Sagen des klassischen Altertums Sagen des klassischen Altertums - eBook-Ausgabe
Sagen des klassischen Altertums — Inhalt
Michael Köhlmeier hat etwas Ungewöhnliches gewagt: Seinen Homer im Kopf, hat er in vierzehn Rundfunkfolgen die Sagen des klassischen Altertums frei erzählt. Den lockeren und leichten Ton behielt er in der Buchfassung bei - und bietet damit dem Leser ein einmaliges Leseerlebnis und Lesevergnügen.
Die Begriffe sind jedem geläufig: vom Öpidus-Komplex bis zur Achilles-Ferse, von den Tantalos-Qualen bis zum Trojanischen Pferd oder zum Danaer-Geschenk, was übrigens genau dieses Pferd ist. Aber wer kennt noch all die Sagen und Geschichten wirklich, aus denen sie stammen? Michael Köhlmeier erzählt die besten Geschichten und Abenteuer der antiken Helden und Götter in leichtem sehr menschlichem Ton.
Mein Vater hat mir die klassischen Sagen des Altertums erzählt, sein Ziel war es, mich auf diese Weise in die humanistische Bildung einzugewöhnen; meine Großmutter hat wacker mit den Grimmschen Märchen dagegengehalten. Sie war der Meinung, allzuviel Bildung verderbe den Charakter. Ich war süchtig nach ihrer beider Erzählungen. Märchen und Sagen vertrugen sich in meinem Ohr geschwisterlich.
Ich habe sehr bald die Erfahrung gemacht, dass es nicht genügt, sich diese Geschichten nur anzuhören. Man muss sie selbst erzählen. Man muss sie erzählend weiterspinnen. So und nur so eignet man sich diesen Schatz an. Erzählen heißt ja nicht nur etwas weitergeben, was man weiß; der Erzähler weiß vielleicht mehr als der eine oder andere seiner Zuhörer, aber er weiß nicht viel mehr. Erst während des Erzählens verschafft er sich Gewissheit, erst während er die Geschichten ausbreitet, beginnt er sie zu begreifen, versteht er, dass sie aus unendlich vielen Schichten aufgebaut sind, von denen nur eine bestimmt ist, von ihm freigelegt zu werden. Deshalb ist Erzählen, selbst das einfachste Nacherzählen, immer auch Erfinden. Nur so wird der Reichtum der Mythologie verständlich.
Odysseus kennt jeder. Wer aber kennt seinen Vater? War Laertes sein Vater, wie Homer behauptet? Oder war es Sisyphos, der freche Erzschelm, der Lästerer, der zweimal sogar den Tod überlistet hat und dafür im Hades neben Tantalos die schlimmsten Qualen erleiden muß? Wer aber ist Tantalos, und wofür wird er bestraft? War sein Vergehen, dass er seinen Sohn Pelops schlachtete und ihn den Göttern als Speise vorsetzte? Oder aber interessierte das die Götter gar nicht, und er wurde lediglich verdammt, weil er an ihrer Allwissenheit zweifelte? Was war mit Pelops? Ist es wahr, dass er wieder zum Leben zusammengebaut und unendlich reich wurde, daß noch heute eine Insel nach ihm benannt ist – der Peloponnes?
Gleichgültig, wo man zu fragen beginnt, unerheblich, mit welcher Geschichte man anfängt, immer ist man mitten drin. Eine Figur verweist auf die andere, eine Geschichte nährt sich von der anderen, eine Begebenheit baut auf einer anderen auf, die Gründe für die eine Tat wurzeln in einer anderen. Die griechische Mythologie ist ein Netz, das die gesamte menschliche Existenz umspannt. Himmel, Hölle, Geisterwelt und banalste Realität – alles, was unter unserer Schädeldecke Platz hat, es wird in diesen vielleicht wunderbarsten Geschichten, die sich Menschen auf diesem Erdenrund je erzählt haben, in Bilder gefasst.
Was ist es, dass uns die Geschichten von Achill, Orpheus, Antigone, Daidalos und Ikaros, Paris und Helena immer noch interessieren, dass wir gebannt den Monologen des Ödipus lauschen, dass wir über die Zustände im Götterhimmel lachen, daß wir mit Kribbeln den Liebschaften des Göttervaters Zeus nachspüren, aber auch dass wir dem Dulder Odysseus von Herzen eine glückliche Heimkehr und dem Rächer Orest endlich seine Ruhe wünschen? All diese Geschichten sind dreitausend Jahre alt und älter, und sie sind schon unzählige Male erzählt worden, und man darf getrost die Voraussage wagen, dass die Menschheit bis an ihr Ende die Erinnerung an diese Geschichten nicht verlieren wird.
Der Mythos erzählt freilich vom Gewesenen, Vergangenen, aber von einem Vergangenen, dessen Folgen bis heute anhalten, somit vom Werden und Gewordensein – von uns. Spätestens seit Freud wissen wir, dass jeder von uns Ödipus ist, dass jedem von uns auferlegt ist, in sich nach vergangener, verschütteter Schuld zu graben, und zwar sein Leben lang. In der alten Tragödie des Königs, der sich am Ende selbst das Augenlicht nimmt, weil es verheerend ist, allzu tief in des Menschen Herz zu schauen, erkennen wir uns wieder.
Über die Jahrtausende haben die Generationen mit Ödipus mitgelitten, mit Odysseus mitgebangt, mit Helena mitgeliebt, mit Achill mitgekämpft; und es scheint beinahe, als sei in diesen alten Sagen für alle Zeiten des Menschen Antlitz gefurcht worden, als sei darin vorgegeben worden, wie der Mensch zu lachen und zu weinen habe.
Diese Sagen sind ein schwarzer, tiefer Spiegel, in dem wir uns immer wieder betrachten, weil er unser Bild sowohl in seiner Klarheit als auch in seiner Rätselhaftigkeit wiedergibt.
An diesem Netz haben Generationen geknüpft. Jeder, der eine Geschichte weitererzählt hat, hat sie im Erzählen zu seinem Eigentum gemacht, hat sie erzählend neu erfunden, hat der Geschichte seine eigene Seele geliehen.
Deshalb sind diese Mythen zwar unausschöpflich, aber jeder kann sie verstehen, es bedarf keines Professorentitels dazu, denn jeder, der erzählt, ist im Augenblick des Erzählens ein Experte.
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