sicher ein naiver Traum, aber so sind wir Frauen.“
Krachend stürzte der Baum und donnerte auf den Boden.
„Ich … ich muss …“, setzte Turiel an. „Mein Vater hat mir befohlen, dafür zu sorgen, dass niemand sich am Silber auf den Ästen zu schaffen macht.“
„Natürlich“, sagte Semire verständnisvoll. „Gib gut darauf acht. Schließlich will ich für meine Waffen bezahlt werden. Aber denke an die Kornspeicher von Haus Adlerhoch.“
„Ich werde gleich morgen mit Vater darüber sprechen“, versicherte er. „Wenn er wieder nüchtern ist.“
„Ich danke dir.“ Sie knickste. „Und nun empfehle ich mich. Darf ich Aliére etwas von dir ausrichten?“
„Ich weiß nicht, was man bei einer solchen Gelegenheit sagt.“
Semire war sicher, dass keine Frau, die ihrem Geliebten mitteilte, dass sie schwanger war, einen sehnlicheren Wunsch hegte, als dass ihr Mann zu ihr eilte, ungeachtet aller Hindernisse. Aber erstens war Turiel nützlicher, wenn er auf seinen Vater einwirkte, und zweitens war Aliére nicht schwanger. Notfalls würde man in ein paar Monden eine Fehlgeburt inszenieren müssen, mit dem Blut eines Huhns. Aber so schnell, wie sich die Dinge derzeit auf dem Berg änderten, glaubte Semire nicht daran, dass dieses lächerliche Haus Schwingenpracht dann noch eine Rolle spielen würde. Es sollte nur die Getreidespeicher sichern, und zwar unabhängig von Haus Schneegrund. Das gäbe Semire sowohl die Option, sie mit besseren Truppen zu übernehmen, wenn sie welche fände, als auch, sie mit dem zurückkehrenden Heer von Haus Schneegrund einzunehmen und möglicherweise Haus Adlerhoch zurückzugeben, falls dieses dann ein sinnvoller Verbündeter wäre. Für den Moment wollte sie Graf Subehn jedoch leiden sehen. Schließlich war er Haus Schneegrund in der kurzen, aber heftigen Fehde mit Haus Schwertgrat nicht zu Hilfe gekommen.
„Wenn ich dir etwas raten darf: Lass mich Aliére ausrichten, dass du sie liebst“, sagte sie. „Nur das, nicht mehr. Zu viele Worte verwässern die Botschaft.“
„Ja! Tu das.“ Der Gedanke, dass eine wunderschöne Frau ihn zum Vater machen könnte, arbeitete in Turiel. Er schien glücklich zu sein. Vielleicht steckte das sogar Ronnbar als vermeintlichen Großvater an.
„Die Liebe ist die stärkste Kraft in der Welt“, versicherte Semire und überlegte, dass dies, wenn es schon für geheuchelte Gefühle galt, umso mehr auf echte zutreffen musste. Lächelnd strich sie über ihren Bauch.
DATENSCHUTZ & Einwilligung für das Kommentieren auf der Website des Piper Verlags
Die Piper Verlag GmbH, Georgenstraße 4, 80799 München, info@piper.de verarbeitet Ihre personenbezogenen Daten (Name, Email, Kommentar) zum Zwecke des Kommentierens einzelner Bücher oder Blogartikel und zur Marktforschung (Analyse des Inhalts). Rechtsgrundlage hierfür ist Ihre Einwilligung gemäß Art 6I a), 7, EU DSGVO, sowie § 7 II Nr.3, UWG.
Sind Sie noch nicht 16 Jahre alt, muss zwingend eine Einwilligung Ihrer Eltern / Vormund vorliegen. Bitte nehmen Sie in diesem Fall direkt Kontakt zu uns auf. Sie selbst können in diesem Fall keine rechtsgültige Einwilligung abgeben.
Mit der Eingabe Ihrer personenbezogenen Daten bestätigen Sie, dass Sie die Kommentarfunktion auf unserer Seite öffentlich nutzen möchten. Ihre Daten werden in unserem CMS Typo3 gespeichert. Eine sonstige Übermittlung z.B. in andere Länder findet nicht statt.
Sollte das kommentierte Werk nicht mehr lieferbar sein bzw. der Blogartikel gelöscht werden, ist auch Ihr Kommentar nicht mehr öffentlich sichtbar.
Wir behalten uns vor, Kommentare zu prüfen, zu editieren und gegebenenfalls zu löschen.
Ihre Daten werden nur solange gespeichert, wie Sie es wünschen. Sie haben das Recht auf Auskunft, auf Berichtigung, auf Löschung, auf Einschränkung der Verarbeitung, ein Widerspruchsrecht, ein Recht auf Datenübertragbarkeit, sowie ein Recht auf Widerruf Ihrer Einwilligung. Im Falle eines Widerrufs wird Ihr Kommentar von uns umgehend gelöscht. Nehmen Sie in diesen Fällen am besten über E-Mail, info@piper.de, Kontakt zu uns auf. Sie können uns aber auch einen Brief schicken. Sie erhalten nach Eingang umgehend eine Rückmeldung. Ihnen steht, sofern Sie der Meinung sind, dass wir Ihre personenbezogenen Daten nicht ordnungsgemäß verarbeiten ein Beschwerderecht bei einer Aufsichtsbehörde zu. Bei weiteren Fragen wenden Sie sich gerne an unseren Datenschutzbeauftragten, den Sie unter datenschutz@piper.de erreichen.